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Komplementarität und Welle-Teilchen-Dualismus

Jedes quantenphysikalische Objekt hat stets sowohl Wellen- als auch Teilcheneigenschaften. Sie lassen sich aber nie gleichzeitig beobachten – selbst dann nicht, wenn es gelingt, Werner Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation zu umgehen.

Der Mikrokosmos der Quantenmechanik birgt zahlreiche Phänomene, die dem Alltagsverstand als paradox erscheinen. Viele sind eine Folge des Komplementaritätsprinzips, das vor allem als Welle-Teilchen-Dualismus bekannt ist: Ein mikroskopisches Objekt – ein Photon, Atom oder Elektron – kann sich in einem Augenblick wie eine Welle, im nächsten wie ein diskretes Teilchen verhalten. Erst beide Verhaltensweisen zusammen ergänzen sich zur vollständigen Beschreibung des Objekts.

Seit das Komplementaritätsprinzip vor mehr als 70 Jahren geprägt worden ist, gilt es unter Physikern oft einfach als Folge der Unbestimmtheitsrelation. Ihr zufolge stößt man bei der gleichzeitigen Messung von zwei komplementären Beobachtungsgrößen, beispielsweise Ort und Impuls, immer an eine fundamentale Grenze der Genauigkeit. Darum läßt sich das Verhalten eines Quantenobjekts normalerweise nicht vollständig erfassen, und folglich – so die gängige Argumentation – können wir es nie gleichzeitig als Welle und Teilchen beobachten.

Doch wie wir und unsere Kollegen kürzlich gezeigt haben, ist quantenmechanische Unbestimmtheit nicht der einzige Grund für Komplementarität. Mit Gedankenexperimenten und praktischen Versuchen vermochten wir die Unbestimmtheitsrelation zu umgehen, indem wir die untersuchten Quantenobjekte gleichsam überlisteten. Selbst wenn die Unbestimmtheitsrelation keine Rolle spielte, blieb das Komplementaritätsprinzip in Kraft. Daraus schließen wir, daß das Komplementaritätsprinzip in der Quantenmechanik bisher unterschätzt worden ist: Es ist fundamentaler als die Unbestimmtheitsrelation.

Wellen- und Teilchenverhalten lassen sich im Experiment deutlich unterscheiden. Der Wellenaspekt offenbart sich in Form von Interferenzmustern. Wirft man zwei Steine gleichzeitig in einen stillen Teich, so überlagern die kreisförmigen Wellen einander: Wo zwei Wellenberge zusammentreffen, verstärken sie sich, und ein Wellenberg und ein Wellental löschen einander aus. Das gleiche geschieht, wenn wir zwei schmale Spalte beleuchten: Wenn die ursprüngliche Lichtwelle sie durchquert, erzeugt sie zwei kleinere Wellen, die sich kreisförmig ausbreiten. Sie interferieren und erzeugen auf einem Projektionsschirm eine Folge von abwechselnd hellen und dunklen Streifen (Bild 2).

Hingegen zeigt sich der Teilchenaspekt immer in Gestalt von Photonen, die man als unteilbare Einheiten wahrnimmt. Statt eines kontinuierlichen Signals registriert ein geeigneter Detektor eine diskrete Anzahl von Lichtquanten.


Wellenmuster und Teilchenspuren

Besonders eindrucksvoll wird der Unterschied von Wellen- und Teilchenaspekt, wenn man Photonen einzeln durch den Doppelspalt schickt. In diesem Fall erzeugt jedes Photon einen winzigen Fleck auf dem Schirm. Doch wenn man lange genug wartet, bilden die einzelnen Fleckchen allmählich ein Interferenzmuster. (Genau gesagt, stellt das Muster die Wahrscheinlichkeit dar, mit der ein Photon auf diesen oder jenen Punkt des Schirms trifft.)

In der verblüffenden Dualität von Welle und Teilchen erschöpft sich aber das Komplementaritätsprinzip keineswegs. Die meisten quantenphysikalischen Objekte (etwa ein Silberatom) haben eine interne Struktur, die sich in magnetischen Eigenschaften äußert. Bei gewissen Messungen können nun solche winzigen Magnete entweder aufwärts oder abwärts weisen, bei anderen nach rechts oder nach links. Doch niemals vermag man einen Quanten-Magnet zu beobachten, der sowohl aufwärts als auch nach links gerichtet ist. Demnach ist die Eigenschaft "aufwärts oder abwärts" komplementär zur Eigenschaft "rechts oder links" – ganz analog zum Dualismus von Welle und Teilchen.

Noch überraschender, ja einigermaßen rätselhaft ist, daß komplementäre Eigenschaften sich nur eingeschränkt vorhersagen lassen. Angenommen, eine Messung ergibt, daß unser atomarer Magnet aufwärts zeigt, und in einem zweiten Versuch wollen wir anschließend feststellen, ob derselbe Magnet nun nach links oder rechts weist. Wie sich zeigt, ist das Ergebnis überhaupt nicht vorhersagbar: Mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit kommt entweder links oder rechts heraus. Fehlt uns etwa eine gewisse Information für die richtige Vorhersage? Nein, das Problem ist ernster: Man kann prinzipiell nicht wissen, wie die Links-Rechts-Messung ausgehen wird.

Der Grund ist das Komplementaritätsprinzip: Zwei komplementäre Beobachtungsgrößen wie die Links-Rechts- und die Aufwärts-Abwärts-Ausrichtung der Magnete lassen sich niemals gleichzeitig exakt bestimmen. Kennt man die eine Meßgröße absolut präzise, vermag man über die andere gar nichts mehr auszusagen. In den Lehrbüchern wird dieses Gesetz oft anhand von Ort und Impuls eines bewegten Teilchens illustriert: Je genauer die Ortsbestimmung, desto ungenauer die Information über den Impuls, und umgekehrt. Zahlenmäßig exakt drückt diesen Zusammenhang die nach Werner Heisenberg (1901 bis 1976, Nobelpreis 1932) benannte Unbestimmtheitsrelation aus (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1992, Seite 92).


Einsteins Debatte mit Bohr

Auch bei dem Doppelspalt-Versuch herrscht Komplementarität. Wenn wir irgendwie herausfinden, durch welchen Spalt jedes Photon gegangen ist (und uns somit sogenannte Welcher-Weg-Information verschaffen), ergibt sich kein Interferenzmuster auf dem Schirm. Der Gewinn von Information über den eingeschlagenen Weg bedeutet nämlich, daß sich die Photonen am Doppelspalt wie Teilchen verhalten, nicht wie interferierende Wellen. Wir können nur entweder Welcher-Weg-Information haben oder das Interferenzmuster – nie beides auf einmal. (Zwar haben wir oben erwähnt, daß sich beim Nachweis der Photonen auf dem Schirm immer ihre Teilchennatur zeigt, doch dies besagt nichts über die Zustände am Doppelspalt, wo das Interferenzmuster entsteht.)

Diese Komplementarität ist eine Tatsache, und dem dänischen Physiker Niels Bohr (1885 bis 1962, Nobelpreis 1922) gebührt das Verdienst, darin den Spezialfall eines fundamentalen Prinzips erkannt zu haben. Das war insofern nicht leicht, als vor allem der damals schon weltberühmte Albert Einstein (1879 bis 1955, Nobelpreis 1921) immer neue Gegenargumente vorbrachte; er bestritt, daß man komplementäre Eigenschaften nicht gleichzeitig messen könne (Bild 1). Wir versuchen, eine der Debatten zwischen Bohr und Einstein in einem imaginären Dialog darzustellen:

Bohr: Wie ich sehe, skizzieren Sie wieder einmal ein Doppelspalt-Experiment. Worauf wollen Sie hinaus?

Einstein: Hier trifft eine ebene Lichtwelle eine Platte mit zwei Spalten, durch die das Licht auf einen Schirm fallen kann (siehe Kasten auf Seite 53). Wenn die geometrische Anordnung stimmt, erscheint auf dem Schirm ein Interferenzmuster – eine Folge heller und dunkler Streifen.

Bohr: Das ist freilich nichts Neues.

Einstein: Etwas Geduld, bitte. Bevor ich meinen neuen Gedanken erkläre, möchte ich sicher sein, daß wir uns über den Ausgangspunkt einig sind. Meinen Sie wie ich, daß das Interferenzmuster die Wellennatur des Lichts beweist?

Bohr: Selbstverständlich.

Einstein: Und Sie glauben, daß man infolge Ihrer sogenannten Komplementarität niemals wissen kann, durch welchen Spalt ein Photon zum Schirm gelangt ist, um zu dem Muster beizutragen?

Bohr: Gewiß.

Einstein: Nun, ich konnte bekanntlich nie so recht glauben, daß Gott würfelt. Darum meine Gegenbehauptung: Ich vermag festzustellen, durch welchen Spalt das Photon gekommen ist. Angenommen, es trifft den Schirm im ersten Nebenmaximum, das heißt in dem hellen Streifen direkt neben dem Zentrum des Musters. Um dorthin zu gelangen, muß das Photon von dem Spalt, den es durchquert hat, abgelenkt worden sein.

Doch nach dem Newtonschen Prinzip von Aktion und Reaktion gilt: Wenn die Spaltplatte dem Photon einen Stoß versetzt, erhält sie vom Photon einen entsprechenden Rückstoß. Dessen Stärke hängt nun davon ab, welchen Schlitz das Photon passiert hat. Wenn ich die Spaltplatte beweglich aufhänge, kann ich im Prinzip den Rückstoß messen. Sein Betrag gibt mir an, durch welchen Schlitz das Photon gekommen ist.

Bohr: Sie würden demnach Welcher-Weg-Information für jedes einzelne Photon erhalten und gleichzeitig ein Interferenzmuster beobachten.

Einstein: Ja.

Bohr: Aber das widerspricht dem Komplementaritätsprinzip.

Einstein: Ja.

Bohr: Nicht schlecht, aber Sie haben etwas übersehen – nämlich die Quanteneigenschaften der Spaltplatte. Ich kann meine Argumentation mathematisch belegen (siehe Kasten). Im wesentlichen geht es darum, daß ein Interferenzmuster nur auftreten kann, wenn die Position der Platte ziemlich präzise fixiert ist.

Einstein: Gewiß, denn sonst würde nicht das Doppelspalt-Muster zustande kommen, sondern nur das Beugungsmuster eines einfachen Spalts.

Bohr: Um nun die beiden Wege unterscheiden zu können, müssen wir auch den Impuls des vom Rückstoß bewegten Spalts sehr genau kennen. Ich kann beweisen, daß nur dann ein Interferenzmuster entsteht, wenn die Unbestimmtheit sowohl der Position der Platte als auch ihres Rückstoßimpulses so gering ist, daß dies der Unbestimmtheitsrelation widerspricht.

Einstein: Gut, ich gebe mich geschlagen. Man kann nicht in ein und demselben Experiment Welcher-Weg-Information und Interferenzmuster erhalten. Sie haben recht: Auch die Doppelspaltplatte ist den Gesetzen der Quantenmechanik unterworfen. Einmal mehr haben Sie die Geltung der Komplementarität demonstriert.

Bohr: Einen Augenblick. Sind Sie der Meinung, daß Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation nicht nur in diesem Fall, sondern immer die Grundlage der Komplementarität ist?

Über Einsteins Antwort auf diese Frage können wir nur spekulieren. Wir selbst antworten mit Nein: Die von der Unbestimmtheitsrelation gesetzten Grenzen sind nicht der einzige Mechanismus, mit dem die Natur Komplementarität erzwingt. Wir haben nämlich vor kurzem entdeckt, daß sich im Prinzip Welcher-Weg-Detektoren konstruieren lassen, welche die Bewegung der beobachteten Objekte nicht beeinflussen und somit die Unbestimmtheitsrelation umgehen.

Das Konzept dieses neuartigen Detektors beruht auf einer Variante des Doppelspalt-Versuchs. Der amerikanische Physiker Richard P. Feynman (1918 bis 1988, Nobelpreis 1965) hat eine solche Variante in seiner Einführung in die Quantenmechanik (im dritten Band seiner berühmten "Lectures on Physics") beschrieben. Er machte die interessante Beobachtung, daß man mit Elektronen anstelle von Photonen einen besseren Zugriff auf die interferierenden Objekte gewinnt. Da Elektronen Welleneigenschaften haben, können sie – genau wie Licht – in einem Doppelspalt-Versuch ein Interferenzmuster erzeugen. Doch weil sie obendrein elektrisch geladen sind, treten sie mit elektromagnetischen Feldern – also auch mit Licht – in Wechselwirkung. Folglich kann man Welcher-Weg-Information erhalten, indem man Licht an ihnen streut.

Feynman schlug folgende Methode vor: Man plaziere knapp hinter der Platte eine Lichtquelle symmetrisch zwischen den beiden Spalten. Einige Photonen prallen dann von den Elektronen ab, und ihre Bewegungsrichtung zeigt an, ob sie aus der Nähe des einen oder des anderen Spalts kommen.

Feynmans Analyse des Elektron-Photon-Stoßes zielt auf zwei Variable: den auf das Elektron übertragenen Impuls und die Unbestimmtheit bei der Messung des Elektron-Orts. Wie bei Einsteins Gedankenexperiment mit dem Rückstoß auf die bewegliche Spaltplatte müssen auch hier beide Größen sehr klein sein, wenn man sowohl Welcher-Weg-Information als auch Interferenzmuster erhalten will – und zwar kleiner, als Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation erlaubt.

Mit dem neuen Welcher-Weg-Detektor folgen wir Feynmans Vorschlag, umgehen allerdings die Impulsstöße. In unserem Gedankenexperiment lassen wir nicht Elektronen, sondern Atome interferieren. Vor die beiden Spalte stellen wir je einen kleinen kastenförmigen Hohlraum, so daß jedes Atom einen davon durchqueren muß, bevor es zur Spaltplatte gelangt (Bild 3). Bei den dafür erforderlichen experimentellen Techniken haben Forscher an der Universität München, am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching, an der Yale-Universität in New Haven (Connecticut) und der École Normale Supérieure in Paris in den letzten Jahren enorme Fortschritte erzielt: Man vermag nun ohne weiteres im Experiment einzelne Atome durch Hohlräume zu schicken.

Wir regen zunächst jedes Atom mit einem kurzwelligen Laser an; das heißt, es absorbiert ein Photon der Laserstrahlung und geht dabei in einen höheren Energiezustand über. Die Geometrie der beiden Hohlräume wird so gewählt, daß die angeregten Atome gezwungen sind, in einen niedrigeren Energiezustand überzugehen, wobei sie ein längerwelliges Photon aussenden. (Diese Wellenlängen sind mit jener der Strahlung in einem Mikrowellenherd vergleichbar.) Über einen Nachweis dieses längerwelligen Photons läßt sich dann ermitteln, welchen Hohlraum – und folglich welchen Spalt – das Atom durchquert hat.

Mit dieser Methode umgehen wir Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation, weil die Freisetzung des Photons im Hohlraum die Bewegung des Atoms nicht beeinflußt. Um Störsignale zu minimieren, müßte man im realen Experiment die Hohlräume extrem tief kühlen und zudem mit supraleitenden Wänden ausstatten, damit die Photonen sich darin lange genug speichern lassen (siehe hierzu "Hohlraum-Quantenelektrodynamik" von Serge Harouche und Jean-Michel Raimond, Spektrum der Wissenschaft, Juni 1993, Seite 48).

Insofern diese Nachweismethode die Bewegung des Atoms nicht stört, könnte man vermuten, daß das Atom seine Fähigkeit zur Interferenz behält. Wir würden demnach Information über den Weg erhalten (ein Indiz für die Teilchennatur des Atoms) und gleichzeitig ein Streifenmuster als Beweis für seinen Wellencharakter.

Doch diese Annahme ist falsch. Wie unsere Analyse zeigt, schließen sich Welcher-Weg-Information und Interferenzmuster weiterhin gegenseitig aus. Sobald wir Information über den eingeschlagenen Weg erhalten, verschwindet das Interferenzmuster, und zu sehen ist nur noch ein großer Fleck in der Mitte des Schirms. Das heißt: Wir können zwar Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation umgehen, nicht aber Bohrs Komplementaritätsprinzip.

Die Komplementarität behauptet sich dabei auf sehr subtile Weise. Sie verbirgt sich in den Korrelationen zwischen der Bewegungsfreiheit des Atoms einerseits und den Photonen im Hohlraum andererseits, die letztlich den Verlust des Interferenzmusters bewirken. Es ist, als hätte jedes Atom ein Etikett, das anzeigt, durch welchen Spalt es gekommen ist, und als dürften verschieden gekennzeichnete Atome nicht miteinander wechselwirken. Als Etikett fungiert das im Hohlraum abgegebene Photon. Wie weit der Schirm, auf dem die Interferenz erscheint, von den Welcher-Weg-Detektoren entfernt liegt, spielt dabei keine Rolle. Wenn erst einmal eine Korrelation zwischen einem etikettierten Atom und dem entsprechenden Hohlraum hergestellt worden ist, bleibt sie bestehen.

Angesichts einer solchen Behauptung kann der klassische Intuitionist (KI) nicht länger schweigen. Er wendet sich an seinen Freund, den Quantenmechaniker (QM):

KI: Bisher habe ich geduldig zugehört, aber das geht nun wirklich zu weit. Ich akzeptiere die frühere Argumentation mit Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation und räume ein, daß der Gewinn von Welcher-Weg-Information ein Interferenzmuster ausschließt. Aber der Grund dafür ist doch, daß man die Bewegung des Teilchens stört und es dadurch um seine Interferenzfähigkeit bringt.

QM: Meinst du mit Stören so etwas wie einen unkontrollierbaren Stoß?

KI: Ja, gewiß.

QM: Dann irrst du dich. Das Beispiel der Hohlraumdetektoren beweist, daß man Welcher-Weg-Information auch ohne solche mechanischen Störungen erhalten kann.

KI: Ich kann zwar deinen Argumenten folgen, aber erkläre mir bitte das Ergebnis. Wie kommt es, daß ein Teilchen nicht mehr interferiert, obwohl seine Bewegung nicht beeinflußt worden ist?

QM: Die entstehenden Korrelationen sind daran schuld.

KI: Darunter kann ich mir nichts vorstellen.

QM: Vielleicht hilft ein Vergleich. Wir symbolisieren die beiden Alternativen – das Atom passiert entweder den oberen oder den unteren Spalt – als zwei stark geschlängelte Kurven auf einer horizontalen Ebene (Bild 4). Jede der zahlreichen Überschneidungen nennen wir eine Interferenz der Kurven.

KI: Einverstanden.

QM: Nun wird ein zusätzlicher Freiheitsgrad eingeführt – in unserem Vergleich die dritte Dimension. Die Korrelationen werden dadurch symbolisiert, daß man eine der beiden Kurven auf eine andere Ebene (einige Zentimeter über der ersten) hebt. Jetzt überschneiden sich die beiden Kurven nirgends – sie interferieren nicht mehr. Nur wenn man die Korrelationen (das heißt die dritte Dimension) ignoriert, indem man beide Kurven auf eine einzige Ebene projiziert, scheinen sich die Kurven zu überschneiden, obwohl sie in Wirklichkeit aneinander vorbei laufen.

KI: Ja, so kann ich mir die Zusammenhänge einigermaßen vorstellen. Das heißt, das Interferenzmuster geht verloren, weil Welcher-Weg-Information entstanden ist – und das hat überhaupt nichts mit einer Unbestimmtheit der Spaltpositionen oder einem unkontrollierten Anstoßen des Atoms zu tun.

QM: Richtig. Der Zufall spielt dabei keine Rolle.

Angesichts der Geschichte des Themas und der traditionellen Berufung auf die Unbestimmtheitsrelation sind viele nachdenkliche Kollegen gegenüber unserer Analyse skeptisch geblieben. Sie haben gegen den Schluß, daß die Bewegung des Atoms nicht gestört wird, subtile Einwände vorgebracht. Doch sorgfältige Berechnungen und ein von David J. Winelands Gruppe kürzlich am National Institute of Standards and Technology (NIST) in Boulder (US-Bundesstaat Colorado) durchgeführtes Experiment haben all diese Einwände überzeugend widerlegt. Das Komplementaritätsprinzip ist somit zweifellos fundamentaler als die Unbestimmtheitsrelation.


Der Quantenradierer

Wenn nun gilt, daß Welcher-Weg-Information die Bildung von Interferenzmustern ausschließt, können wir eine umgekehrte Frage zur Komplementarität stellen: Angenommen, wir radieren sozusagen diese Information aus, indem wir das verräterische Photon irgendwie absorbieren – sollte dann nicht das Interferenzmuster wieder erscheinen?

Ein solcher Quantenradierer ist anscheinend möglich, obwohl einfaches Löschen von Information nicht ausreichen würde, um das Interferenzmuster wiederherzustellen. Es stimmt zwar, daß Interferenzstreifen das Fehlen von Welcher-Weg-Information anzeigen; ebenso schließt Welcher-Weg-Information ein Interferenzmuster aus. Doch daraus folgt nicht, daß das Fehlen solcher Information schon das Erscheinen der Streifen garantiert. Die Antwort auf die Frage, ob das Interferenzmuster wieder auftaucht, lautet daher nur dann Ja, wenn das Löschen neue Korrelationen erzeugt; somit muß es unter genau kontrollierten Bedingungen stattfinden.

Einen Quantenradierer tatsächlich zu bauen ist extrem schwierig. Wir müssen uns darum vorläufig mit einem teilweise idealisierten Gedankenexperiment begnügen, das aber alle wesentlichen Aspekte berücksichtigt.

In dem fiktiven Apparat sind die beiden Hohlräume durch Verschlüsse voneinander getrennt, zwischen denen eine Photosensorwand liegt (Bild 5). Solange die Verschlüsse geschlossen bleiben, entspricht die Konfiguration dem bisher besprochenen Welcher-Weg-Detektor.

Das Experiment beginnt mit leeren Hohlräumen und geschlossenen Verschlüssen. Wir schicken durch den Apparat ein einzelnes Atom, das in einem Hohlraum ein Photon hinterläßt; die Wahrscheinlichkeit, daß es sich in dem einen oder anderen Hohlraum aufhält, beträgt je 50 Prozent. Während das Photon in einem der beiden Hohlräume zurückbleibt, erreicht das Atom den Schirm und erzeugt dort einen kleinen Fleck. Sobald dies geschehen ist, öffnen wir gleichzeitig beide Verschlüsse und verwandeln die zwei separaten Hohlräume in einen einzigen, größeren.

Das Öffnen der Verschlüsse hat eine ganz unerwartete Wirkung auf das Photon. Man sollte annehmen, daß es sich jetzt überall im Hohlraum aufzuhalten vermag, so daß der Sensor auf jeden Fall ein Signal registrieren würde. Doch als quantenmechanisches Objekt hat das Photon Welleneigenschaften. Zur Erinnerung: Vor Öffnen der Verschlüsse war es mit gleicher Wahrscheinlichkeit in dem einen oder dem anderen Hohlraum. Die dem Photon zugeordnete Welle besteht also aus zwei Partialwellen – in jedem Hohlraum eine. Werden nun die Verschlüsse geöffnet, so paßt sich die Photon-Welle dem neuen, größeren Hohlraum an. Diese Veränderung läßt sich als Verschmelzen der beiden Teilwellen zu einer einzigen Gesamtwelle veranschaulichen.

Diese Verschmelzung kann auf verschiedene Weise geschehen. Wenn die beiden Partialwellen einander am Ort des Photodetektors verstärken, wird das Photon registriert; löschen sie sich dort hingegen aus, weist der Sensor das Photon nicht nach. Beide Fälle sind nun aber gleich wahrscheinlich; sie lassen sich weder gezielt herbeiführen noch vorhersagen. Somit entdeckt der Photosensor das zurückgelassene Photon nach Öffnen der Verschlüsse lediglich mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent.

Wenn er das Photon absorbiert, markieren wir den Fleck auf dem Schirm rot, um anzuzeigen, daß das Photon im Hohlraum gelöscht worden ist. Weist der Sensor nichts nach, markieren wir den Fleck grün. Dann wiederholen wir den ganzen Versuch mit einem neuen Atom. Die eine Hälfte der Atome erzeugt rote Pünktchen, die andere grüne.

Welches Muster entsteht schließlich auf dem Schirm? Alle roten Punkte zusammen bilden das Doppelspalt-Interferenzmuster, das auch ohne die Hohlräume des Welcher-Weg-Detektors entstanden wäre. Durch Löschen des verräterischen Photons tritt somit wieder das Interferenzmuster auf. Hingegen erzeugen die grünen Punkte insgesamt das komplementäre Muster: grüne Wellenberge am Ort roter Wellentäler und umgekehrt. Auf einer Schwarzweiß-Photographie des Schirms wäre das Interferenzmuster nicht zu erkennen; nur durch Korrelation der Atome mit der Reaktion des Photosensors wird die Interferenz buchstäblich ans Licht gebracht.

Wenn man wie unser Quantenmechaniker die Interferenzen mit Schnittpunkten von Kurven in einer Ebene vergleicht, könnte man sagen: Beim Quantenradieren tritt zutage, daß die obere und die untere Kurve jeweils aus roten und grünen Zweigen bestehen. Diese Zweige werden nun so auf ihnen entsprechende Ebenen verschoben, daß sich nur gleichfarbige Zweige überlagern. Da rote Zweige nicht mit grünen interferieren, muß man sie auseinanderhalten, um das Interferenzmuster zu erkennen.

Weil das Radieren erst nach Auftreffen eines Atoms auf dem Schirm stattfindet, vermag es die Bewegung des Atoms gewiß nicht mehr zu beeinflussen. Der Experimentator hat die Wahl: Will er lieber wissen, durch welchen Spalt ein Atom gekommen ist – oder interessiert ihn die komplementäre Eigenschaft, ob der Photosensor aktiviert wurde (rot) oder nicht (grün)? Beides zugleich kann er nicht erfahren. Die Zuweisung der Etiketten "durch den oberen Spalt gekommen" und "rot" an ein und dasselbe Atom ist unmöglich – genau so, wie man auch die magnetischen Eigenschaften eines Silberatoms nicht mit "aufwärts und links" beschreiben kann. Wiederum fordert das Komplementaritätsprinzip unerbittlich sein Recht.


Praktische Versuche

Das eben beschriebene Konzept hat den Vorteil, sich einfach darlegen und analysieren zu lassen. Bis zu seiner Realisierung werden allerdings wohl noch Jahre vergehen. Die größte Hürde ist die Empfindlichkeit der angeregten Atome, deren Zustand leicht zerstört wird.

Beim ersten experimentellen Quantenradierer wird man vielleicht gar nicht Atome als interferierende Objekte einsetzen. Viele moderne Interferometer verwenden nicht einmal Spalte. Man benutzt in einschlägigen Interferenzversuchen meist Photonenpaare, so in den Labors von Raymond Y. Chiao an der Universität von Kalifornien in Berkeley, James D. Franson an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (Maryland), Leonard Mandel an der Universität Rochester (New York), Yan-Hua Shih an der Universität von Maryland in College Park und Anton Zeilinger an der Universität Innsbruck (Österreich). Das oben erwähnte NIST-Experiment arbeitet mit einem rückstoßfreien Welcher-Weg-Detektor für Licht, das an zwei Atomen statt an zwei Spalten gestreut wird; eine Variante dieser Versuchsanordnung könnte einen Quantenradierer ergeben.

Freilich erwarten wir nicht, daß die Resultate die Quantenmechanik widerlegen werden – ganz im Gegenteil. Die Quantenwelt hat sich bislang als sorgfältig gegen innere Widersprüche geschützt erwiesen, und ein unerwartetes Ergebnis würde eher für einen Fehler im Experiment sprechen als gegen die Theorie. Trotz all unseres Einfallsreichtums beim Aushecken neuer Experimente scheint uns die Natur immer mindestens einen Schritt voraus zu bleiben.

Literaturhinweise

- Komplementarität in der Quantenmechanik. Von B.-G. Englert und H. Walther in: Physik in unserer Zeit, Band 23, Heft 5, Seiten 213 bis 220, Mai 1992.

– Quantum Eraser: A Proposed Photon Correlation Experiment Concerning Observation and "Delayed Choice" in Quantum Mechanics. Von M.O. Scully und K. Drühl in: Physical Review A, Band 25, Heft 4, Seiten 2208 bis 2213, April 1982.

– Quantum Theory and Measurement. Von John A. Wheeler und Wojciech H. Zurek. Princeton University Press, 1983.

– Quantum Optical Tests of Complementarity. Von M.O. Scully, B.-G. Englert und H. Walther in: Nature, Band 351, Heft 6322, Seiten 111 bis 116, 9. Mai 1991.

– Young's Interference Experiment with Light Scattered from Two Atoms. Von U. Eichmann und anderen in: Physical Review Letters, Band 70, Heft 16, Seiten 2359 bis 2362, 19. April 1993.

– The Micromaser: A Proving Ground for Quantum Physics. Von G. Raithel, Ch. Wagner, H. Walther, L.M. Narducci und M.O. Scully in: Cavity Quantum Electrodynamics. Herausgegeben von Paul R. Berman. Academic Press, 1994.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1995, Seite 50
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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