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Konflikte und Chancen europäischer Forschungspolitik



Der Maastrichter Vertrag nennt in Artikel 130 und folgende als Ziele der europäischen Forschungspolitik die Stärkung der wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen der europäischen Industrie sowie die Entwicklung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Auf den ersten Blick klingt das nicht nach Forschungsförderung als einer Kulturaufgabe, wie sie etwa durch die Finanzierung der DFG oder vergleichbarer Organisationen in anderen Ländern geleistet wird, und so wird es im Umfeld der Kommission auch verstanden. Studiert man aber die Titel der diversen Programme des bevorstehenden fünften Rahmenprogramms, wie "Lebensqualität und Management lebender Ressourcen" oder "Erhaltung des Ökosystems", so stehen diese, jedenfalls im Prinzip, nicht nur der vorwettbewerblichen, sondern auch der Grundlagenforschung offen.

Dafür, daß dies tatsächlich auch der Fall ist, gibt es einige herausragende Beispiele, wie das Hefegenomprojekt, das 55 europäische Laboratorien seit Ende der achtziger Jahre um eine einzige Aufgabe scharte, nämlich die Reihenfolge der Bausteine im Erbgut der Hefe zu bestimmen. Ein solches Projekt ist einerseits erkenntnisorientiert, da es die wichtige biologische Frage nach der Struktur des Erbguts der Hefe beantwortet, andererseits zugleich auch unmittelbar anwendungsträchtig, insofern als das Wissen um das Erbgut der Hefe Voraussetzung für die Entwicklung von Arzneimitteln werden kann.

Dieses Beispiel beleuchtet auch eine andere, wesentliche Randbedingung für die Ziele europäischer Forschungspolitik, nämlich das, was "europäischer Mehrwert" genannt wird. Damit sind Forschungsvorhaben gemeint, die nur in einer gemeinsamen, europaweiten Anstrengung durchgeführt werden können und damit mehr als die Summe ihrer Teile sind. Auch dafür ist das beschriebene Hefegenomprojekt ein gutes Beispiel. Als das Projekt begonnen wurde, wäre kein einziges europäisches Laboratorium in der Lage gewesen, diese Aufgabe alleine in Angriff zu nehmen. Hier hat die EU-Forschungsförderung in der Tat ihren Sinn erfüllt. Leider lassen sich nicht allzu viele Programme finden, die auf diese Weise den Zielen einer europaweiten Forschungsförderung entsprechen. Außerdem gibt es einige Wissenschaftszweige, die durch die EU-Förderung überhaupt nicht oder nur am Rande tangiert werden, wie manche Kulturwissenschaften. Das ist besonders tragisch für die Wissenschaft in denjenigen Ländern, wo der Brüsseler Beitrag aus den nationalen Forschungsförderetats abgezogen wird.

Es sollte auch nicht übersehen werden, daß der Verwaltungskostenanteil der EU mit 8 Prozent mehr als doppelt so hoch liegt wie bei einer Organisation wie der DFG. Auch die Belastung der EU-Förderung durch wissenschaftsfremde Randbedingungen, wie etwa regionale Rücksichtnahmen, erschwert die Umsetzung der definierten Ziele. So drohte lange der Start des fünften Rahmenprogramms daran zu scheitern, daß Spanien seine Zustimmung von Zugeständnissen auf einem ganz anderen Gebiet abhängig machte, nämlich bei den sogenannten Strukturfonds. Die für die Forschung so notwendige Kontinuität wäre ernsthaft gefährdet.

All dies sind schon gute, wenn nicht gar überzeugende Gründe, um weiterhin auf einem Nebeneinander von nationaler und europäischer Forschungsförderung zu bestehen. Dazu kommt aber noch ein weiterer, entscheidender Gesichtspunkt. Die Definition der Programme und die Entscheidung über die Förderung von Projekten unterliegt einem deutlichen Primat von Politik und Wirtschaft, obwohl beide wissen sollten, daß Innovation allein aus einem ständigen Zustrom neuer Ideen aus der Grundlagenforschung kommt, die diesbezüglich nicht planbar ist, auch nicht durch noch so viel Bürokratie. Was uns in Brüssel immer noch fehlt, ist eine Stimme der Wissenschaft. Vor gut vier Jahren hatte der italienische Kommissar Antonio Ruberti eine alte Idee des belgischen Physikochemikers und Nobelpreisträgers Ilya Prigogine aufgegriffen und eine Art europäisches Wissenschaftsparlament geschaffen. Dieses Gremium, die European Science and Technology Assembly (ESTA), bestehend aus 100 Wissenschaftlern und Industriellen, hat die Kommission in vielerlei wissenschaftsrelevanten Fragen beraten, angefangen bei der Verbesserung ihrer Evaluationsverfahren bis hin zur Identifizierung von Stärken und Schwächen der europäischen Forschung. Am 28. April dieses Jahres wurde der ESTA, nachdem sie sich gerade für eine zweite Amtsperiode konstituiert hatte, ihre Auflösung angekündigt. Das Versprechen der Kommission, dieses Gremium in verkleinerter Form wiederzubeleben und es mit dem mächtigen IRDAC, einer industriellen Beratergruppe, vereinigt wieder auferstehen zu lassen, wurde bislang nicht eingelöst. Daß eine Fusion mit einer einflußreichen und eingespielten Industrielobby-Organisation der Sache der Wissenschaft vielleicht nicht unbedingt dienlich ist, sei hier nur am Rande erwähnt.

Derartige Entwicklungen sind durchaus geeignet, die Illusionen selbst der überzeugten Europäer zu rauben. So nimmt es nicht Wunder, daß die Vorsitzenden der europäischen Wissenschaftsorganisationen, genannt EUROHORCs, derzeit zu untersuchen beginnen, ob es nicht möglich wäre, einige Forschungsprojekte mit "europäischem Mehrwert", beispielsweise im Umfeld der Rechts- und Sozialwissenschaften sowie der Medizin, in eigener Regie zu finanzieren und zu fördern, gemäß dem in der DFG bewährten Bottom-up-Verfahren. Dies könnte vielleicht im Rahmen der European Science Foundation (ESF) geschehen, die sich hohen Ansehens erfreut, aber immer noch bescheiden finanziert ist. Leider steht einem solchen Experiment die Sorge einiger unserer Schwesterorganisationen entgegen, sie benötigten für ein solches Engagement die Erlaubnis ihrer Regierung, die diese wegen ihrer Zahlungen an die Europäische Union vielleicht nur unter Androhung einer Verrechnung zu erteilen bereit wären. Dabei würde auch der EU ein wenig Wettbewerb, den wir doch sonst alle so gut finden, nicht schaden. So haben wir derzeit geradezu einen gordischen Knoten absoluter Lähmung, den die Wissenschaftler allein wahrscheinlich nicht durchhauen können und den zu lösen die verantwortlichen Wissenschaftsminister der EU-Länder kein Interesse zu haben scheinen.

Für die nationale Forschungsförderung ist dieser Zustand jedoch auch eine Chance. So versucht die Deutsche Forschungsgemeinschaft weiterhin, ihre Programme zu internationalisieren und über bilaterale Abkommen die Zusammenarbeit mit ausländischen Wissenschaftlern auszubauen. Gerade die speziellen Förderinstrumente wie die Graduiertenkollegs und die Sonderforschungsbereiche haben bei dieser Art der Internationalisierung zunächst mit unseren Nachbarstaaten, wie etwa den Niederlanden, Fortschritte erreicht. Mit unserer Schwesterorganisation in der Volksrepublik China bauen wir derzeit sogar ein von beiden zu nutzendes Gebäude, das die Zusammenarbeit zwischen chinesischen und deutschen Wissenschaftlern auf eine neue Grundlage stellen wird. Wir werden verstärkt auf diesem Felde weiterarbeiten. Viele Wissenschaftler in Europa und in der Welt beneiden uns um die Breite der Forschungsförderung in unserem Lande, gewiß auch um die DFG. Vielleicht gelingt uns über den "kalten und durchaus mühsamen" Weg der multiplen Bilateralität eine Abstimmung der Wissenschaftler mit den Füßen, deren Resultate am Ende auch die Politik überzeugen und auf die Verhältnisse in Brüssel zurückwirken.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1999, Seite 966
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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