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Schienenverkehr: Kontaktsuche am Fahrdraht

Bei rascher Fahrt bringen Stromabnehmer die Oberleitung zum Schwingen. Eine aktive Regelung der Kontaktkraft soll die Probleme mit Stabilität und Verschleiß reduzieren.


Auf die Frage, wie schnell ein Zug fahren kann, wird mancher zunächst über Motorleistung, Luftwiderstand oder Haftung von Rad und Schiene nachdenken. Doch eine einfache Antwort lautet: So schnell, dass er noch Strom aus der Oberleitung erhält. Denn sobald Kontaktleisten am Fahrdraht entlang gleiten, bringen sie ihn zum Schwingen und zwar umso stärker, je schneller der Zug unterwegs ist. Im Extremfall kann die Stromversorgung sogar vorübergehend vollständig zusammenbrechen.

Doch so dramatisch muss es gar nicht werden: Bewegt sich die Leitung nur Bruchteile eines Millimeters von den Schleifkontakten weg, zündet die Hochspannung einen Lichtbogen, schwingt sie darauf zu, erhöht sie den Anpressdruck – beide Effekte verschleißen Schleifstück und Fahrdraht und erhöhen damit die Betriebskosten. Besonders groß wird das Problem, wenn mehrere Stromabnehmer gleichzeitig ausgefahren werden müssen, etwa in einem Verband von Triebfahrzeugen: Der Erste versetzt die Oberleitung in Schwingung und erschwert dadurch die Kontaktgabe des nachfolgenden Stromabnehmers, das Problem schaukelt sich auf.

Der Prozess ist überdies hochdynamisch. Wird die Leitung befahren, breitet sich daran von der Kontaktstelle ausgehend eine mechanische Welle in beide Richtungen aus, je nach Masse und Zugspannung des Drahtes 380 bis 570 Kilometer pro Stunde schnell. Diese Welle wird an Stützpunkten oder Hängern reflektiert und läuft dann dem Fahrzeug entgegen, sodass sich die Schwingungsamplitude der Leitung durch den Dopplereffekt weiter erhöht.

Als kritische Größe dieses Prozesses erweist sich die Kontakt- beziehungsweise Anpresskraft. Zu dem statischen Wert, den die Pneumatik der Hubvorrichtung vorgibt, kommen – allerdings deutlich schwächere – aerodynamische Kräfte, die mit der Geschwindigkeit zunehmen, sowie die geschilderten dynamischen Störungen. Die resultierende Gesamtkraft schwankt statistisch, denn die relevanten Einflussgrößen der gesamten Kette aus Strommasten, Hängern und anderem verändert sich, Masten stehen nicht in gleichen Abständen, Reflexionen überlagern einander.

Eine Analyse liefert den statistischen Mittelwert (Fm) und die Standardabweichung (s). Als sinnvolle Grenzwerte für die Kontaktkraftschwankungen gelten: maximal 90 Prozent des Durchschnittswerts für die dreifache Standardabweichung nach oben beziehungsweise nach unten (Fm ± 3 s). Wieder zeigt sich das Problem des Verbandes mehrerer Stromabnehmer: Während beispielsweise der vorlaufende Abnehmer die zulässigen Grenzwerte einer bestimmten Oberleitung erst bei 220 Kilometern pro Stunde überschreitet, ist das für den nachfolgenden schon ab 190 Kilometern pro Stunde der Fall.

Neuere Fahrdrähte auf Hochgeschwindigkeitsstrecken sind auf hohe Zugspannung ausgelegt und können mit Spitzengeschwindigkeiten von 330 Kilometern pro Stunde befahren werden, während ältere maximal 200 Kilometer pro Stunde erlauben. Auch sind moderne Stromabnehmer so gebaut, dass sie ruhiger laufen als noch vor 15 Jahren. Die Systeme der Deutschen Bahn haben bereits einen hohen technischen Stand erreicht. Sollen ICEs und Intercitys noch schneller fahren, gibt es deshalb nur noch zwei Möglichkeiten. Die nahe liegendste wäre der Austausch von Oberleitungen des "langsameren" Typs gegen "schnellere", das erforderte allerdings Investitionen in Milliardenhöhe. Viel- versprechender ist eine aktuelle gemeinsame Entwicklung des Forschungszentrums der Deutschen Bahn und der Firma Adtranz, die darauf abzielt, die Kontaktkraft zwischen Stromabnehmer und Fahrdraht aktiv zu regeln: Sensoren erfassen die Kontaktkraft, und Regelalgorithmen leiten daraus Steuersignale für Stellelemente ab, um die Kraft immer optimal zu halten.

Auf diese Weise will man folgende Ziele erreichen:

- Das bestehende Oberleitungsnetz soll um bis zu 20 Prozent schneller befahren werden können, und das auch im Zugverband mit mehreren Stromabnehmern.
– Der Verschleiß der Komponenten soll durch die Reduzierung der Kontaktkraftspitzen und Lichtbögen bei zugleich niedriger mittlerer Anpresskraft etwa halbiert werden.
– Eine aeroakustisch angepasste Konstruktion soll zudem die Lärmemission bei sehr hohen Geschwindigkeiten verringern.
– Aus den Sensorsignalen sollen über Diagnosealgorithmen Schäden an Fahrdraht oder Stromabnehmer frühzeitig erkannt und so die Wartung unterstützt werden.

Zur Messung der Regelgrößen Kraft und Beschleunigung im realen Betrieb dienen spezielle Sensoren an den Schleifstücken des Stromabnehmers. Deren Signale werden digitalisiert und mittels Lichtwellenleiter in das Triebfahrzeug übertragen.

Eine Wippe, die nicht schwingen soll

Auch die Sensoren haben einiges auszuhalten: Mechanische Erschütterungen, starke elektromagnetische Felder, aber auch Feuchtigkeit, Eis und Schnee machen ihnen zu schaffen. Deshalb verwendet die Bahn beispielsweise robuste Dehnungsmessstreifen als Kraftaufnehmer auf speziellen Verformungskörpern; diese Sensoren sind gut gegen Feuchtigkeit und elektromagnetische Felder isoliert. Piezokristalle, die ihren elektrischen Widerstand beim Einwirken mechanischer Kräfte ändern, bilden den Kern der Beschleunigungsfühler; ihre Signale bereitet eine Elektronik noch im Sensor auf.

Des Weiteren setzen die Entwickler auf Computersimulationen sowie Versuche am Prüfstand und auf der Strecke. Bei den Simulationen werden durch mathematische Modelle die Eigenschaften von Stromabnehmer und Oberleitung beschrieben, und das Zusammenwirken in simulierten Streckenfahrten analysiert. Die am Prüfstand mit dem realen Stromabnehmer nachgebildeten Streckenfahrten ergänzen diese Berechnungen; die hierfür erforderlichen Anregungssig-nale beruhen auf Mess- beziehungsweise Simulationsdaten von Kontaktkräften und Bewegungen des Fahrdrahtes.

Aufbauend auf aktuellen Stromabnehmern versuchen Wissenschaftler die Ziele mit einer zweistufigen Regelung zu erreichen. Mit der ersten Reglerstufe wird wie herkömmlich über einen pneumatischen Balgantrieb die Schere geöffnet; wie weit, das bestimmt ein elektrisch einstellbares Druckregelventil. Dessen Steuersignal ergibt sich aus dem Sollwert der Kontaktkraft und deren momentanem Ist-Wert.

Diese Regelung reicht allerdings noch nicht aus, um dynamische Kraftanteile zu verringern, denn der Abstand zwischen dem Ventil im Stromabnehmerantrieb und der Kontaktstelle ist recht groß, und es müssen mehr als 20 Kilogramm bewegt werden: Im Endeffekt lassen sich nur dynamische Änderungen der Kontaktkraft bis etwa 0,3 Hertz korrigieren. Das reicht aber aus, den mittleren Wert recht gut einzuhalten und langsame Änderungen auszugleichen, wie sie beispielsweise aerodynamische Kräfte hervorrufen.

Für die zweite Reglerstufe ordnen die Ingenieure Aktoren nahe der Wippe an. Damit lassen sich selbst hochfrequente Kraftschwankungen bis zu 15 Hertz ausgleichen, wie die simulierten Streckenfahrten mit einem Versuchsmodell gezeigt haben. Die Schwankungen der Kontaktkraft fallen damit deutlich geringer aus, die Grenzwerte werden erst bei höheren Geschwindigkeiten erreicht. Derzeit entsteht ein Prototyp, der in der zweiten Jahreshälfte seine Testfahrten auf einer realen Strecke absolvieren soll.


Die Oberleitung


Eine Oberleitung besteht aus dem Strom leitenden Fahrdraht, Haltemasten, Tragseil und Hängern, die den Draht am Seil fixieren. Über Gewichte werden Fahrdraht und Tragseil vorgespannt. Je unelastischer der Fahrdraht ist, desto schneller kann ihn ein Zug befahren – er schwingt dann weniger stark. Die Elastizität ist jedoch nicht gleichmäßig verteilt, sondern beispielsweise zwischen zwei Masten deutlich höher als an den Stützpunkten. So genannte Y-Beiseile gleichen das aus.


Der Stromabnehmer


Jedes elektrische Triebfahrzeug verfügt über mindestens einen Stromabnehmer, der pneumatisch oder über Federn an den Fahrdraht gedrückt wird. Den eigentlichen elektrischen Kontakt stellen die Schleifleisten der Wippe genannten bogenförmigen Konstruktion her. Deren Ende bilden die Auflaufhörner, die den Fahrdraht zu den Leisten führen. Der ist so gespannt, dass er zwischen jeweils drei Strommasten zickzackförmig über die Leisten geführt wird und sie so gleichmäßig abnutzt.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2001, Seite 89
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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