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Krankheit und soziale Ungleichheit. Ergebnisse der sozialepidemiologischen Forschung in Deutschland


"Wenn du arm bist, mußt du früher sterben", formulierte der Hamburger Soziologe Alfred Oppolzer plakativ die Ergebnisse einer Studie, die Mitte der achtziger Jahre Zusammenhänge zwischen Gesundheit und sozialer Schicht in der Bundesrepublik untersuchte. In einer Gesellschaft, in der mehr als 90 Prozent der Bevölkerung durch die gesetzliche Krankenversicherung gleichen Zugang zu einer Gesundheitsversorgung auf hohem Niveau haben, klingt der Satz überholt; gleichwohl wirken die grundlegenden Ergebnisse aktueller Untersuchungen, wie die vorliegende Sammlung sie vorstellt, wie eine Bestätigung.

Der Herausgeber Andreas Mielck, Soziologe und Epidemiologe am Institut für Medizinische Informatik und Systemforschung der Gesellschaft für Strahlenforschung (GSF) in Neuherberg bei München, hat außer dem aktuellen Teil einen guten Überblick über die Anfänge sozialmedizinischer Forschung zusammengestellt; zusammen mit Fachkollegen entwickelt er eine Standortbestimmung der heutigen Sozialepidemiologie in Deutschland und bringt Vergleiche mit Projekten in anderen europäischen Staaten.

Der erste Teil "Ergebnisse der bisherigen Forschung" lehrt, daß man gesundheitliche Gleichheit oder Ungleichheit an vielen verschiedenen Maßstäben messen kann: Höhe der Ausgaben pro Person im Gesundheitssystem, Verteilung der Ressourcen, Zugang und Inanspruchnahme der Angebote der Gesundheitsversorgung sowie Qualität der Versorgung. Entsprechendes gilt für die soziale Schicht, die über Ausbildung, Beruf, Einkommen, Familienstand oder Wohnort definierbar ist. Demgegenüber ist es überraschend, daß die Ergebnisse der meisten Untersuchungen auf einen recht einfachen Nenner zu bringen sind: Menschen, die von den Wissenschaftlern einer niedrigen sozialen Schicht zugeordnet werden, haben höhere berufsbedingte Gesundheitsrisiken, leiden häufiger unter Krankheiten wie Diabetes mellitus und chronischer Bronchitis, weisen häufiger zusätzliche Risikofaktoren wie Alkohol, Nikotin, Übergewicht oder Bewegungsmangel auf und besuchen seltener einen Facharzt. Bei einer Auswertung von Daten der Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie aus den Jahren 1984 bis 1988 fand Uwe Helmert vom Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin, daß von allen erfragten Krankheiten lediglich Allergien bei Hochschulabsolventen häufiger zu finden waren. Und selbst dieses Ergebnis könnte dadurch verzerrt sein, daß diese Gruppe gesundheitsbewußter ist und auch leichtere Symptome eher beachtet.

Oppolzer wertet die Arbeitswelt als ausschlaggebend für gesundheitliche Ungleichheiten: Direkten schädlichen Einflüssen wie Lärm, giftigen Materialien, schweren einseitigen körperlichen Belastungen, ungünstigen Arbeitszeiten oder gleichförmigen Tätigkeiten sind ungelernte und wenig qualifizierte Arbeiter wesentlich häufiger ausgesetzt als Angestellte oder Beamte. Indirekt hat die Position des einzelnen in der Hierarchie zusätzliche Bedeutung, indem sie Wohnverhältnisse, Zugang zu Einrichtungen der sozialen Infrastruktur sowie Ernährung und Verhalten bei Krankheitssymptomen beeinflußt. In bürgerlichen Vierteln gibt es generell mehr Kindergartenplätze und Fachärzte; Arbeiter suchen erst bei stärkeren Beschwerden einen Arzt auf und werden – wohl auch weil sie ihren Fall nicht so sprachgewandt darlegen können – deutlich kürzer in der Sprechstunde behandelt als Bessergestellte mit gleichen Krankheitsbildern.

In der Säuglingssterblichkeit spiegelt sich die soziale Stellung der Eltern gleichfalls wider: Von den Kindern, deren Mütter weniger als 1600 Mark monatliches Nettoeinkommen zur Verfügung hatten oder in Wohnungen mit weniger als 60 Quadratmetern lebten, starben im ersten Jahr nach der Geburt doppelt so viele wie im Durchschnitt. Eine vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin durchgeführte regionale Analyse der Säuglingssterblichkeit und der Häufigkeit von Totgeburten im Westteil der Stadt ergab eine Häufung in Verwaltungsbezirken wie Wedding, Kreuzberg und Neukölln, die als traditionelle Arbeiterviertel oder sozial benachteiligte Bezirke bekannt sind. Auch die höhere Säuglingssterblichkeit bei ausländischen Familien, die noch stärker als deutsche schlechteren Wohn- und Arbeitsverhältnissen ausgesetzt sind, überrascht nicht. Verblüffend und neu sind allenfalls Details wie der Befund, daß nicht berufstätige deutsche Frauen häufiger Totgeburten haben als berufstätige.

Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen bei Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind ebenfalls relativ komplex: Elvira Claßen vom Zentrum für Epidemiologie und Gesundheitsforschung Berlin ermittelte, daß in den achtziger Jahren in der DDR etwa zehn Prozent mehr Frauen an Bluthochdruck litten und fünf Prozent mehr an Übergewicht. Letzteres korrelierte im Osten stärker als im Westen mit einer niedrigen sozialen Schicht, die in dieser Untersuchung durch kürzere Dauer der Ausbildung definiert wurde (weswegen Frauen in beiden Teilen Deutschlands in dieser Schicht überrepräsentiert sind). Andere Beiträge zeigen, daß die DDR im Gesundheitswesen weit von einer klassenlosen Gesellschaft entfernt, in der epidemiologischen Datenerhebung der Bundesrepublik jedoch überlegen war.

In der Vielfalt der in diesem Buch gesammelten Studien finden sich ausreichend derartige Details, so daß die Lektüre trotz der einheitlichen Grundaussage nicht langweilig wird. Außer den wissenschaftlichen Beiträgen sind vor allem neuentwickelte Hypothesen zur Arbeitsmedizin und Ansätze zur zielgruppenspezifischen Gesundheitsaufklärung interessant. Als deutlichster Eindruck bleibt jedoch, daß auch in Deutschland die Gesundheit eines Menschen nicht hauptsächlich von der medizinischen Versorgung abhängt, sondern durch zahlreiche soziale Faktoren wesentlich stärker beeinflußt wird.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1995, Seite 119
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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