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Krater, Kunst und Kegelschnitte

Hyperbeln, die Privatsphäre eines Punktes und die Verteilung der Materie im Kosmos – das alles läßt sich aus selbstorganisierten Rieselskulpturen herauslesen.


Die renommierte Fachzeitschrift "Nature" publiziert eine ganz besondere Kombination von hochkarätigen Fachartikeln einerseits und feuilletonistischen Beiträgen zum Thema Wissenschaft andererseits. Zur zweiten Kategorie zählt die Rubrik "Art and Science" (Kunst und Wissenschaft), die der Kunsthistoriker Martin Kemp aus Oxford mehr als ein Jahr lang gestaltet hat.

In der Ausgabe vom 11. Dezember 1997 beschrieb Kemp die bemerkenswerten Landschaften des Londoner Künstlers Jonathan Callan. Es handelt sich nicht um Bilder, sondern Skulpturen; und sie gleichen keiner irgendwo existierenden Landschaft. Callan streut Zement auf durchlöcherte Grundbretter und läßt die physikalischen Kräfte sein Werk vollenden.

Gewisse allgemeine Prinzipien scheinen Callans phantastische Landschaften zu beherrschen; so liegen die höchsten Zementgipfel stets dort, wo der Abstand zu den Löchern am größten ist. Auf die Veröffentlichung in "Nature" hin lieferte Adrian Webster, ein Astronom am Royal Observatory in Edinburgh, in einem Leserbrief am 29. Januar 1998 eine Erklärung dafür mit Hilfe der klassischen Geometrie, genauer: der Theorie der Voronoi-Zellen. Ausgerechnet ein Astronom? Ja; denn mit dieser Theorie ist eine der neuesten wesentlichen Entdeckungen der Astronomie beschreibbar: die schaumblasenartige Verteilung der Materie im Weltraum. So kommt ein geradezu klassisches Beispiel für die Einheit von Mathematik, Kunst und Wissenschaft zusammen.

Seit den ersten Höhlenmalereien machen sich die Künstler physikalische und chemische Prozesse für ihre Werke zunutze. Die Bildhauer der Antike mußten verstanden haben, wie Gestein bricht und geschmolzene Bronze in Formen fließt. Die Maler der Renaissance studierten die Eigenschaften der Farbpigmente. Aber üblicherweise strebt der Künstler danach, diese Vorgänge zu beherrschen. Jonathan Callan gehört zu einer kleinen Gruppe moderner Künstler, die diesen Anspruch aufgeben und die physikalischen und chemischen Prozesse selbst die Gestalt ihrer Kunstwerke bestimmen lassen. Ein gleiches gilt für Volkhard Stürzbecher aus Neustadt an der Weinstraße, der die "Entwicklung nichtlinearer Gestaltbildungsprozesse" zum Thema seiner Aktivitäten gemacht hat.

Callan bohrt zunächst Löcher an zufällig gewählten Stellen in eine horizontale Grundplatte. Dann läßt er durch ein feines Sieb Zementpulver gleichmäßig über die Fläche rieseln. Ein Teil davon fällt durch die Löcher; dazwischen türmen sich kleine Zementberge auf. Indem der Zement Feuchtigkeit aus der Luft aufnimmt, härtet er aus. Stürzbechers Werke sind aus einem besonders gut rieselnden Spezialmaterial und daher vergänglicher. In jedem Falle ähnelt das Ergebnis einer Mondlandschaft mit zackigen Spitzen rund um tiefe Krater. Callan vergleicht seine Skulpturen mit irdischen Gebirgen: "Eine Geographie, die zugleich außerordentlich natürlich und ganz künstlich aussieht – die Alpen in Neuauflage."

Na ja – Sandhäufchen sind wohl der treffendere Vergleich. Die Ingenieure wissen seit langem, wie sich körniges Material – Sand, Kies oder Zementpulver – auftürmt. Die einfachste und wichtigste Kenngröße ist der sogenannte kritische Winkel. Wenn man ein Sandhäufchen immer höher aufschüttet, etwa indem man immer dieselbe Stelle mit einem dünnen Sandstrom berieselt, wird es immer steiler, bis der – materialabhängige – kritische Winkel erreicht ist. Weiterer Sand rinnt die Wand des Haufens herunter und löst eine kleinere oder größere Lawine aus, durch die der konstante kritische Winkel wiederhergestellt wird. Solche Lawinen sind in den hier gezeigten Sandbildern mehrfach zu sehen. Die stabile Form, die der Haufen in diesem einfachen Modell schließlich annimmt, ist ein Kreiskegel, dessen Mantel sich genau im kritischen Winkel gegen die Waagerechte erhebt (Bild oben, links).

Die Prozesse, die diese Neigung hervorbringen, und die großen und kleinen Lawinen, die das Wachstum der Haufen begleiten, sind Gegenstand der Komplexitätstheorie. Der dänische Physiker Per Bak hat dafür den Begriff "selbstorganisierte Kritizität" (self-organized criticality) geprägt (Spektrum der Wissenschaft, März 1991, S. 62). Prozesse mit den gleichen Eigenschaften sieht er in vielen Vorgängen der Realität am Werk, bis hin zur biologischen Evolution: An die Stelle der Sandkörner treten ganze Arten, und die Haufen existieren in einem abstrakten Raum potentieller Organismen.

Die Zementstrukturen rund um die Löcher in Callans Kunstwerken sind gewissermaßen die Umkehrung der kegelförmigen Sandhaufen, die der Ingenieur kennt. Betrachten Sie ein Grundbrett mit nur einem Loch. Allseits um das Loch steigt der Zementhang im kritischen Winkel an. Insgesamt ergibt sich eine kegelförmige Einsenkung mit der Spitze nach unten (Bild ganz links). Das sind die Krater, die Callans bemerkenswerte Landschaften bilden.

Was aber, wenn der Londoner Bildhauer mehrere Löcher in seine Bretter bohrt? Der entscheidende Punkt ist, daß jedes herabrieselnde Zementkorn schließlich – wenn überhaupt – durch dasjenige Loch herausfällt, das seinem erstmaligen Aufschlagspunkt am nächsten liegt. Damit läßt sich vorhersagen, wo sich die Grenzen zwischen den kegelförmigen Kratern ausbilden werden. Man teile dazu das Grundbrett in Gebiete um die Löcher ein, und zwar derart, daß jedes Gebiet genau die Punkte enthält, die näher an dem zugehörigen Loch liegen als an jedem anderen. Das Gebiet ist gewissermaßen die Einflußsphäre des zugehörigen Loches, nur ist es keine Sphäre, sondern ein Vieleck (Polygon). Wenn das Brett waagerecht liegt, verlaufen die Grenzen zwischen diesen Gebieten genau unterhalb der Grate zwischen benachbarten Kratern.

Wie findet man die Einflußsphäre eines Lochs? Man ziehe die Verbindungslinien zu allen anderen Löchern und zeichne durch den Mittelpunkt jeder Verbindungslinie eine senkrechte Gerade, kurz: die Mittelsenkrechte zu jeder Verbindungslinie. Es ergibt sich ein wirres Netz von Mittelsenkrechten. Nun bestimme man das kleinste konvexe Gebiet, das von Linien dieses Netzwerkes begrenzt wird und das gegebene Loch enthält. Dieses Gebiet ist die sogenannte Voronoi-Zelle des Lochs. Zusammen parkettieren diese Zellen die Ebene. Georgii F. Voronoi (1868 bis 1908) war ein russischer Mathematiker, der auf dem Gebiet der Zahlentheorie arbeitete und sich mit mehrdimensionalen Parkettierungen beschäftigte. Alternativ firmieren Voronoi-Zellen auch als Dirichlet-Bereiche oder Wigner-Seitz-Zellen; sie tragen noch einige weitere Bezeichnungen, denn sie sind in vielen Zusammenhängen wiederentdeckt worden.

Callans und Stürzbechers Krater wachsen nun als umgedrehte Kegel unter einem einheitlichen kritischen Winkel. Sie treffen über den Kanten der durch das Löchersystem definierten Voronoi-Zellen aufeinander. Eine angenehme Eigenschaft dieser Geometrie ist es, daß zwei Krater dort, wo sie aneinanderstoßen, stets gleich hoch sind; es gibt keine senkrechten Wände, die irgendwelche Höhenunterschiede ausgleichen müßten. Eine andere, weniger offensichtliche Eigenschaft läßt sich ebenfalls herleiten: die Form des Grates zwischen nebeneinanderliegenden Kratern.

Nach dem Modell mit den umgekehrten Kegeln muß er in der vertikalen Ebene liegen, die durch die Kante zwischen den zugehörigen Voronoi-Zellen geht. Was für eine Kurve erhalten wir, wenn eine senkrechte Ebene mit einem senkrechten Kreiskegel geschnitten wird? Schon die alten Griechen kannten die Antwort: einen Kegelschnitt, in diesem Falle eine Hyperbel. Daraus erklärt sich die zackige Struktur von Callans Landschaften.

Wie steht es nun mit der Verbindung zur Astronomie? Stellen Sie sich statt der Löcher in einer Ebene Punkte im dreidimensionalen Raum vor. An die Stelle der Mittelsenkrechten zwischen zwei Punkten tritt im Raum eine ganze Ebene. Denken Sie sich diese Ebenen zu allen Verbindungslinien eines bestimmten Punktes mit allen anderen Punkten. Die Voronoi-Zelle dieses Punktes ist das kleinste konvexe Gebiet, das den Punkt umgibt und von Teilen dieser Ebenen begrenzt wird. Diese Voronoi-Zellen sind Polyeder – Körper, die von ebenen Flächen begrenzt werden. Kürzlich haben nun die Astronomen herausgefunden, daß die großräumige Verteilung der Materie im Weltraum einem Netz aus solchen Polyedern folgt. So wie es aussieht, liegen die meisten Galaxienhaufen auf den Grenzflächen benachbarter Voronoi-Zellen (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1999, S. 64). Dieses Muster nennen die Kosmologen das Voronoi-Schaum-Modell des Universums, denn es sieht aus wie ein gigantisches Schaumbad.

Es gibt eine Analogie – nicht gerade perfekt, aber doch erhellend – zur Verteilung des Zementpulvers in Callans Landschaften. Bei seinen Skulpturen türmt sich der Zement entlang der Voronoi-Grenzen am höchsten auf. Die analoge Eigenschaft im dreidimensionalen Raum wäre, daß sich im Verlaufe der Expansion des Universums die Masse entlang solcher Grenzflächen konzentriert. So umfaßt diese einfache Idee interessante Kunstwerke, elegante Mathematik und tiefliegende Ideen über die Struktur des Universums.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1999, Seite 144
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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