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Kristallzüchtung in Zentrifugen

Bei der Herstellung von Kristallen mit möglichst gleichmäßigen Eigenschaften gilt die Erdbeschleunigung meist als störend; deshalb sucht man dafür die Vorteile der Mikrogravitation in Weltraumlabors zu nutzen. Doch überraschenderweise lassen sich manchmal auch unter erhöhter Beschleunigung in irdischen Zentrifugen hervorragende Kristalle züchten.


Für die industrielle Fertigung elektronischer Schaltkreise benötigt man große Silicium-Kristalle, die möglichst gleichmäßig mit Fremdatomen dotiert sind. Doch die beim Kristallzüchtungsprozeß hoch erhitzte Schmelze hat in der Nähe des wachsenden Kristalls eine tiefere Temperatur und damit eine höhere Dichte als in der Nähe der von außen geheizten Tiegelwände; folglich entstehen durch Auftriebseffekte in der Schmelze Strömungen.

An sich wäre diese schwerkraftgetriebene Konvektion hilfreich zur Durchmischung der Schmelze; doch sind die entstehenden Strömungsgeschwindigkeiten in den meisten Fällen so groß, daß die Strömung turbulent verläuft. Der Kristall wächst dann ungleichmäßig schnell und baut die der Schmelze beigemengten Fremdatome nicht gleichmäßig ein. Demnach ist die niedrigere Schwerkraft unter Weltraumbedingungen auf den ersten Blick vorteilhaft: Bei sehr kleinen Gravitationswerten wird die Auftriebskonvektion sehr gering und damit gleichmäßig, so daß homogene Kristalle wachsen können.

Allerdings ist für das Kristallwachstum wegen der wünschenswerten Durchmischung der Schmelze in etlichen Fällen eine kräftige, aber gleichmäßige Konvektionsströmung vorteilhafter als das im Weltraum erzielbare Ausschalten der Konvektion. Die Kristallzüchter suchen daher jeweils möglichst Randbedingungen zu finden, unter denen die Konvektion stationär ist.

Doch die Konvektionsvorgänge in Schmelzen sind viel komplexer, als es nach der obigen Überlegung scheint. Mathematisch wird die Konvektion durch ein System von Differentialgleichungen beschrieben, die sogenannte nichtlineare Terme enthalten; dies erschwert die Berechnung deriphysikalischen Vorgänge – ähnlich wie in der Wettervorhersage – ganz erheblich. Aus diesem Grund werden weltweit sowohl Computersimulationen mit großem Rechenaufwand als auch Experimente durchgeführt.

Dabei kann man sich selbstverständlich auch darüber Gedanken machen, welcher Wert der Schwerkraft für die jeweilige Kristallzüchtungsanordnung optimal wäre. Unsere irdische Gravitationskonstante g hat mit 9,81 Meter pro Sekundenquadrat wohl kaum gerade den idealen Wert für das Züchten von Kristallen.

Darum haben wir am Institut für Werkstoffwissenschaften der Universität in Erlangen vor etwa 15 Jahren damit begonnen, in speziellen Zentrifugen Kristallzüchtungsexperimente bei variabler Schwerkraft durchzuführen. Zwischen 1976 und 1980 verwendete ich zusammen mit einigen Studenten dafür das Halbleitermaterial Indiumantimonid. Wir wählten diesen Stoff wegen seines gegenüber Silicium mit 1412 oder Germanium mit 936 Grad Celsius – relativ niedrigen Schmelzpunktes von 525 Grad Celsius. Die untersuchten Effekte sind jedoch materialunabhängig.

Bei den Kristallzüchtungsversuchen auf der Zentrifuge (Bild 1) kam es in erster Linie darauf an, das Auftreten von Dotierstoff-lnhomogenitäten in Abhändgigkeit von der Beschleunigung zu untersuchen. Da dieser Effekt von instationären (zeitabhängigen) Konvektionsströmungen herrührt, müssen die Temperaturen in der Kristallschmelze zeitlich variieren. Solche Temperaturfluktuationen lassen sich verhältnismäßig einfach durch in die Schmelze eintauchende Meßsonden (Thermoelemente) nachweisen. Wir haben nun während des Wachstums der Kristalle schrittweise die Drehzahl der Zentrifuge erhöht und so die wirksame Schwerebeschleunigung allmählich gesteigert.

Dabei fanden wir zunächst die erwarteten Ergebnisse (Bild 2). An dem Temperatursignal links erkennt man, daß bei der kleinsten hier abgebildeten Beschleunigung von 1,45g keine Fluktuationen auftreten; und an dem Kristallquerschnitt auf der rechten Seite sieht man im oberen zugehörigen Bereich, daß keine von Fluktuation herrührenden Streifungen aufgetreten sind. Die ruckartige Erhöhung der Beschleunigung (hier um jeweils 0,05g) erzeugt zwar. Temperaturfluktuationen (die auch Dotierungsstreifen hervorrufen), doch diese Störung klingt mit der Zeit wieder ab. Dieses Abklingen bedeutet, daß die Konvektion in der Schmelze sich in einem stationären Zustand befindet. Erst oberhalb von 1,7g ist die Konvektion zeitabhängig, das heißt instationär.

Doch bei weiterer Erhöhung der Zentrifugendrehzahl trat etwas völlig Überraschendes ein: Die Temperaturfluktuationen verschwanden, und der ab diesem Zeitpunkt gewachsene Kristallbereich enthielt keine Streifen (Bild 3).

Auch wiederholte Versuche ergaben eindeutig und reproduzierbar das höchst unerwartete Ergebnis: Bei höherer Beschleunigung ließen sich auf einmal Kristalle ohne Dotierungsschwankungen züchten. Diesen Effekt, den zuvor noch niemand beobachtet hatte, verstanden wir zunächst überhaupt nicht. Klar war nur, daß er für die Kristallherstellung nützlich sein könnte.

Die Resonanz auf die Veröffentlichung unserer Ergebnisse war in der Fachwelt eher dürftig. Unsere Arbeiten waren wohl zu exotisch, und ihnen haftete ein Manko an: Wir konnten sie theoretisch nicht erklären.

In den folgenden Jahren versuchten meine Mitarbeiter Günther Neumann und Winfried Weber, Konvektionsvorgänge in Schmelzen zu berechnen beziehungsweise das Konvektionsverhalten von Schmelzen in Abhängigkeit von der Zentrifugendrehzahl und den Temperaturrandbedingungen systematisch zu erforschen. Eines Tages schlug ich Weber nach einem Arbeitsgespräch vor, er solle doch das gleiche Experiment nochmals durchführen, nur mit umgekehrter Drehrichtung der Zentrifuge.

Nach zwei Tagen stand fest: Der bekannte Effekt war wieder eingetreten, doch die Ausschläge der Temperatursignale waren diesmal entgegengesetzt zu den bisherigen. Offensichtlich kehrte sich die Strömungsrichtung der Konvektion um, wenn wir den Drehsinn der Zentrifuge änderten. Damit war klar, daß ein physikalischer Effekt im Spiel war, in den nicht nur die Höhe der Beschleunigung eingeht, sondern auch der Drehsinn der Zentrifuge – die Winkelgeschwindigkeit.

Aus der Mechanik rotierender Körper kennt man die der Winkelgeschwindigkeit proportionale Coriolis-Kraft; sie sorgt etwa dafür, daß auf der Erde große Luftströmungen wie der Passat in Westrichtung abgelenkt werden. Wir bauten nun zusätzlich zur Zentrifugalkraft die Coriolis-Kraft in die Theorie, das heißt in die Navier-Stokesschen Differentialgleichungen, ein. Das rechnerische Ergebnis stimmte außerordentlich genau mit den experimentell beobachteten Resultaten überein.

Unsere Beobachtungen lassen sich nun, folgendermaßen erklären: Die Konvektionsströmung nimmt in dem zylindrischen Schmelzgefäß die Form einer Rolle an. Normalerweise – das heißt ohne Zentrifuge – sind solche Strömungszustände unabhängig davon, wie die Rollenachse gerichtet ist. Auf einer Zentrifuge jedoch werden zwei Strömungszustände bevorzugt: Zustand I mit der Rollenachse parallel zur Drehachse der Zentrifuge und Zustand II mit der Rollenachse antiparallel zu ihr.

Bei der einen Konvektionsrolle bewirkt die Coriolis-Kraft, daß die Strömung mehr ins Zentrum des Behälters abgelenkt wird. Dadurch treten störende Scherkräfte auf, die die Strömung zum Fluktuieren bringen. Im anderen Zustand hingegen drängt die Coriolis-Kraft die Konvektionsströmung nach außen, wodurch sie ungestört entlang der Behälterwände fließen kann und im Vergleich zum anderen Strömungszustand stationär bleibt (Bild 4).

Dieser stabile Zustand wird nun von der Natur bevorzugt, weil er eine höhere Wärmetransportrate – erkennbar an der höheren vertikalen Strömungsgeschwindigkeit (Bild 4 links unten) – aufweist und somit energetisch günstiger ist. Bei unseren Kristallzüchtungsversuchen ist also zunächst bei niedrigeren Beschleunigungen der weniger stabile Zustand mit Temperaturfluktuationen aufgetreten, der dann oberhalb einer gewissen Beschleunigung in den stabilen stationären Zustand übergeht. Allerdings wird auch dieser bei sehr viel größeren Beschleunigungen schließlich instationär.

Der im Weltraum unter Mikrogravitation erreichbare nahezu konvektionsfreie Zustand ist zwar auch stationär, doch unterscheidet er sich grundlegend von dem auf der Zentrifuge einstellbaren stationären Strömungszustand: Während dort kaum eine Strömung vorliegt, herrscht auf der Zentrifuge ein starker konvektiver Transport.

Die Mikrogravitation ist also immer dann vorzuziehen, wenn jeglicher konvektive Transport – selbst ein stationärer – nachteilig für das Kristallwachstum ist oder wenn weitere Vorteile der Schwerelosigkeit genutzt werden sollen. Die Zentrifuge ist hingegen vorteilhaft, wenn ein starker stationärer konvektiver Transport sich für das Kristallwachstum positiv auswirkt – zum Beispiel zur Durchmischung der Schmelze --und die erhöhte Schwerkraft keine sonstigen Nachteile mit sich bringt. Für beide Fälle gibt es gute Anwendungsbeispiele in der Kristallzüchtung.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1993, Seite 26
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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