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Künstliche Moleküle, die sich vermehren

Im Labor geschaffene organische Verbindungen können Kopien von sich selbst anfertigen, in gewissem Sinne mutieren, um Ressourcen konkurrieren oder sich zusammenlagern - und damit grundlegende Prozesse des Lebens nachahmen.


Stellen Sie sich ein Molekül vor, das es zu seinesgleichen hinzieht. Es soll so gestaltet sein, daß es mit einem Duplikat von sich nahtlos zusammenpaßt. Wenn es also auf ein Zwillingsmolekül trifft, wird es mit ihm für eine Weile zu einer Einheit verschmelzen. Mehr noch: Präsentiert man ihm seine eigenen Bausteine, setzt es sie zu Kopien seiner selbst zusammen, bis sie aufgebraucht sind.

Gemeinsam mit meinen Kollegen am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge habe ich mir solche sich selbst duplizierenden Moleküle ausgedacht und im Labor hergestellt. An ihrem Beispiel hoffen wir etwas darüber zu lernen, wie das Leben entstanden sein könnte; denn aller Wahrscheinlichkeit nach nahm es seinen Ausgang von Molekülen, die sich selbst zu reproduzieren vermochten. Auch wenn unsere organischen Substanzen nicht in lebenden Systemen vorkommen, gewähren sie doch wesentliche Einblicke in die Prinzipien der Selbstreplikation.

Bedingungen der Selbstreplikation

All die in neuerer Zeit unternommenen Versuche, den Ursprung des Lebens nachzuvollziehen, gelten Ereignissen, die sich vor vielleicht 3,5 Milliarden Jahren auf der Erde abgespielt haben. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie die atmosphärischen und terrestrischen Bedingungen damals waren oder welches Molekül die Schwelle zwischen organischer Chemie und Biologie überschritt.

Im Jahre 1953 unternahm Stanley L. Miller, damals an der Universität Chicago, den wohl ersten Versuch, den Übergang zwischen toter Materie und Leben im Labor nachzuvollziehen. Er behandelte ein Gemisch aus Wasser, Methan, Ammoniak und Wasserstoff-Substanzen, von denen man glaubte, daß sie auf der jungen Erde vorkamen – mit elektrischen Entladungen und erhielt dabei Aminosäuren, also Grundbausteine der Proteine. Die Enträtselung der Struktur der Erbsubstanz DNA (Desoxyribonucleinsäure) durch James D. Watson und Francis H. C. Crick, ebenfalls im Jahre 1953, gab den Bestrebungen Millers und seiner Mitstreiter weiteren Auftrieb.

Seit jener Zeit stellt man sich den Schauplatz, auf dem der Ursprung des Lebens stattfand, gewöhnlich als weder saure noch basische lauwarme wäßrige Brühe vor, die abgesehen von DNA oder RNA (Ribonucleinsäure) lediglich solche Stoffe enthielt, die mutmaßliche Bestandteile der primitiven Erdatmosphäre waren oder daraus durch natürliche Prozesse entstehen konnten. Den Pionieren der präbiotischen Chemie wie Miller und Leslie E. Orgel von der Universität von Kalifornien in San Diego verdanken wir tiefe Einblicke in die molekulare Replikation unter diesen Bedingungen. Heute entstehen durch genau die gleichen Prozesse, gesteuert von vielerlei Enzymen, tagtäglich unzählige Tonnen DNA in lebenden Organismen.

Nach jüngsten Forschungsergebnissen aber war die junge Erde vielleicht doch kein so gastlicher Ort, wie das Bild des warmen Tümpels suggeriert (Spektrum der Wissenschaft, April 1991, Seite 78).

Deshalb und weil letzthin Organismen entdeckt worden sind, die unter extremen Bedingungen – bei Temperaturen, die buchstäblich das Blut gerinnen lassen, oder in der Nähe vulkanischer Schwefelquellen auf dem Boden der Tiefsee – existieren, werden inzwischen auch völlig andere Wege zum Leben diskutiert. Die wohl einzigen unabdingbaren Voraussetzungen für die Tauglichkeit von Molekülen als Vorläufer der ersten, primitiven Organismen hat vielleicht Richard Dawkins in zwei bemerkenswerten Büchern ("Der blinde Uhrmacher" und "Das egoistische Gen") bereits vor 15 Jahren beschrieben; seine Skizzen nehmen jedenfalls in erstaunlichem Maße die Ergebnisse meiner eigenen Arbeiten zur Selbstreplikation in den vergangenen vier Jahren vorweg.

Moleküle, gleich ob natürlicher oder synthetischer Herkunft, können sich dann selbst kopieren, wenn sie in Form und chemischen Eigenschaften zueinander komplementär sind. Das heißt, ein solches Molekül muß so geformt und derart mit anziehenden Atomen oder Atomgruppen entlang seiner Arme bestückt sein, daß es nahtlos mit einer Kopie seiner selbst samt deren chemischen Haken und Ösen zusammenpaßt. Die Paßgenauigkeit hängt also nicht allein von der räumlichen Struktur ab, sondern auch von der Art der diversen Bindungen, die zwischen den beiden Molekülen geknüpft werden und sie in Form eines Komplexes zusammenhalten können. Solche Komplexe entstehen und vergehen innerhalb von millionstel oder milliardstel Sekunden – sehr kurzen Zeiträumen nach menschlichem Maß, auf molekularer Ebene jedoch lang genug, daß währenddessen chemische Reaktionen ablaufen können.

Die Kräfte, die Molekülkomplexe zusammenhalten, sind um vieles schwächer als die kovalenten chemischen Bindungen, die Atome zu Molekülen verknüpfen. Zu ihnen gehört insbesondere die sogenannte Wasserstoffbrückenbindung. Sie entsteht dadurch, daß ein teilweise positiv geladenes Wasserstoffatom und beispielsweise ein schwach negativ geladenes Sauerstoff- oder Stickstoffatom sich elektrostatisch anziehen. Derartige Anziehungskräfte zwischen polarisierten Atomen nennt man allgemein polare Wechselwirkungen.

Noch um einiges schwächer ist die Vander-Waals-Anziehung. Sie beruht darauf, daß die Elektronen des einen Moleküls die eines anderen kurzzeitig verschieben können. Dadurch entsteht ein Ladungsungleichgewicht, das ebenfalls eine gegenseitige Anziehung bewirkt. Ein dritter Effekt ist die Stapelung von Aromaten – flachen organischen Ringmolekülen, deren Name daher rührt, daß sie oft angenehm duften. Sie tritt auf, wenn Lösungsmittel und Aromaten sich chemisch schlecht vertragen. Indem die Ringe sich übereinanderschichten, können sie die Lösungsmittelmoleküle zwischen sich herausdrängen und so eine stabilere Anordnung erreichen.

Verkoppelung nach Schablone

Sobald sich ein Komplex gebildet hat sind die aneinanderliegenden Moleküloberflächen gegen Lösungsmittel und darin enthaltene Säuren, Basen oder Oxidationsmittel ziemlich gut abgeschirmt und dadurch vor Zerstörung geschützt. Den bis dahin nur schwach verbundenen Komponenten bleibt also Zeit, sich durch starke kovalente Bindungen dauerhaft miteinander zu verknüpfen. Manchmal verbinden sich dabei nur zwei von drei Molekülen in einem Komplex, während das dritte diesen Vorgang nur gleichsam als Kuppler fördert.

Eine derartige Verkoppelung ist eine recht verbreitete Replikationsmethode, welche die Natur auch bei der DNA verwendet. Sie läßt sich auf einfache Weise anhand konkaver und konvexer Formen veranschaulichen (Bild 2). Eine konkave Moleküloberfläche – mit entsprechend anziehenden Atomen gespickt- vermag ihr konvexes Gegenstück zu erkennen und zu umfassen. Zugleich eignet sie sich als Hohlform, in der das konvexe Komplement aus seinen Bausteinen zusammengelügt wird. Umgekehrt kann die konvexe Oberfläche als Schablone dienen, auf der die Bestandteile der konkaven Oberfläche passend zusammengestellt und miteinander verknüpft werden. Diese beiden Replikationsschritte – jedes der Moleküle fertigt sein komplementäres Gegenstück an – bilden zusammen einen sogenannten Bizyklus (Bild 3). Unsere jüngsten Experimente deuten darauf hin, daß ein solcher Bizyklus äußerst effizient sein kann.

Es gibt freilich auch ein alternatives Replikationsmuster: Zwei komplementäre Moleküle können sich an einer Stelle außerhalb ihrer Berührungs- oder Erkennungsfläche miteinander verbinden. Dabei entsteht ein neues Molekül mit zwei zueinander komplementären Enden, das als ganzes zugleich zu sich selbst komplementär ist (Bild 4). Die Erkennungsflächen an seinen Enden sind dann für andere Moleküle zugänglich. Dort können sich beispielsweise Fragmente anlagern, die jeweils mit dem Baustein am entgegengesetzten Ende des selbstkomplementären Moleküls identisch sind.

Haben die beiden Fragmente erst einmal angedockt, vermögen sie sich nicht mehr frei und unabhängig voneinander zu bewegen, sondern driften gemeinsam durch die Lösung. Ihre erzwungene räumliche Nähe erhöht die Wahrscheinlichkeit beträchtlich, daß sie sich nun ihrerseits außerhalb der Erkennungsfläche miteinander verknüpfen. Auf diese Weise erstellt die selbstkomplementäre Einheit eine Kopie von sich selbst – und nachdem diese sich von ihr abgelöst hat, nach und nach viele weitere Kopien. Enzyme sind für diesen Vorgang nicht erforderlich; das Molekül katalysiert seine eigene Herstellung.

Erste Versuche und Erfolge

Nach diesem Rezept haben wir im Labor Moleküle synthetisiert, die ähnlich wie ihre Pendants in Lebewesen mit Kopien von sich selbst reagieren können. Darunter befinden sich auch Substanzen, die eine entfernte Ähnlichkeit mit genetischem Material aufweisen – und zwar mit einem bestimmten Nucleinsäurebaustein, den man als Adenin bezeichnet. Er hat eine flache Struktur und enthält Wasserstoff und Stickstoffatome, die mit den Sauerstoff- und Wasserstoffatomen von anderen Molekülen – beispielsweise einem sogenannten Imid (-CO-NH-CO-) Wasserstoffbrückenbindungen ausbilden können.

Als komplementären Partner verwenden wir ein Konstrukt aus einem Aromaten und dem Imid der von Daniel S. Kemp am MIT erstmals synthetisierten und nach ihm benannten Trisäure; das ist ein gewelltes Molekül, dessen Kohlenstoffgerüst sich so wölbt, daß man daraus leicht große konkave Strukturen erzeugen kann. In dem Molekül hängt somit ein Wasserstoffbrückenzentrum wie an einem Haken über einer aromatischen Stapelfläche. Diese Struktur paßt genau zu dem entsprechenden Zentrum und der gleichfalls flachen, zum Stapeln geeigneten Oberfläche des Adenins.

Wenn sich das von uns mit einem Anhängsel versehene Adenin und das mit dem Aromaten gekoppelte Imid in einem Komplex zusammenlagern, bildet sich zwischen dem Aromaten und dem Adenin-Anhängsel eine kovalente Bindung, und es entsteht – wie beschrieben – ein selbstkomplementäres Molekül. Unsere ersten Versuche, es zur Selbstreplikation zu bringen, scheiterten allerdings an seinem unerwarteten Mangel an Steifheit. Obwohl ein gewisses Maß an Biegsamkeit beim molekularen Erkennungsvorgang hilft – wie man ja auch leichter in einen Gummistiefel schlüpfen kann als in einen aus Leder-, ist zuviel Flexibilität von Übel; versuchen Sie nur einmal, einen Strumpf ohne Hilfe der Hände anzuziehen.

Moleküle sind dann besonders flexibel, wenn sie Einfachbindungen enthalten (die von nur einem Elektronenpaar gebildet werden). Auf diese Weise verknüpfte Atomgruppen können sich beliebig gegeneinander verdrehen, was zahlreiche Molekülformen ermöglicht. Als mein Doktorand Tjama Tjivikua Adenin und Imid kovalent miteinander verknüpfte, benutzte er als Bindeglieder einfache Ketten aus Kohlenstoffatomen. Sie waren so lang und biegsam, daß die resultierende selbstkomplementäre Struktur sich wie ein Klappmesser einfach zusammenfaltete. Weil das Adenin perfekt in das Imid hineinpaßte, genügte das Molekül sich selbst und zeigte keine Tendenz mehr, andere Moleküle anzulagern oder sich gar zu replizieren.

Glücklicherweise war dieser Mangel ziemlich leicht zu beheben. Man mußte nur ein größeres und steiferes Molekül anstelle der Kohlenstoffkette einsetzen, um das Zusammenklappen zu verhindern. Wir entschieden uns für eine ausgedehntere Stapelfläche in Form von Naphthalin (in dem zwei sechseckige aromatische Benzolringe über eine gemeinsame Kante steif verbunden sind) sowie ein weniger flexibles Anhängsel am Adenin, das als Bindeglied zum Imid dienen sollte, nämlich eine zyklische Ribose-Gruppe (Bild 1).

An diesem neuen, J-förmigen Adeninribosenaphthalinimid, das wir kurz ARNI nannten, konnten wir zum ersten Mal eine selbsttätige Vermehrung beobachten. Dazu benutzten Tjivikua sowie der Gastwissenschaftler Pablo Ballester die Hochdruck-Flüssigkeits-Chromatographie, mit welcher sich selbst minimalste Änderungen in der Konzentration chemischer Substanzen feststellen lassen. Sie verglichen eine Lösung, die nur die beiden unverbundenen Komponenten von ARNI enthielt, mit einer, der eine gewisse Menge des vollständigen Moleküls zugesetzt worden war. Daß sich in Gegenwart von ARNI dessen Bildungsgeschwindigkeit erhöhte, war ein klarer Hinweis auf Selbstreplikation.

Trägt man in einem Diagramm die Konzentration eines Reaktionsprodukts, das beispielsweise aus zwei Reaktanden gebildet wird, gegen die Reaktionszeit auf, so erhält man im allgemeinen eine Kurve, die dem Ast einer liegenden Parabel ähnelt. Zu Beginn, wenn die Konzentration der Reaktanden am höchsten ist, läuft die Umsetzung nämlich am schnellsten ab; allmählich verlangsamt sie sich dann in dem Maße, wie die Ausgangssubstanzen verbraucht werden. Bei einer autokatalytischen Reaktion, bei der wie bei ARNI das Produkt seine eigene Bildung katalysiert, sollte die Wachstumskurve dagegen S-förmig sein (Bild 5). Die Umsetzung beginnt in diesem Falle langsam. Erst wenn nennenswerte Mengen des Produkts entstanden sind, setzt die Autokatalyse ein, und die Reaktion beschleunigt sich. Die Wachstumskurve steigt dann steil an, flacht aber auch hier schließlich wieder ab, wenn die Reaktanden zur Neige gehen. Im Jahre 1990 haben Günther von Kiedrowski und seine Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen bei einer Nucleinsäure eine solche S-förmige Wachstumskurve beobachtet und damit die autokatalytische Bildung des Moleküls durch Selbstreplikation nachgewiesen.

Wie ausgeprägt die S-Form der Produkt-Zeit-Kurve ist, hängt allerdings von mehreren Faktoren ab, vor allem von der Effizienz des autokatalytischen Reaktionsschrittes. Wenn die Hintergrundreaktion – die direkte Kombination der Reaktanden ohne Hilfe des selbstreplizierenden Moleküls – zu schnell abläuft, kann sie den Einfluß der Replikation überdecken. Aus diesem Grunde vermochten wir bei ARNI noch keine S-förmige Wachstumskurve zu beobachten.

Das gelang uns erst bei unserem nächsten Molekül namens ARBI. Wir verlangsamten die Hintergrundreaktion, indem wir anstelle des Naphthalins ein etwas längeres Stapelelement einführten: ein Biphenyl, bei dem die beiden Benzolringe nicht über eine gemeinsame Kante, sondern über eine Einfachbindung zwischen zwei Ecken verknüpft sind. Damit hatten wir schließlich ein echtes synthetisches selbstreplizierendes Molekül.


Evolutiver Wettstreit im Reagenzglas

Ist dieses Retortenprodukt lebendig? Nach gängigen Vorstellungen sicherlich nicht. Außerdem wiesen unsere (oder vielmehr seine) Kritiker schnell auf eine grundlegende Unzulänglichkeit hin: ARNI könne ausschließlich exakte Kopien von sich selbst anfertigen; Evolution setze aber voraus, daß ein selbstreplizierendes Molekül ab und zu Fehler mache, bei denen leicht abgewandelte Moleküle entstehen, die vielleicht bessere Replikatoren sind als das Original. Wir reagierten auf den Einwand, indem wir Moleküle entwarfen, die nicht nur Fehler machen konnten, sondern sogar unfähig waren, es nicht zu tun.

Ein Fehler in der organischen Chemie bedeutet, daß ein falsches Molekül entsteht, weil die Selektivität zwischen den Reaktionspartnern nicht hoch genug ist, daß sie immer ausschließlich zum gleichen Produkt reagieren. Wir brauchten demnach Moleküle, die nicht nur ihre eigene Bildung katalysierten, sondern auch die von Varianten. Außerdem mußte mindestens eine der Substanzen imstande sein, sich in einen Replikator mit besseren Reproduktionseigenschaften zu verwandeln.

Ein Molekül zu veranlassen, auch Kopien eines Rivalen herzustellen, ist nicht allzu schwer. Ihm die Fähigkeit zur Evolution zu verleihen, stellt dagegen wesentlich höhere Anforderungen. Auf unserer Suche nach einer Lösung stießen wir auf interessante frühere Ergebnisse über die Wasserstoffbrückenzentren von Adenin. Demzufolge kann sich das Imid an zwei verschiedenen Stellen an das Adenin anlagern: an der Watson-Crick-Kante – wie bei der normalen DNA-Replikation – oder aber an der Hoogsteen-Kante, welche in der DNA üblicherweise freiliegt und lediglich bei so exotischen Formen wie einer Dreifachhelix mitbenutzt wird.

Wir hatten bereits festgestellt, daß unsere Imide bei einfachen Adeninen an beide Kanten andocken können. Zum Beispiel bilden sich mit einem Imid, das an Naphthalin gebunden ist, annähernd gleich viele Watson-Crick- und Hoogsteen-Komplexe. Ersetzt man aber eines der beiden Wasserstoffatome in der Aminogruppe des Adenins (NH2), die maßgeblich an der Wasserstoffbrückenbindung beteiligt ist, durch eine größere Atomgruppierung, dann ändert sich die Situation. Die neue Gruppe richtet sich so aus, daß sie den Zugang zur Watson-Crick-Kante blockiert, wohingegen die Hoogsteen-Kante weitgehend frei bleibt. Mit einer relativ kleinen Methylgruppe statt eines Wasserstoffatoms etwa lagern sich bereits mehr als 85 Prozent unserer synthetischen Imidrezeptoren an der Hoogsteen-Kante an.

Wir entschlossen uns deshalb, die Änderung der Replikationsgeschwindigkeit auszunutzen, die aus der Blockade der Watson-Crick-Kante resultiert. Dementsprechend stellten wir zwei unterschiedliche Adenine her. Bei dem einen führten wir für das Wasserstoffatom eine Benzyloxycarbonyl-Gruppe (OC-O-CH2-C6H5, früher Carbobenzoxy genannt) ein, die bei der künstlichen Synthese von Proteinen vielfach als Schutzgruppe verwendet wird; sie sei hier schlicht als ZGruppe bezeichnet. Das andere Adenin erhielt den gleichen Zusatz, allerdings erweitert um eine Nitrogruppe (NO2), woraus sich das Kürzel Z-NO2 ergibt (Bild 6).

Damit wurde zum einen die Bedingung erfüllt, daß ein Molekül nicht nur seine eigene Replikation, sondern auch die Synthese des jeweils anderen katalysiert. Weil sich nämlich die Blockiergruppen nur an ihrem äußeren Ende unterscheiden, das ziemlich weit von der zu knüpfenden kovalenten Bindung entfernt liegt, wäre es beispielsweise für die Z-Gruppe eines Schablonen-Moleküls bedeutungslos, ob die Blockiergruppe des angedockten Adenins am anderen Ende auch eine Zoder eine Z-NO2-Gruppe ist: Die Synthese läuft unabhängig von der Identität dieser Gruppen ab.

Andererseits wäre wegen der Blockade der Watson-Crick-Kante die Bildung von Wasserstoffbrücken auf die Hoogsteen-Kante beschränkt. Deshalb sollten die modifizierten Replikatoren ZARBI und ZNARBI – aus Adeninen mit beziehungsweise Z-NO2-Gruppen synthetisiert – sich generell nur relativ langsam reproduzieren. Hierbei kommt nun eine Eigenheit der Z-NO2-Gruppe ins Spiel. Wie man schon seit 30 Jahren weiß, läßt sie sich leicht durch Bestrahlung mit U1traviolett-Licht bestimmter Wellenlängen entfernen. Nach ihrer Abspaltung aber liegt die Watson-Crick-Kante frei. Das neue, leichtere Molekül kann somit sowohl an dieser als auch an der Hoogs-teen-Kante Wasserstoffbrücken bilden und sollte deshalb – so hofften wir – doppelt so reproduktionsfreudig sein wie das Ausgangsmolekül.

Um die Probe aufs Exempel zu machen, unterwarfen wir die Adenine mit Z- oder Z-NO2-Gruppen unserem Standardtest auf Selbstreplikation. Wenn wir sie mit dem Biphenylrezeptor zu ZARBI oder ZNARBI verkoppelten, verhielten sich die resultierenden Moleküle in der Tat wie Replikatoren – wenn auch nicht wie sonderlich wirksame. Doch ihre Neigung, Fehler zu machen, entschädigte für ihre Behäbigkeit: ZARBI katalysierte sowohl die eigene Produktion als auch die seines Rivalen ZNARBI und umgekehrt.

Nun kam der große Augenblick, den Effekt einer chemischen Mutation zu erproben, also einer bleibenden Strukturänderung, welche den Kopiererfolg eines selbstreplizierenden Moleküls und damit seine Durchsetzungsfähigkeit gegenüber anderen in gleicher Weise beeinflußt wie eine Erbgutänderung die Überlebensfähigkeit eines Organismus. Abwandlungen eines molekularen Replikators können durch Variation der Temperatur, der Säurekonzentration oder des Salzgehaltes bewirkt werden. In unserem Falle verwendeten wir, wie erwähnt, ultraviolette Strahlung, die auch eine bedeutende Triebkraft der präbiotischen Evolution gewesen sein dürfte; denn die Atmosphäre der jungen Erde enthielt noch keinen Sauerstoff und mithin auch kein Ozon, das den UV-Anteil des Sonnenlichtes herausfilterte.

Erst schufen wir eine direkte Wettbewerbssituation: Mein Doktorand Qing Feng und der Gastwissenschaftler Jong-In Hong gaben ZARBI und ZNARBI in eine Lösung, die reichlich Adeninderivate mit Z- und Z-NO2-Gruppen, aber nur eine begrenzte Menge an Biphenylimid enthielt, und gaben ihnen Gelegenheit, sich zu vermehren. Dabei erwies sich ZNARBI als der etwas bessere Replikator. Nachdem das Imid verbraucht war, bestrahlten wir das Reaktionsgefäß einige Stunden mit UVLicht von 350 Nanometern (millionstel Millimetern) Wellenlänge. Danach waren sämtliche Z-NO2-Gruppen sowohl aus den ZNARBI-Replikatoren als auch den verbliebenen Adeninvorläufern entfernt. Eine Mutation hatte stattgefunden, ausgelöst durch eine Änderung der Umwelt. Die ZNARBI- waren dadurch zu ARBI-Molekülen geworden, und die Z-NO2-Adenine hatten ihren Substituenten an der Aminogruppe verloren. ZARBI und Z-Adenin waren dagegen unverändert geblieben.

Als nächstes fügten wir wieder Biphenylimid hinzu. Jetzt war ARBI der Konkurrent von ZARBI. Da es in beiden Positionen sowohl an der Watson-Crickals auch der Hoogsteen-Kante replizieren konnte, schnappte es ZARBI binnen kurzem alle Imidmoleküle weg.

Dieses Experiment läßt sich als einfacher Evolutionsprozeß deuten. Man stelle sich ZARBI als Ausgangsmolekül vor. Zu seiner Replikation benötigt es Z-Adenin und Biphenylimid. Durch Zugabe von Salpetersäure wird zunächst ein Teil der Z-Adenine in Z-NO2-Derivate umgewandelt, aus denen sich ZNARBI bildet. Dieses ist ein etwas besserer Replikator als sein Vorläufer ZARBI. Bestrahlt man das System nun, findet eine zweite dauerhafte Veränderung statt: Aus ZNARBI entsteht das noch effizientere ARBI, das der beste Replikator unter den drei Molekülen ist.

Rekombination zwischen Molekülen

Obwohl die Mutation als Hauptursache allen evolutionären Wandels gilt, können Veränderungen auch durch Rekombination zustande kommen. Dabei werden gleichartige Abschnitte zwischen DNA-Strängen ausgetauscht und so Teile der Erbinformation neu gemischt. Es gibt auch Computerprogramme, die sich auf analoge Weise selbst optimieren (siehe "Genetische Algorithmen" von John H. Holland, Spektrum der Wissenschaft, September 1992, Seite 44): Erlaubt man den Strängen von Bits (kleinsten Informationseinheiten), aus welchen sie bestehen, sich aufzuspalten und aus den Bruchstücken nach Zufallsgesetzen wiederum zusammenzusetzen, so erhält man unter gewissen Umständen schnell bessere Programme. Während die Mutation einzelne, kleine Veränderungen gestattet, entstehen durch Rekombination Hybride (Bastarde), die sich stark von ihren Vorläufern unterscheiden.

Um eine Rekombination auf molekularer Ebene zu verwirklichen, entwickelten wir zunächst eine neuartige Klasse selbstreplizierender Moleküle. Auch sie bestehen aus zwei komplementären Hälften, welche über eine kovalente Bindung zu einem selbstkomplementären Gebilde verknüpft sind. Die Grundlage bildet jedoch ein anderer Nucleinsäurebaustein: das Thymin.

Tae Kwo Park aus meiner Arbeitsgruppe hatte früher bereits einen U-förmigen Rezeptor synthetisiert, welcher den Imid-Abschnitt des Thymins erkennen und sich auf dessen flacher aromatischer Oberfläche anlagern kann. Der Boden des U besteht dabei aus einem großen aromatischen Abstandhalter namens Xanthen, dem Grundmolekül einer wichtigen Klasse von synthetischen Farbstoffen. Ein Ast des U wird von Ethylendiamin und der andere von Diaminotriazin gebildet; dieser dient zugleich als Rezeptor für das Thymin. Durch chemische Verkoppelung von Thymin mit dem U-förmigen Rezeptor entstand die selbstkomplementäre Einheit Diaminotriazinxanthenthymin oder kurz DIXT, die sich erwartungsgemäß als selbstreplizierend erwies.

Damit waren die Voraussetzungen für ein Rekombinationsexperiment geschaffen. Würden die auf Adenin beruhenden Replikatoren und die auf Thyminbasis ihre Bestandteile neu arrangieren, wenn man sie gemeinsam in Lösung brachte? Sie taten es wirklich. Dennoch waren die Ergebnisse überraschend. Eine der beiden Rekombinanten, ART (Adeninribosethymin), erwies sich als der fruchtbarste Replikator, der uns bis dahin untergekommen war, wohingegen der andere, DIXBI (Diaminotriazinxanthenbiphenylimid), sozusagen steril, also gar nicht imstande war, sich selbst zu kopieren.

Woher kam dieser Unterschied? Die Effizienz von ART nimmt kaum wunder sieht es doch ziemlich genauso aus wie ein Teilstück der DNA, dem wohl besten Replikator, den es gibt. Hinzu kommt, daß die Ribosegruppe die Erkennungsoberflächen parallel ausrichtet, so daß sie optimal zusammenpassen. In Verbindung mit der hohen Affinität zwischen Adenin und seinem Komplement Thymin erleichtert dies die Komplexbildung und damit den ersten Replikationsschritt enorm.

Die Replikationsunfähigkeit von DIXBI läßt sich gleichfalls auf die Form des Moleküls zurückführen. Es besteht aus zwei U-förmigen Hälften, die über eine starre Biphenylbrücke verkoppelt sind. Das Gesamtmolekül ist somit entweder C- oder S-förmig. In der C-Form liegen die Erkennungsoberflächen im Inneren der konkaven Wölbung, wo nicht genügend Platz für den replizierenden Komplex ist; in der S-Form sind sie hingegen so weit voneinander entfernt, daß die komplementären Komponenten nach ihrer Anlagerung wegen ihres zu großen Abstands keine kovalente Bindung eingehen können.

Dieses Experiment erwies, daß ein relativ kleines Sortiment von Molekülen bereits einen Stammbaum von Replikatoren hervorbringen kann (siehe Kasten auf Seite 71). Drei Mitglieder vermögen sich mehr oder weniger gut selbst zu reproduzieren, während ein Zweig ausstirbt. Will man die Analogie weiter treiben, kann man sich vorstellen, daß das sterile Molekül in Stücke zerteilt wird, die den erfolgreichen Replikatoren wieder als Bausteine dienen. Auch in dieser Richtung haben wir einige Fortschritte gemacht. Dazu muß man die Moleküle mit Säure- und Basengruppen ausstatten, mit denen sie andere Moleküle aktiver manipulieren können, als es der einfache Erkennungsprozeß erlaubt.

Ein molekularer Tennisball

Nachdem es gelungen ist, Replikation und sogar Evolution an synthetischen Molekülen nachzuvollziehen, befassen wir uns bereits mit dem nächsten Schritt auf dem Weg zu lebensähnlichen Systemen im Reagenzglas. Wie andere Forscher glauben wir, daß ein wesentliches Merkmal des Lebens eine physische Begrenzung ist, die wie die Zellmembran das Innen vom Außen trennt und erwünschte Moleküle am Entweichen hindert, unerwünschte dagegen fernhält.

Viren haben eine Eiweißhülle als Behältnis, die aus vielen Kopien einer einzigen Proteineinheit aufgebaut ist. Diese Einheiten sind zwar auch selbstkomplementär, aber wegen der besonderen Orientierung ihrer Erkennungsoberflächen verbinden sie sich nicht paarweise, sondern lagern sich zu einer geschlossenen Hohlform zusammen. Viren sind auf diese Bauweise aus identischen Komponenten angewiesen, weil ihr Genom zu klein ist, als daß viele verschiedene Moleküle darin codiert sein könnten.

Dieses Beispiel brachte uns auf die Idee einer Hülle, die sich aus der kleinstmöglichen Anzahl selbstkomplementärer Moleküle von allein zusammenbaut. Sie müßte aussehen wie ein Tennisball (Bild 7). Wenn man ihn entlang seiner Naht aufschneidet, erhält man zwei identische Hälften, bei denen die konvexen Enden komplementär zu den konkaven Mittelteilen geformt sind. Unser Gastwissenschaftler Rene Wyler hat mittlerweile ein Molekül synthetisiert, welches ähnlich geformt ist wie Tennisballfragmente und gleichzeitig chemisch komplementäre Regionen aufweist: Wasserstoffbrücken entlang der Naht sorgen für den Zusammenhalt.

Es besteht die begründete Hoffnung, daß ein kleineres Molekül wie Chloroform (CHCl3) in diesen molekularen Tennisball hineinpaßt. Aber selbst unsere kompaktesten Replikatoren lassen sich darin nicht unterbringen. Darum arbeiten wir mit Javier de Mendeza von der Freien Universität Madrid momentan an einem größeren, wiederum aus zwei identischen Hälften zusammensetzbaren Molekül, dessen Inneres Platz genug für einige unserer Replikatoren bietet.

Auch wenn ein geeigneter Behälter gefunden ist, bleiben freilich immer noch immense Hindernisse auf dem Weg zu einem lebensähnlichen Molekülsystem. Wie kann unser synthetischer Organismus Energie aufnehmen – aus Sonnenlicht oder aus anderen Molekülen? Wie läßt sich der Nachschub an Bausteinen für Replikatoren und ihre Behälter sicherstellen? Dies sind Herausforderungen für das nächste Jahrzehnt. Gleich, ob man sie meistert oder nicht, die Anstrengungen der Chemiker werden in jedem Falle tiefere Einblicke in die organische Chemie des Lebens gewähren – wie es entstanden ist und welche Reaktionen es von seinen Anfangstagen bis heute aufrechterhalten haben.

Literaturhinweise

Chemical Evolution: Origin of the Elements, Molecules, and Living Systems. Von Stephen F. Mason. Clarendon Press, 1991.

Molecular Replication. Von Leslie Orgel in: Nature, Band 358, Heft 6383, Seiten 203 bis 209; 16. Juli 1992.

A Template for Life. Von Julius Rebek in: Chemistry in Britain, Band 30, Heft 4, Seiten 286 bis 290, April 1994.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1994, Seite 66
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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