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Künstliches Leben im PC

Ein neues Software-System realisiert zahlreiche Ideen aus der Forschungsrichtung künstliches Leben. Wesen von erstaunlicher Komplexität entstehen, agieren und vergehen in einem gewöhnlichen Personal Computer.

Was ist ein Norn? Auf den ersten Blick sieht es mit seinen übergroßen, eiförmigen Augen aus wie E. T., der sympathieerregende Außerirdische aus dem gleichnamigen Erfolgsfilm. Es ist nur deutlich kleiner, haariger und beweglicher. Wie ein junger Hund hüpft es herum, schaut neugierig nach allem, was sich bewegt, rennt darauf zu und verbrennt sich gelegentlich die Finger. Kein Wunder – es ist soeben erst aus dem Ei geschlüpft.

Das Ei wurde von auswärts geliefert, auf einer Diskette. Es wurde ausgebrütet in einem phantastischen Gerät, das gewisse Ähnlichkeiten mit einem Mikrowellenherd und einem chemischen Reaktionsgefäß hat. Und selbstverständlich ist alles – Ei, Brutkasten und die ganze Umgebung – virtuell: Die Welt dieser Kreaturen existiert nur in der abstrakten Form eines Computerprogramms. Allerdings wird sie mit Hilfe moderner Graphiksoftware in unmittelbar einleuchtende Bilder umgesetzt.

Es handelt sich um ein Computerspiel namens "Creatures", und zwar ein absolut jugendfreies: Es gibt keine feindlichen Raumschiffe oder Monster abzuknallen noch Stripperinnen zu entblößen. Der Paarungsakt zwischen Bewohnern der virtuellen Welt ist kurz und unspektakulär. Stellenweise sieht sie aus wie eine Öko-Idylle mit Abenteuerspielplatz: Ein Windrädchen dreht sich, Bienchen umsummen ihre Stöcke, Möhren und allerlei Kräuter wachsen vor sich hin, und eine romantische Seilbahn führt auf eine einsame Insel, auf der es allerlei zu entdecken gibt (Bild 1).

Der Benutzer hat auch keine vorgegebene Aufgabe zu erfüllen. Er kann jedoch mit einer Art göttlicher Hand (verkörpert durch die Computermaus) in das Geschehen eingreifen: Eier in den Brutkasten legen, die heranwachsenden Kunstwesen hegen und pflegen, sie etwa durch Streicheleinheiten und Schläge zum richtigen Verhalten erziehen, durch verschiedene Mittel ermuntern, sich mit ihresgleichen zu paaren, und vor giftigen Pflanzen, Bakterien und Grendels – nornähnlichen, aber bösartigen Wesen – schützen. Allerdings sollte er damit anfangen, wenn sie noch klein sind. Wenn ein Norn als Baby nicht gelernt hat, daß es die Hand aus der äußeren Welt zu beachten lohnt, wird es später jeden Fingerzeig schlicht ignorieren.

Das eigentliche Ziel des Spiels ist es auch nicht, etwa durch Zuchterfolge möglichst viele Punkte zu erzielen. Vielmehr zeichnet sich dieses Programm dadurch aus, daß es erstmals Konzepte aus der Forschungsrichtung künstliches Leben (artificial life, AL), die Wissenschaftler auf großen Arbeitsplatzcomputern (workstations) zu erproben pflegen, der Allgemeinheit verfügbar macht.

In einem üblichen Computerspiel läuft stets ein Algorithmus ab: Die Entwerfer haben jedes überhaupt mögliche Ereignis einschließlich dessen, was die benutzergeführte Figur tun kann, vorprogrammiert. Dabei gehen sie üblicherweise von einem komplexen Szenario aus und bringen es durch Zerlegen in eine Folge elementarer Einzelaktionen auf die Maschine. Im Gegensatz zu diesem Zugang von oben nach unten (top-down approach) pflegen die Verfechter des künstlichen Lebens von unten nach oben (bottom-up) zu denken: Komplexe Handlungsabläufe bis hin zum gesamten Leben eines künstlichen Wesens oder gar der Evolution einer Population in einem Ökosystem werden nicht explizit programmiert, sondern sollen sich aus möglichst wenigen elementaren Konzepten ergeben. Die Ameisen des AL-Forschers Chris Langton (Spektrum der Wissenschaft, August 1995, Seite 10) sind ein auf das Einfachste reduziertes Beispiel dafür.

Creatures

Am liebsten würden Langton und seine Fachkollegen so etwas wie digitale Ursuppe in ihre Computer füllen und dann einige Milliarden virtuelle Jahre warten, bis sich – hoffentlich – eine Vielfalt von Lebensformen entwickelt, die der auf der echten Erde vergleichbar ist. Das ist allerdings weit jenseits aller Möglichkeiten.

Demgegenüber stehen die Creatures – sowohl die vom Benutzer beeinflußbaren Norns als auch die autonomen Grendels – schon auf einer relativ hohen Entwicklungsstufe. Sie verfügen über so etwas wie ein Gehirn mit einer inneren Hierarchie einschließlich eines Gedächtnisses, eine Verdauung und einen reichhaltigen Hormonhaushalt; sie können – in einer sehr rudimentären Weise – sehen, hören und riechen, sind fähig, Wärme, Kälte und Schmerz zu empfinden, und es gelüstet sie, je nach Temperament, Vorgeschichte und aktueller Situation, nach Ruhe, Abwechslung, Nahrung oder dem anderen Geschlecht. Alle ihre Eigenschaften, vom äußeren Erscheinungsbild über Triebstruktur, Einzelheiten der mentalen und organischen Funktionen bis hin zu angeborenen Verhaltensmustern und der Anfälligkeit für verschiedene Infektionskrankheiten, sind in ihrem Erbgut festgelegt.

Das Leben einer solchen Kreatur währt 12 Stunden, und wenn es hochkommt, sind es 14 Stunden (nicht gerechnet die Zeit, während deren das Programm nicht läuft). Und wenn es köstlich gewesen ist, dann hat sie in dieser Zeit immerhin sechs verschiedene Lebensstadien mit jeweils verschiedenen Erscheinungs- und Verhaltensformen durchlaufen und vier bis sechs Eier gelegt (oder befruchtet).

Was ein Norn zu einem gegebenen Zeitpunkt tut, ist allerdings durch Vererbung und äußere Umstände keineswegs vollständig bestimmt; persönliche Erfahrungen und gegenwärtige Stimmungslage spielen entscheidend mit. Deswegen werden die Kreaturen ihre auswärtigen Beobachter immer wieder mit unerwarteten Aktionen überraschen.

Die Grundidee für das Programm stammt weder von einem AL-Forscher noch sonst einem professionellen Informatiker, sondern von einem Autodidakten, einem ehemaligen Lehrer namens Stephen Grand, der heute auf dem Lande im Südwesten Englands lebt. Über Seymour Paperts pädagogisches Computersystem "Logo" mit der algorithmisch programmierbaren Schildkröte (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1984, Seite 8) geriet er ans Programmieren und blieb dabei, auch als in der Folge die allgemeine Begeisterung für diesen Ansatz stark nachließ. Das Programm "Creatures" ist von der Firma Millenium in der Nähe von Cambridge (England) marktreif gemacht worden und wird von der Firma Warner Interactive Entertainment in einer englischen, einer deutschen und einer französischen Version vertrieben (siehe Anzeige Seite 19).

Bei aller wissenschaftlichen Motivation sollte ein Produkt herauskommen, an dem der Kunde seinen Spaß haben kann. Dafür waren gewisse Abweichungen von der strengen AL-Philosophie unvermeidlich. So ist die künstliche Welt der Kreaturen mit Bedacht sehr überlebensfreundlich eingerichtet. Es müssen schon sehr viele ungünstige Umstände zusammenkommen, ehe alle Norns verhungern, weil sie alles Nahrhafte aufgefressen haben. Die Nornbabys brauchen auch nicht alles von Grund auf durch Versuch und Irrtum zu lernen. Gewisse Verhaltensweisen (Instinkte genannt) sind ihnen angeboren, zum Beispiel jeden erreichbaren Gegenstand in den Mund zu stecken (wobei sie mit großer Wahrscheinlichkeit auch Nahrhaftes erwischen), und werden erst später durch erlerntes Verhalten ersetzt. Und der Schöpfer der künstlichen Welt hat in seiner Weisheit die Kaffekanne, die Schnapsflasche und die Früchte des Zitronenbaums so hoch angeordnet, daß die Kleinen nicht hinlangen können.

Andererseits gibt es außer der Nahrungsknappheit noch andere Mechanismen gegen Übervölkerung. Zahlreiche Bakterien schwirren umher; ein erkranktes Norn kann ein anderes durch Husten oder Niesen anstecken, und wenn es nicht rechtzeitig das richtige Kräutlein verzehrt, stirbt es am Fieber. Der Spieler kann freilich seine Schützlinge von Gefahren weglocken oder ihnen geeignete Medizin verabreichen.

Auch der Mechanismus der Vererbung ist zwar dem natürlichen Vorbild nachempfunden, weicht aber in Einzelheiten erheblich davon ab. Die meisten Mutationen sind nicht tödlich. Dank geeigneter Codierung kann der Strang der Erbinformationen, der während der Lebenszeit des Individuums als ein spezieller Programmcode interpretiert wird, auch nach Mutationen nie einen Grammatikfehler enthalten. Grand verwendet hier Ideen aus der Technik der genetischen Algorithmen, bei der zu Optimierungszwecken Programmstücke ähnlich variiert und rekombiniert werden, wie das in der natürlichen Evolution mit echtem genetischem Code geschieht (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, September 1992, Seite 44).

Bei der Paarung findet auch crossing-over statt: Väterlicher und mütterlicher Erbgutstrang werden gleichsam nebeneinandergelegt, an gewissen Stellen gemeinsam gebrochen und andersherum wieder zusammengesetzt. Dadurch erhält das Kind eine Mischung der Eigenschaften beider Eltern. Dicht nebeneinanderliegende Merkmale werden eher gemeinsam vererbt als weit voneinander entfernte. Wie bei echten Lebewesen hat Grand die erblichen Merkmale seiner Geschöpfe bunt durchmischt auf dem Strang angeordnet; durch räumliche Nähe werden also Eigenschaften eng verkoppelt, die an sich nichts miteinander zu tun haben. Vielleicht erkennt man nach etlichen Generationen einen besonders aggressiven Norn-Typ zuverlässig an der tiefblauen Gesichtsfarbe.

Wenn die Bruchstellen beim natürlichen crossing-over einander nicht genau entsprechen, können einzelne Gene verdoppelt werden oder ganz ausfallen. Das kann auch mit dem digitalen Erbgut der Kreaturen geschehen; nur sind etliche lebenswichtige Gene gegen Mutation, Ausfall und Verdoppelung gesperrt, damit der Benutzer sich an entsprechend mehr gesundem Nachwuchs erfreuen kann. Zur Vereinfachung der Situation ist das Erbgut der künstlichen Wesen einzelsträngig (haploid); in männlichen und weiblichen Individuen sind die für das jeweils andere Geschlecht spezifischen Gene stumm, können aber in deren Kindern wieder wirksam werden.


Ein Blick hinter die Kulissen

Das Innenleben der Tierchen ist, ebenso wie die Ausstattung der künstlichen Welt, noch wesentlich reichhaltiger, als ich bisher beschrieben habe. Die meisten Gegenstände lernt der Benutzer erst allmählich kennen, wenn seine Schützlinge ihre Welt durchstreifen. Einige Eigenschaften machen sich erst nach sorgfältigem Beobachten und Vergleichen bemerkbar, etwa daß Stress das Leben eines Norns verkürzt.

Trotzdem reicht die Rechenkapazität eines gewöhnlichen PC aus, jede Zehntelsekunde aus dem bisherigen Zustand der Welt den neuen zu berechnen. Den größten Teil dieser Zeit verbraucht die graphische Darstellung des jeweils aktuellen Zustandes. Erst bei mehr als zehn Kreaturen gerät der Rechner an seine Grenzen. Wodurch gelingt es, mit beschränkten Möglichkeiten diese Vielfalt bereitzustellen?

Zunächst dadurch, daß die Welt nicht so kompliziert ist, wie es den Anschein hat (und wie sie eigentlich sein müßte): Sie ist im wesentlichen zweidimensional. Eine Kreatur hat auch nur ein sehr kleines Sortiment an Handlungsmöglichkeiten. Der Anschein der Vielfalt kommt dadurch zustande, daß eine Handlung namens "aktivieren", angewandt auf verschiedene Gegenstände, sehr Verschiedenes bedeuten kann: eine Möhre fressen, Kaffee trinken, eine Seilbahn oder ein Unterseeboot in Betrieb setzen oder den Brutkasten einschalten.

Der Wahrnehmungsapparat einer Kreatur ist aufs äußerste vereinfacht. Informationen von außen erreichen ihr Gehirn bereits in sehr abstrakter Form: Ein Objekt sendet eine Nachricht in Form einiger Bits, wenn es in ihrem Blickfeld auftaucht, sich bewegt oder sonstwie verändert. Man spricht mit einer Kreatur, indem man ein Wort über die Tastatur des Computers eintippt.

Ein Norn kann einige Wörter lernen; aber das heißt nur, daß in seinem Gehirn entsprechend viele Plätze für Namen von Gegenständen und Tätigkeiten vorgesehen sind. Wenn ein Norn häufig genug gleichzeitig mit einem Gegenstand oder einer Aktion ein Wort wahrnimmt, ist dieses als Name in seinem Gehirn gespeichert. Wer seine Kreaturen nicht selber trainieren will, kann das einer Lernmaschine überlassen, die ebenfalls zum Inventar gehört. Immerhin ist diese primitive Verb-Objekt-Sprache zur Informationsübermittlung unter Kreaturen geeignet: Sie vermögen Namen zu lernen, indem sie einander zuhören. So kann eine Art Primitivsprache von Generation zu Generation weitergereicht werden.

Die beiden zentralen Elemente, die das Leben eines Norns bestimmen, sind einerseits sein Gehirn, andererseits eine Sammlung von Größen, die seinen Stoffwechsel und sein Gemütsleben beherrschen. Das Gehirn ist ein neuronales Netz aus 1000 künstlichen Neuronen (die Zahl ist genetisch bestimmt und kann sich bei den Nachkommen durch Mutation ändern); selbst diese bescheidene Anzahl ist noch in Gruppen verschiedener Funktion eingeteilt (siehe Kasten Seite 18). Das Gehirn ist fähig, Regelmäßigkeiten in den Ereignissen seiner Umgebung ausfindig zu machen und - implizit, wie bei neuronalen Netzen üblich – abzuspeichern. Zusammen mit jeder Situation speichert es auch Handlungen, die in dieser Situation erfolgreich waren, zum Beispiel ein dringendes Bedürfnis befriedigten oder Schmerz milderten.

Die Vorstellungen vom Gehirn einer Kreatur folgen weitgehend dem Behaviorismus – nicht weil die Schöpfer von dieser (weitgehend überholten) Theorie überzeugt wären, sondern weil diese eine extrem einfache Gehirnstruktur postuliert; das kam ihnen bei der extrem knappen Rechenzeit gerade recht. Demnach ist alles Verhalten zu erklären als bestimmt durch Erfahrungen, in denen das Individuum gelernt hat, vorteilhafte Reaktionen auf gewisse Situationen zu wiederholen und nachteilige zu meiden. Ein detailliertes Weltbild, innere Vorstellungen, Ziele und Strategien zur Verfolgung dieser Ziele seien entbehrlich.

Ein Norn, mit derart bescheidenen Geisteskräften ausgestattet, wird also nie auf die Idee kommen, planmäßig Möhren anzubauen oder seine Angebetete mit etwas zu verführen, das sie besonders gerne mag (wenngleich solches Verhalten ohne jede Vorplanung auf behavioristischem Wege zustande kommen kann). Immerhin haben die Kreaturen so etwas wie ein primitives Ortsgedächtnis: Sie wissen, wo es schon einmal etwas zu fressen gab, und steuern diesen Platz an, wenn sie Hunger haben.


Die Chemie muß stimmen

Der große Rest des Nornlebens – Verdauung, Ermüdung, Lust und Schmerz, Spaß und Aggressivität, Krankheit und Tod – wird von Kenngrößen bestimmt, die man sich als Konzentrationen chemischer Substanzen vorstellen kann. Sie tragen Namen wie Glucose, Glycogen oder Adrenalin, aber auch Hunger, Wärme oder Schläfrigkeit sowie Belohnung und Strafe (die man besser Erfolgs- und Mißerfolgsmelder nennen sollte). Im Rahmen des Modells kommt es indes nicht darauf an, ob man nun an ein Gefühl, an eine chemische Substanz, eine Temperatur oder an gar nichts denkt; wesentlich ist ein Satz von Reaktionsgleichungen, der zu jeder Substanz gehört.

Glucose ist dadurch definiert, daß sie aus Stärke entsteht, reversibel in Glycogen umgesetzt wird (eine vereinfachte Art von Fettdepot) und bei körperlicher Betätigung verbraucht wird (Bild 3 links). Außerdem setzt sie einen Stoff namens Hunger-- ("Hunger minus minus") frei, der seinerseits den Stoff Hunger abbaut. Schmerz läßt allmählich nach, das heißt, der zugehörige Stoff zerfällt, ohne daß etwas daraus entstünde außer einer gewissen Menge Zorn (Bild 3 rechts). Alkohol ist definiert als ein Stoff, der eine torkelnde Gangart verursacht und in erhöhte Aggressivität (bei männlichen Individuen) beziehungsweise erhöhte Paarungsbereitschaft (bei weiblichen) umgesetzt wird.

In jedem Zeittakt verändert sich die Menge jedes Stoffes um so viel, wie seine Reaktionsgleichungen angeben. Die Änderung ist, wie beim Massenwirkungsgesetz der Chemie, proportional der Konzentration aller miteinander reagierenden Substanzen. Der Proportionalitätsfaktor – die sogenannte Reaktionskonstante – ist so gewählt, daß sich plausibles Verhalten ergibt.

Programmintern ist jede chemische Substanz, ebenso wie jedes Neuron und jeder bewegliche Gegenstand, ein Objekt im Sinne der objektorientierten Programmierung: ein von den anderen unabhängiges Gebilde, das seine eigenen Rechenaufgaben selbständig durchführt, wenn es vom übergeordneten Programm, streng der Reihe nach, die Kontrolle zugewiesen bekommt. Die Abkapselung aller Objekte voneinander macht die Einführung neuer Objekte sehr einfach, denn dank der Konstruktion können die neuen die vorhandenen nicht stören.


Perspektiven

Die Hersteller des Computerspiels haben dafür gesorgt, daß die Norns sich verhalten wie muntere und zutrauliche Haustiere. Aber wegen der bottom-up-Konstruktion wissen auch sie nicht, was auf die Dauer noch dabei herauskommt.

Es gab schon unerwartete Beobachtungen: Zwei Norns spielen auf einmal Ball miteinander, offensichtlich weil beide entdeckt haben, daß ihnen das Spaß macht. Ein männliches Norn rennt über längerer Zeit hinter einem weiblichen her, aber sie läuft ihm davon, weil sie gerade alles andere im Sinn hat als das eine; schließlich trollt er sich und legt sich frustriert schlafen. Oder ein Benutzer findet, von der Mittagspause zurückgekehrt, eine erheblich vergrößerte Kinderschar auf dem Bildschirm vor: Eines der Wesen hatte entdeckt, daß es sich Spielgefährten und damit Abwechslung verschaffen konnte, indem es herumliegende Eier zur schnelleren Reifung in den Brutkasten legte.

Nach vielen Generationen auf vielen Computern sind Evolutionseffekte zu erwarten. Wahrscheinlich wird es Wesen geben, die dank Mutationen robuster oder fruchtbarer sind als ihre Vorfahren oder die bevorzugt gezüchtet werden, weil sie in irgendeiner Hinsicht besonders interessant sind. Da man Norns per e-mail verschicken kann, werden sie sich auch über das Internet verbreiten. Besonders exotische Tierchen kann man an den Hersteller des Programms senden, der voraussichtlich so etwas wie einen elektronischen Zoo einrichten wird.

Werden sich Inselpopulationen entwickeln? Werden die Norns kulturelle Traditionen begründen, indem die Kinder Wörter oder Verhaltensweisen durch Abschauen von den Eltern übernehmen? Werden getrennte Arten entstehen, so daß Angehörige zweier Populationen keine Kinder mehr miteinander haben können? Oder werden sich wegen der unvermeidlichen Realitätsferne des Modells doch unbiologische Entwicklungen ergeben?

Alle chemischen Reaktionsgleichungen sind mutierbare Bestandteile des Erbguts. Kein physikalisches Gesetz verhindert beispielsweise eine Mutation, durch die eine Kreatur dreimal so viel Glucose aus Glycogen macht wie zuvor. Damit hätte sie durch Umwandlung von Glucose in Glycogen und zurück einen unerschöpflichen Energievorrat zur Verfügung. Unsterblichkeit oder unbegrenzte Eierproduktion sind denkbar. Aber vielleicht werden sie sich, wie im wirklichen Leben, nicht durchsetzen.

In einem berühmt gewordenen Aufsatz hat der englische Mathematiker und Computer-Pionier Alan Turing (1912 bis 1954) zur Beantwortung der Frage, ob Maschinen denken könnten, einen Test vorgeschlagen: Wenn ein Beobachter in einem über Fernschreiber (heute würde man sagen Tastatur und Bildschirm) geführten Dialog nicht unterscheiden könne, ob sein Partner ein Mensch oder eine Maschine sei, dann sollte man einer Maschine am anderen Ende der Leitung mit demselben Recht Intelligenz zuschreiben wie einem Menschen. Wenn nun die künstlichen Kreaturen nachprüfbar alle Merkmale aufweisen, die man lebendigen Organismen zuzuschreiben pflegt, wie Abgrenzung von der Umgebung, Stoffwechsel, Vererbung und Evolution – müßte man sie dann nach derselben Logik nicht auch als lebendig anerkennen?

Literaturhinweise

- From Animals to Animats 3: Proceedings of the 3rd International Conference on the Simulation of Adaptive Behavior (SAB94). Herausgegeben von D. Cliff, P. Husbands, J.-A. Meyer und S. W. Wilson. MIT Press, 1994.

– Website des Herstellers Millenium Interactive: http://www.cyberlife.co.uk.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1996, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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