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Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Band II: Dorf und Stadt



Anspruch und Wirklichkeit – gerade zwischen Klappentext und Buchinhalt klaffen sie mitunter weit auseinander. Der Umschlag verspricht, das "facettenreiche Leben" in den Städten und den Dörfern "anschaulich und lebendig" vorzustellen. Richard van Dülmen, Professor für Neuere Geschichte in Saarbrücken, zielt damit auf ein aktuelles Publikumsinteresse an der Geschichte des täglichen Lebens der Vorfahren. Der Einfluß der neueren und immer noch tonangebenden französischen Forschung ist dabei unverkennbar, auch wenn im vorliegenden Werk nicht auf Philippe Ariès und Georges Duby und ihre "Geschichte des privaten Lebens" verwiesen wird (vergleiche die Rezensionen von Alwin Müller-Jerina und Marita Blattmann in Spektrum der Wissenschaft, Juli 1991, Seiten 120 und 121). Van Dülmen will "... so unmittelbar wie möglich von den damaligen Menschen" ausgehen, ihr Leben innerhalb der ständischen Lebensordnung rekonstruieren (Seite 9), stützt sich dabei allerdings ausschließlich auf die Sekundärliteratur, aus der er überwiegend auch die Quellen zitiert. Auf die Stufe des individuellen Lebens gelangt man so jedenfalls nur selten.

Eigentlich handelt es sich zunächst um eine Geschichte des Bauernstandes und des Agrarwesens, mit den bekannten Informationen über Ackerbau und Viehzucht, die häufig recht allgemein gehalten sind. So darf man sich aussuchen, ob der Acker "vor oder unmittelbar nach dem Säen" geeggt wurde. Und folgte das Düngen wirklich auf das Pflügen?

Über die Stadt erhält man ähnliche Informationen: Hausbau, Einwohnerzahlen, Schichten samt Unterschichten, Rechte und Pflichten. Auch hier wieder Fragen: Pflasterungen gab es doch schon seit dem späten Mittelalter, Hinrichtungen häufiger extra muros als auf dem Marktplatz? Die schönen Fassaden fehlten weder auf dem Dorf noch in der Stadt, doch daneben gab es immer doch allerlei Baufälliges?

Die eher eingestreuten Bilder lassen den Bezug vermissen: Das auf Seite 14 gebrachte Dorfbild zeigt gerade nicht das auf Seite 13 erwähnte obligatorische Tor. Wo im wesentlichen vom Frankfurt, Ansbach, Göttingen des 18. Jahrhunderts die Rede ist, zeigt das Bild dazu den Regensburger Inneren Rat von 1516. Im Rahmen der obrigkeitlichen Reglementierung steht kommentarlos, doch erklärungsbedürftig Bild 58: Brotkontrolle durch das Hausgrafenamt (gemeint: das Hansgrafenamt, eine Regensburger Besonderheit, ein Amt zur Gewerbeförderung wie -kontrolle).

Die weiteren Kapitel wie "Geselligkeit und Fest" und "Öffentliche Ordnung und soziale Konflikte" gehen gleichfalls über bislang Bekanntes nicht recht hinaus. Bei dem letztgenannten Thema kann sich van Dülmen immerhin auf eigene einschlägige Arbeiten beziehen. Was die Ständeordnung anbelangt, erhält man überwiegend allgemeine, wenig hilfreiche Informationen: "Der Status des einzelnen war abhängig von einer Vielzahl von Faktoren; er kann nicht auf eine Dimension reduziert werden" (Seite 181). Weitschweifige Sätze stehen neben informationsverdichteten.

Strenggenommen ist das keine Geschichte von Kultur und Alltag in Stadt und Dorf (selbst wenn man die problematischen Begriffe weit auslegt). Da stehen Nachrichten aus unterschiedlichen Orten und Zeiten nebeneinander, werden einzelne Punkte, keine Lebenszusammenhänge behandelt. Es fehlen Kommentare und Analysen, es fehlt auch die lebendige Darstellung. Der Leser erhält eine wissenschaftliche Draufsicht, die den gegenwärtigen deutschen Forschungsstand spiegelt. Das Bild der frühneuzeitlichen Menschen bleibt mehr als blaß.

Hier wirkt sich das gleiche Problem aus wie bei manch anderen "Alltagsgeschichten" auch: Der Markt ist günstig für ein derartiges Buch, doch für eine intensive Quellenarbeit ist offensichtlich nicht die Zeit. So wird zusammengetragen, was vorliegt – mit dem entsprechenden Ergebnis. Der "uneingeschränkt positiven" Zwischenbilanz der "Süddeutschen Zeitung" kann ich mich leider nicht anschließen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1994, Seite 123
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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