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Kunst und Physiognomik. Menschendeutung und Menschendarstellung im Abendland

DuMont, Köln 1994.
240 Seiten, DM 68,-.

Mit der Physiognomik, der Deutung äußerer Körperformen des Menschen, haben sich im Laufe der Jahrhunderte nicht nur Philosophen, Dichter, Anthropologen, Theologen und Mediziner, sondern auch Maler, Zeichner und Bildhauer auseinandergesetzt. Indem ein Künstler die Körperlichkeit wiedergibt, interpretiert er sie auch zugleich.

Dieses Wechselspiel steht im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes. Der Historiker und Kunsthistoriker Borrmann, Wissenschaftler beim Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege, zeichnet zunächst die Anfänge der Physiognomik in der Antike nach. Dann folgen das Mittelalter und die Renaissance, in der die Hinwendung zum Individuum eine Wiederaufwertung der physiognomischen Lehren zur Folge hatte. Auch auf die barocke Selbstdarstellung richtet sich der Blick des Autors. Einen inhaltlichen Schwerpunkt bilden dann Johann Caspar Lavater und das 18. Jahrhundert – ein Säkulum, in dem Silhouetten und Porträtminiaturen en vogue waren. Das Werk schließt mit der Frage, welchen Stellenwert die physiognomische Darstellung des Menschen im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit mittels Photographie, Film und Computer einnimmt.

Das herausragende Kapitel über das 18. Jahrhundert sei stellvertretend für die anderen Abschnitte ausführlicher besprochen. Der Zürcher Theologe Lavater (1741 bis 1801) verfaßte 1775 bis 1778 "Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe" – ein vierbändiges, epochemachendes Werk, das grundlegend ist für das Verständnis der damaligen Lehre. Lavater ging von der Idee aus, man könne insbesondere von den Gesichtszügen des Menschen auf seine Charaktereigenschaften schließen, vor allem auf das Temperament, auf moralische und intellektuelle Fähigkeiten. Das geistige Innere des Menschen habe, so betonte der fromme Gelehrte, einen Bezug zu Gott. In Lavaters Theologie ist der Mensch das irdische Ebenbild Gottes, und die Physiognomik bietet einen Weg, das göttliche Prinzip im Menschen zu erkennnen.

Die Physiognomik entfaltete im 18. Jahrhundert breiteste Wirkung und entwickelte sich auf diese Weise – wie Borrmann konzis herausarbeitet – zu einer Trivialform der Anthropologie, die tatsächlich praktiziert wurde. Zahlreiche Gelehrte und Dichter sowie weite Kreise des gebildeten Bürgertums beschäftigten sich damit, motiviert durch die aufklärerische Forderung, Sein und Wesen des Menschen mittels vernunftgemäßer Methodik zu erkunden und zu bewerten.

Bereits die Zeitgenossen Lavaters hatten dazu sehr konträre Ansichten. Die Kritiker aus dem Lager des Rationalismus hielten den Zusammenhang von körperlicher Erscheinung und seelischen Eigenschaften für spekulativ und unbeweisbar. Sie befürchteten einen Mißbrauch der Physiognomik; denn Form und Bildung des Gesichts würden keinesfalls auch etwas über den Charakter des jeweiligen Menschen aussagen. Insbesondere der aufgeklärte Physiker und Philosoph Georg Christoph Lichtenberg (1742 bis 1799) griff Lavater heftig an, denn ein Zusammenhang zwischen äußerer und innerer Beschaffenheit des Menschen war mit Methoden der aufklärerischen, empirischen Naturwissenschaft und Medizin nicht zu beweisen. Lichtenberg hatte noch einen weiteren, sehr persönlichen Grund für seine Haltung: seinen Buckel. Wer würde als körperlich Mißgestalteter auch noch aufgrund einer hypothetischen Analogie sich selbst einen schlechten Charakter zuschreiben?

Manch andere Kritiker der physiognomischen Lehre glaubten sich von ihr durchschaut, während viele sie begrüßten, bot sie doch vielleicht eine Möglichkeit, einen nicht gerade makellosen Charakter hinter der Fassade eines schönen Gesichts zu verbergen. In diesem Falle wurde das Deutungsverfahren als Mittel zum Zweck angesehen und in sein Gegenteil verkehrt. Kurioserweise wandten sich Lavater und Lichtenberg, um ihre unterschiedlichen physiognomischen Auffassungen im Bild darzustellen, an ein und denselben Künstler: Daniel Chodowiecki (1726 bis 1801).

Lavaters Physiognomik ist, wie Borrmann nachweist, nicht originell, sondern eingebunden in die Tradition der Beobachtung des menschlichen Gesichts und der menschlichen Gestalt. Andererseits entfalteten seine Lehren eine breite traditionsbildende Wirkung.

Als Beispiel nennt Borrmann den Mediziner Franz Joseph Gall (1758 bis 1828), der in seiner Schädel- oder Gehirnlehre (später Phrenologie genannt) die Hirnwindungen als "Hirnorgane" ansah, die jeweils materielle Basis einer psychischen Funktion seien. Gall verknüpfte somit Psychologie und vergleichende Anatomie. Er nahm 27 Hirnorgane an, die auch die Form des Schädels bestimmen sollten, so daß man aus dieser auf die seelischen Anlagen schließen könne. Das Schädelmessen war damals zu einem wichtigen diagnostischen Mittel avanciert und erlebte dann im Dritten Reich eine erschreckende Renaissance. Es ist dem Autor hoch anzurechnen, daß er im Kapitel über die Rassenideologie auch die negative Wirkungsgeschichte der Physiognomik darstellt.

Eine Auswahlbibliographie, zahlreiche Zitate aus zeitgenössischen Quellen, ausführliche Anmerkungen und ein exakt erarbeitetes Namenregister bürgen dafür, daß Borrmanns Buch – mit zahlreichen hervorragend wiedergegebenen Abbildungen versehen – auf das Interesse sowohl von Laien als auch von Wissenschaftlern stoßen wird.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1996, Seite 129
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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