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Ladungs- und Spindichtewellen: Modell für Selbstorganisation

In einigen Metallen bilden die Leitungselektronen gitterähnliche Strukturen, die sich nur noch als Ganzes bewegen. Ihre selbstorganisierte Kritizität macht sie zu idealen Modellen für komplexere Systeme – wie zum Beispiel für Erdbeben.

An einem heißen Julinachmittag ist die Mall, das Zentrum der amerikanischen Bundeshauptstadt Washington zwischen Kapitol und Potomac, voller Menschen. Kreuz und quer spazieren sie zwischen den Museen, den Denkmälern, Regierungsgebäuden und Cafés hin und her. Auf den Wegen des Parks und den anliegenden Avenuen scheinen die Touristen wahllos in alle Richtungen zu schlendern. Plötzlich ertönt ein Trommelwirbel. Die uniformierten Mitglieder einer Kapelle schaffen sich Platz und stellen sich in Reih und Glied auf. Selbst ein kleines Kind, das sich zwischen den Beinen der Trompeter vor seinen Eltern zu verstecken sucht, bringt die Ordnung nicht mehr durcheinander. Mit dem ersten klirrenden Beckenschlag marschieren die Musiker im Gleichschritt los.

Ähnlich ungeordnet wie die Menschen im Park bewegen sich die Leitungselektronen in normalen Metallen. Auch beim Abkühlen bis nahe an den absoluten Nullpunkt der Temperaturskala (null Kelvin oder -273,16 Grad Celsius) ändert sich an dieser Art der Bewegung zumeist nichts. In manchen Metallen jedoch ordnen sich die Elektronen – ähnlich den Mitgliedern der Kapelle – in regelmäßigen Mustern an (Bild 1).

Solche Ladungsdichtewellen hatte der in Berlin geborene und nach England emigrierte mathematische Physiker Rudolf E. Peierls Anfang der dreißiger Jahre erstmals theoretisch beschrieben; daß es noch eine ähnliche Erscheinung – Spindichtewellen – geben müsse, sagte Albert W. Overhauser, ein Mitarbeiter der Ford-Automobilwerke, in den sechziger Jahren voraus. Beide Phänomene wurden in den siebziger Jahren erstmals experimentell beobachtet.

Für eine kurze Zeit hielt man Ladungsdichtewellen sogar für den Auslöser der Supraleitung. Heute weiß man: Der Strom fließt widerstandslos, wenn sich jeweils zwei Elektronen zusammenlagern – die Musikanten also nicht als geschlossene Formation, sondern paarweise marschieren. Gleichwohl ist das Phänomen geordneter Elektronenbewegungen in Metallen seit Jahrzehnten Gegenstand der Forschung. Ladungsdichtewellen lassen sich vielleicht eines Tages als Kondensatoren mit einstellbarer Kapazität in elektronischen Schaltkreisen und als hochempfindliche Detektoren für elektromagnetische Strahlung einsetzen.

Legt man nämlich an einen Festkörper, in dem eine Ladungsdichtewelle vorhanden ist, eine geringe Gleichspannung an, geschieht zunächst gar nichts: Die Elektronen kleben quasi an ihrem Platz fest. Dadurch weisen Ladungsdichtewellen eine Dielektrizitätskonstante auf, die millionenfach größer ist als die von Halbleitern; folglich vermögen sie große Ladungsmengen zu speichern – eine Voraussetzung für den Einsatz als Kondensatoren.

Übersteigt die Spannung jedoch einen bestimmten Wert, setzen die Elektronen sich geschlossen in Bewegung, und es fließt plötzlich ein starker Strom. Anders als in gewöhnlichen Leitern steigt dieser Strom nicht proportional zur angelegten Spannung an, wie es das Ohmsche Gesetz beschreibt, sondern viel stärker. Zudem wird ein kleiner Teil des Gesamtstromes periodisch stärker und schwächer – und zwar auch dann, wenn die angelegte Gleichspannung konstant ist.

Des weiteren beginnen Ladungsdichtewellen sich selbst zu organisieren, wenn äußere Kräfte wirken. Der Begriff der selbstorganisierten Kritizität ist gerade bei Untersuchungen von Ladungsdichtewellen geprägt worden. Dieses Teilgebiet der Physik beschäftigt sich mit Bewegungen komplexer Systeme, zu denen etwa Sandhaufen oder Erdbebenzonen gehören (Spektrum der Wissenschaft, März 1991, Seite 62). Läßt man Sand auf eine ebene Oberfläche rieseln, bildet sich ein kegelförmiger Haufen. Seine Flanken sind so steil, daß sie bereits durch ein einziges zugefügtes Sandkorn ins Rutschen kommen können. In ähnlicher Weise bauen sich an den Rändern tektonischer Platten Spannungen auf, die sich plötzlich in einem verheerenden Erdbeben entladen. Auch bei Ladungsdichtewellen können bereits winzige Veränderungen des äußeren elektrischen Feldes drastische Auswirkungen haben. Man kann sie darum als einfaches Modellsystem nutzen, um Theorien der Selbstorganisation zu untersuchen.


Wellen in der Ladungsverteilung

Ursache der Ladungsdichtewellen sind die besonderen Wechselwirkungen zwischen den Leitungselektronen in einem Metall. Gewöhnlich wird die elektrostatische Abstoßung zwischen diesen negativ geladenen Teilchen durch die positiven Ionen (Atome, die ein oder mehrere Elektronen verloren haben) des Metallgitters ausgeglichen. In diesem Falle ist die Wechselwirkung zwischen den Elektronen gering, und sie bewegen sich wie die Menschenmenge im Washingtoner Park: Die Wahrscheinlichkeit, einen dieser freien Ladungsträger an einer bestimmten Stelle anzutreffen, ist überall gleich groß. Die Ladungsdichte ist mithin im gesamten Festkörper gleich (Bild 2 links). In einigen Materialien verändern die Elektronen jedoch das von den positiv geladenen Atomrümpfen gebildete Kristallgitter. Dies kann sich wiederum auf die Position eines anderen Elektrons auswirken – die Folge ist eine (indirekte) Wechselwirkung zwischen diesen Teilchen.

Oftmals bilden sich dabei Paare, die sich dann gegenseitig abstoßen (Kasten auf dieser Seite). Da jedes sich so weit wie möglich von allen anderen zu entfernen sucht, entsteht wie bei der Musikkapelle eine reihenförmige Struktur, so daß die Ladungen nicht mehr homogen im Kristall verteilt sind. Wegen der Welleneigenschaften der Elektronen ist ihr Aufenthaltsort aber nicht exakt bestimmbar, sondern sozusagen über einen gewissen Bereich verschmiert. Die Ladungen befinden sich deshalb nicht auf diskreten Positionen, sondern ihre Dichteverteilung gleicht eher einer wellenförmigen Straßenoberfläche – daher die Bezeichnung Ladungsdichtewelle (Bild 2 Mitte).

Elektronen weisen aber nicht nur eine Ladung auf, sondern auch einen Spin. Dieser ist ein magnetisches Moment, das zwei Orientierungen annehmen kann – entweder nach oben (up) oder nach unten (down). Weil sich Elektronen mit gleichem Spin abstoßen, suchen sie sich jeweils einen gemeinsamen Nachbarn mit entgegengesetztem Spin. Diese Wechselwirkung hat eine Spindichtewelle zur Folge, die gleichsam aus zwei um eine halbe Wellenlänge gegeneinander versetzten Ladungsdichtewellen (eine für jeden Spinzustand) besteht. Im Unterschied zu letzteren ist aber bei Spindichtewellen die Ladung gleichmäßig im Raum verteilt (Bild 2 rechts).

Die Wechselwirkung zwischen Elektronen und auch ihr quantenmechanischer Zustand hängen wesentlich davon ab, in welcher Weise ihre Bewegungen eingeschränkt sind. Im dreidimensionalen Raum vermögen sie einander leicht auszuweichen. Können sie sich hingegen nur entlang einer Kette aus Atomen bewegen, ist die Wechselwirkung stärker. Ladungs- und Spindichtewellen treten deshalb bevorzugt in solchen Materialien auf, in denen die Atome linear angeordnet sind. (Viele dieser Substanzen wurden in den frühen siebziger Jahren erstmals synthetisiert; Kasten Seite 68.) In einigen ziehen sich die Elektronenpaare gegenseitig an – und so bilden sie einen supraleitenden Zustand.

Chemiker erzeugen häufig Stoffe mit kettenähnlichen Strukturen, haben jedoch kaum Einfluß auf die Art der Elektron-Elektron-Wechselwirkungen. Es läßt sich darum nicht vorhersagen, ob in einem neuen Material Ladungs- oder Spindichtewellen auftreten oder ob es supraleitend wird.


Nachweismethoden

Die paarweise Anordnung der Elektronen erfolgt insbesondere bei niedrigen Temperaturen. Bei null Kelvin befinden sich alle in diesem Zustand und bilden eine wohlgeordnete Struktur. Bei höherer Temperatur trennen sich einige dieser Paare und regen andere ebenfalls zur Teilung an. Mit zunehmender Erwärmung verstärkt sich dieser Prozeß, bis nach Überschreiten eines kritischen Wertes – der Sprungtemperatur – schließlich alle Elektronen wieder frei sind: Das Material hat einen Phasenübergang durchlaufen (vergleichbar etwa dem Schmelzen von Eis zu Wasser) und weist nun wieder gewöhnliche metallische Eigenschaften auf.

Kühlt man das Material erneut ab, entsteht beim Unterschreiten der Sprungtemperatur eine Ladungsdichtewelle, und alle Elektronen bleiben quasi stecken. Weil schwache elektrische Felder nicht ausreichen, um sie wieder in Bewegung zu setzen, fließt kein Strom, so daß sich das Metall wie ein Isolator verhält. Diese abrupte Änderung der elektrischen Leitfähigkeit ist ein Indiz für die Ausbildung einer Ladungsdichtewelle.

Wesentlich direktere Beobachtungen ermöglichen Tunnelmikroskope, mit denen man die Ladungsdichte mit atomarer Auflösung bestimmen kann (Bild 1). Zudem geht eine Ladungsdichtewelle mit Verzerrungen des Metallgitters einher. Derartige Übergitter lassen sich mittels Röntgenstrahlen, die an den Ionen gestreut werden, sichtbar machen: Auf einem röntgensensitiven Film erhält man ein charakteristisches Beugungsmuster, aus dem sich der Abstand zwischen den Ionen errechnen läßt. Ist beispielsweise die Wellenlänge des Übergitters doppelt so groß wie die des Gitters, tauchen im Beugungsmuster zusätzliche Schwärzungspunkte in der Mitte zwischen denen des regulären Gitters auf. (Dabei ist der Schwärzungsgrad ein Maß für die Größe der Gitterstörung.) Erste Experimente dieser Art hatte in den siebziger Jahren die Arbeitsgruppe von Robert Comes in Paris durchgeführt.

Der Nachweis von Spindichtewellen ist erheblich schwieriger, weil sie weder die Ladungsverteilung ändern noch das Kristallgitter verzerren. Im Prinzip müßten sie mit einem magnetischen Kraftmikroskop (das auf Veränderungen des Spins reagiert) zu beobachten sein; allerdings sind die verfügbaren Geräte noch zu unempfindlich. Der erste Nachweis von Spindichtewellen gelang durch die Streuung von Neutronen in Chrom. (Neutronen eignen sich besonders gut für die Untersuchung geordneter Spinstrukturen, weil sie nur einen Spin, aber keine Ladung haben.) Ansonsten können Spindichtewellen nur indirekt durch Untersuchungen des Magnetfeldes – beispielsweise durch das auch in der medizinischen Diagnostik eingesetzte Magnetresonanzverfahren – nachgewiesen werden.

Die Effekte von Ladungs- und Spindichtewellen könnten sich auch anhand ihrer Bewegungen als Ganzes beobachten lassen, die stark davon abhängen, inwieweit die Wellenlänge der Dichtewellen mit den Abständen der Ionen im Kristallgitter übereinstimmt. Die Wellenlänge einer Ladungsdichtewelle ist nämlich um so kleiner, je mehr Elektronen im Festkörper vorhanden sind. Dies kann zur Folge haben, daß sie praktisch nicht mehr mit den Atomabständen vergleichbar, also inkommensurabel ist. Die Welle treibt dann so lange ungehindert im Gitter umher, bis sie an einem Defekt gleichsam hängenbleibt. (Eine Gitterstörung wirkt wie eine kleine Fallgrube in der elektrischen Potentialfläche, in die eine Ladungsdichtewelle geraten kann.) Wenn jedoch die Wellenlänge und die Atomabstände im Gitter gut übereinstimmen, die Welle also kommensurabel ist, kleben die meisten Elektronen in einem solchen Potentialtopf fest. Im Bild der Kapelle: Ein Großteil der Musikanten steht dann in einer Vertiefung, so daß die Gruppe sich als Ganzes nur schwer in Bewegung zu setzen vermag. Aus diesem Grunde sind inkommensurable Wellen der interessantere Forschungsgegenstand; kommensurable – also die ursprünglich von Peierls vorhergesagten – sind weitgehend nur von historischem Interesse.

Phasonen, Amplitudonen und Magnonen

Betrachtet man Ladungsdichtewellen als Einheit, kann man zwei Bewegungsarten oder Kollektivmoden unterscheiden. Quantenmechanisch lassen sich diese Moden als Teilchen auffassen; ihrem Namen hängt man dann einfach das übliche Suffix "-on" (wie in Elektron, Proton oder Neutron) an.

Ein Phason beispielsweise ist der Kollektivmodus, bei dem Ladungsdichtewellen frei im Kristallgitter umhertreiben und sich gelegentlich bündeln (es beinhaltet einen Phasenwechsel der Dichtewelle). Während das Umherwandern einer inkommensurablen Welle im Gitter keinerlei Energie benötigt (solange sie nicht an einer Fehlstelle hängenbleibt), wird bei der Phasenbündelung etwas Energie verbraucht.

Die zweite Mode einer Dichtewelle ist die, bei der sich ihre Amplitude vergrößert; man nennt sie folglich Amplitudon. Sie benötigt viel Energie. Sowohl die Position als auch die Höhe der Wellenberge können sich verändern, wobei kleinräumige Variationen höhere Energien haben. Diese wurden erstmals von Patrick A. Lee, T. Morris Rice und Philip W. Anderson (damals an den AT&T-Bell-Forschungslaboratorien) berechnet.

Spindichtewellen verfügen zusätzlich zu den beiden vorgenannten Bewegungsmoden über einen rein magnetischen Mode, bei dem sich die Ausrichtung der Spins ändert. Solche Anregungen heißen Magnonen.

Wirklich dramatische Bewegungen treten jedoch erst dann auf, wenn man an einen Festkörper mit Ladungsdichtewellen ein elektrisches Feld anlegt. Nai-Phuan Ong, Pierre Monceau und Alan M. Portis von der Universität von Kalifornien in Berkeley fanden 1986 an der Substanz Niobtriselenid eine stark vom Ohmschen Gesetz (bei dem die Leitfähigkeit konstant ist) abweichende Strom-Spannungs-Beziehung. Nachfolgende Untersuchungen zeigten, daß die Leitfähigkeit mancher Materialien selbst bei schwachen elektrischen Feldern (weniger als ein Volt pro Zentimeter) um mehrere Größenordnungen variieren kann. Wie man mittlerweile weiß, kommen solche Änderungen zustande, wenn eine festsitzende Ladungsdichtewelle sich plötzlich losreißt und in Bewegung setzt. Noch verblüffender ist die von Robert M. Fleming und Charles C. Grimes von AT&T entdeckte Eigenheit, daß selbst bei konstanter angelegter Gleichspannung die Stärke des fließenden Stroms variieren kann.

Sowohl unsere neuesten Untersuchungen als auch die der Arbeitsgruppen von Denis Jérome und Silvia Tomic von der Universität Paris-Süd sowie von Takashi Sambongi von der Universität Hokkaido (Japan) haben gezeigt, daß Spindichtewellen sich im elektrischen Feld ähnlich wie Ladungsdichtewellen verhalten.


Die Murmel im Eierkarton

Die einfachste Art der Beschreibung von Dichtewellen ist das Klassische-Teilchen-Modell, das einer von uns (Grüner) zusammen mit Alfred Zawadowski und Paul M. Chaikin an der Universität von Kalifornien in Los Angeles entwickelt hat. Man faßt dabei die Ladungsdichtewelle als einzelnes Masseteilchen auf, das sich in ihrem Schwerpunkt befindet. Das Verhalten dieses Teilchens beschreibt das der gesamten Welle.

Ohne äußeres elektrisches Feld ruht das Teilchen auf einer gewellten Oberfläche, ähnlich einer Murmel in der Vertiefung eines Eierkartons. Dies entspricht der Situation, wenn ein Berg der Ladungsdichtewelle an einer Gitterstörung hängengeblieben ist. Bewegt man die Welle, wird dann gleichsam die Murmel über den Grat im Eierkarton angehoben und fällt in die nächste Vertiefung – der nächste Wellenberg ist an derselben Gitterstörung hängengeblieben.

Dieses Modell veranschaulicht auch die subtilen Eigenschaften von Ladungsdichtewellen. Wie die Murmel sich in der Vertiefung des Eierkartons frei zu bewegen vermag, kann das Teilchen empfindlich auf ein von außen angelegtes elektrisches Feld reagieren. Da es – stellvertretend für die Ladungsdichtewelle – eine Ladung trägt, beeinflußt seine Position das elektrische Feld im Medium. Für gewöhnlich wählt das Teilchen seine Lage so, daß sich das einwirkende elektrische Feld verringert. Aus diesem Grunde weisen Materialien, in denen Ladungsdichtewellen auftreten, hohe Dielektrizitätskonstanten auf. Wir haben für Ladungs- und Spindichtewellen Dielektrizitätskonstanten von mehr als dem Einmillionfachen normaler Halbleiter gemessen – man könnte die Materialien also durchaus als Super-Dielektrika bezeichnen.

Was passiert nun bei Anlegen einer Gleichspannung? Im Modell entspricht dies einem Kippen des Eierkartons um einen Winkel, der proportional zur angelegten Spannung ist. Bei genügend starker Neigung kann die Murmel ihrer Vertiefung entkommen (Bild 3). Jedesmal, wenn sie einen Wellenberg erklimmt, wird sie langsamer, und beim Fallen in die nächste Vertiefung schneller. Die Geschwindigkeit der Murmel – die den elektrischen Strom symbolisiert – schwankt demnach periodisch. Diese bereits erwähnten Oszillationen der Stromstärke beobachtet man häufig. Dabei nimmt der Mittelwert der Stromstärke mit der angelegten Spannung (der Neigung des Eierkartons) zu.

Wird nun statt dessen eine Wechselspannung angelegt, kippelt unser Eierkarton auf und ab wie eine Wippe. Mithin rollt die Murmel in ihrer Vertiefung vor und zurück. Wie Kollegen an unserer Universität gemessen haben, streuen solche oszillierenden Ladungsdichtewellen elektromagnetische Strahlung bestimmter Wellenlängen im Mikrometer- und Millimeterbereich. (Umgekehrt sind Ladungsdichtewellen deswegen ein hochempfindliches Nachweismedium für diese Strahlung.)

Legt man nun gleichzeitig eine Gleich- und eine Wechselspannung an, liegt unser Eierkarton gleichsam auf einer einseits übergewichtigen Wippe. Besonders leicht kann sich die Murmel über die Mulden des Eierkartons bewegen, wenn die Zeit zum Absenken einer Seite der Wippe gleich jener gewählt wird, welche die Murmel zum Sprung von einer Vertiefung in die nächste benötigt. In dieser Situation schwingen Wechselspannung und Murmel in Phase, und die Stromstärke ist weitgehend unabhängig von der angelegten Gleichspannung. Generell nimmt die Stromstärke mit der von außen angelegten Gleichspannung zu (bei unveränderter Wechselspannung); schmale Plateaus in der Strom-Spannung-Kurve aber zeigen das Vorhandensein einer solchen Phasenkopplung an (Bild 4).

Unser Modell und die daraus abgeleiteten Bewegungsgleichungen der Murmel (also des Teilchens, das eine Ladungsdichtewelle repräsentiert) lassen sich auf eine Vielzahl von Problemen anwenden. Beispielsweise beschreiben sie das Verhalten eines Josephson-Übergangs (bei dem Elektronenpaare durch eine Barriere zwischen zwei Supraleitern tunneln), die Bewegung von Ionen in Festkörpern und von Pendeln im Schwerefeld sowie von bestimmten elektronischen Schaltkreisen. Die scheinbar einfachen Gleichungen weisen eine Vielfalt von Lösungen auf, darunter sogar solche, die chaotisches Verhalten beschreiben.


Selbstorganisierte Kritizität

Andere Beobachtungen sind nicht so leicht zu erklären. Kühlt man ein Material mit Spindichtewellen bis fast auf den absoluten Temperaturnullpunkt ab, können die sie repräsentierenden Teilchen offenbar von einer Potentialmulde zur nächsten tunneln; es ist, als ob unsere Murmeln die Grate zwischen den Kartonvertiefungen durchdringen. Diesen von uns gemessenen rein quantenmechanischen Effekt haben inzwischen auch andere Arbeitsgruppen bestätigt. Kazumi Maki von der Universität von Südkalifornien in Los Angeles und John Bardeen von der Universität von Illinois in Urbana hatten diesen Tunneleffekt vorhergesagt; aber noch ist nicht gesichert, ob sich diese Theorie auf unsere Tieftemperaturmessungen an Spindichtewellen anwenden läßt.

Das wohl seltsamste Verhalten von Dichtewellen ist ihre Selbstorganisation. Dieses interessante Phänomen haben Susan N. Coppersmith und Peter B. Littlewood von AT&T sowie Kurt A. Wiesenfeld und Per Bak vom Brookhaven-Nationallaboratorium in Upton (US-Bundesstaat New York) entdeckt, als sie Versuche mit Spindichtewellen auswerteten, die Forscher bei AT&T und wir an der Universität von Kalifornien durchgeführt hatten.

Auch Erdbeben beruhen auf einer solchen selbstorganisierten Kritizität; sie treten auf, wenn sich zwei aneinander vorbeigleitende Erdplatten verhakt haben und innerhalb von Sekunden wieder losreißen. Auf ganz ähnliche Weise können Ladungsdichtewellen unter Einwirkung elektrischer Felder an Defekten im Atomgitter hängenbleiben und sich plötzlich wieder lösen. Mehr noch: Sowohl Erdbebenherde als auch Ladungsdichtewellen nehmen bevorzugt solche Zustände ein, in denen selbst unscheinbare Ereignisse dramatische Auswirkungen haben können. In solch einem kritischen Zustand balanciert die Murmel gleichsam auf dem schmalen Grat zwischen zwei Vertiefungen im Eierkarton.

Zur weiteren Untersuchung müssen wir unser Modell verfeinern. Selbstorganisation beruht auf der Wechselwirkung der Teile eines Systems untereinander; mithin sind auch Anziehung und Abstoßung zwischen verschiedenen Bereichen der Ladungsdichtewelle zu berücksichtigen. Eine einzelne Murmel im Schwerpunkt der Welle reicht darum nicht mehr aus, sondern wir benötigen viele Murmeln (eine für jeden Wellenberg), die untereinander durch Federn verbunden sind, um die Elastizität der Dichtewelle zu modellieren.

Angenommen, wir legen nun an ein solches System mehrmals nacheinander für kurze Zeit eine Gleichspannung an. Nach dem Einschalten des Feldes beginnen die Kugeln sich zu bewegen; sobald die Spannung jedoch wieder ausgeschaltet wird, rollen sie zum Grund der Vertiefungen des Eierkartons. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Einschaltdauer des elektrischen Feldes und der Strecke, um die sich die Murmeln fortbewegen? Nein. Computersimulationen von Susan Coppersmith zufolge passiert etwas völlig Unerwartetes: Unmittelbar vor Anlegen der Spannung liegen die Murmeln in benachbarten Vertiefungen des Eierkartons; wird dann das Feld wieder ausgeschaltet, befinden sich alle Murmeln genau auf den schmalen Graten dazwischen – und zwar unabhängig davon, wie lange die Spannung angelegt war (Bild 5 oben). Anschließend rollen sie in die Vertiefungen zurück – einige nach rechts, andere nach links. Dieses selbstorganisierende Verhalten ist an Ladungsdichtewellen viel leichter zu untersuchen als an Erdbeben, weshalb sie zu einem wichtigen Objekt für das Studium komplexer dynamischer Theorien geworden sind.

Dichtewellen sind möglicherweise sogar die einfachsten periodischen Elektronenkonfigurationen überhaupt. In verschiedenen Theorien hat man eine Hierarchie zunehmend komplexer Systeme entwickelt. Einen dieser Vorschläge formulierte der ungarisch-amerikanische theoretische Physiker Eugene P. Wigner (Nobelpreis 1963) bereits 1939. Er zeigte, daß Elektronen sich bei ausreichend geringer Dichte – beispielsweise in einer lockeren, in einer Ebene frei beweglichen Gruppe – in einer Art Kristallgitter anordnen. Jahrelang fahndeten andere Wissenschaftler nach solchen Wigner-Kristallen; aber erst Anfang der achtziger Jahre konnten Grimes und Gregory Adams (ebenfalls bei AT&T) zeigen, daß Elektronen sich auf der Oberfläche von flüssigem Helium tatsächlich in dieser Art anordnen. Auch andere Arbeitsgruppen – unter anderem in Saclay (Frankreich) und bei AT&T – haben Hinweise auf das Vorhandensein von Wigner-Kristallen in Festkörpersystemen gefunden.

Noch gibt es für Materialien mit Dichtewellen keine praktischen Anwendungen, jedoch schon zahlreiche Ideen dafür. Ihre Dielektrizitätskonstanten sind nicht nur außerordentlich groß, sondern verändern sich auch mit dem angelegten elektrischen Feld, wodurch solche Materialien sich als regelbare Kondensatoren eignen würden. Ihrer Empfindlichkeit gegenüber elektromagnetischer Strahlung wegen könnten Ladungsdichtewellen vielleicht als Photodetektoren dienen; bei tiefen Temperaturen wäre diese Fähigkeit nur durch quantenmechanische Effekte begrenzt. Bardeen (1908 bis 1991; er erhielt zweimal den Physik-Nobelpreis, 1956 für die Erfindung des Festkörpertransistors und 1972 für seine Theorien zur Supraleitfähigkeit) entwickelte auch eine Theorie zum Quantentransport von Dichtewellen. Ob die von ihm ersonnenen Quantendetektoren jemals wirklich gebaut werden können, ist ungewiß. Vorerst sind wir gespannt auf das, was Untersuchungen der eigentümlichen Ladungs- und Spindichtewellen noch alles ergeben.

Literaturhinweise

- The Difference between One-Dimensional and Three-Dimensional Semiconductors. Von Esther M. Conwell in: Physics Today, Band 38, Heft 6, Seiten 46 bis 53, Juni 1985.

– The Dynamics of Charge-Density Waves. Von G. Grüner in: Reviews of Modern Physics, Band 60, Heft 4, Seiten 1129 bis 1181, 4. Oktober 1988.

– Charge Density Waves in Solids. Herausgegeben von L.P. Gor'kov und G. Grüner. Elsevier, 1990.

– Evidence Accumulates, at Last, for the Wigner Crystal. Von Anil Khurana in: Physics Today, Band 43, Heft 12, Seiten 17 bis 20, Dezember 1990.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1994, Seite 64
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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