Direkt zum Inhalt

Lebensformen in der frühen Neuzeit. 1500 bis 1800


Arno Borsts souveränes Werk über "Lebensformen im Mittelalter", 1973 im Propyläen-Verlag erschienen, war ein früher Versuch, einen bestimmten Zeitraum unter diversen Blickwinkeln zu betrachten, um so die Lebenswirklichkeit zumindest annähernd faßbar zu machen. Das Buch Paul Münchs, der an der Universität Gesamthochschule Essen neuere Geschichte lehrt, zeigt, wie weit man in dieser integrierten Form der Geschichtsdarstellung inzwischen vorangeschritten ist.

In der Einteilung folgt Münch den von Borst gewählten Regeln: Die Behandlung der "Lebenswelten" – so der Titel des ersten großen Teils – umreißt die politische Entwicklung und die soziale Struktur des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (des "Alten Reiches" in der Sprechweise der Historiker). Der zweite, wesentlich umfangreichere Teil "Lebensformen" verfolgt die historische Entwicklung aus zahlreichen Einzelaspekten heraus: von "Mensch und Klima" über "Haus und Familie", "Arbeit und Fleiß" bis zu "Krankheit, Alter und Tod", womit nur einige der Kapitelüberschriften genannt sind. Im Gegensatz zu Borst stützt sich Münch nicht überwiegend auf die Gegenüberstellung und knappe Kommentierung ausgewählter Originaltexte, sondern baut sparsam und sorgfältig ausgewählte Zitate in einen erklärenden und interpretierenden Text ein, der sowohl die Haltung des Autors kenntlich macht als auch Raum für eigene Schlußfolgerungen läßt.

Als Beispiel für diese im besten Sinne erzählende Geschichtserfassung sei das Kapitel "Mensch und Klima" betrachtet, das auch im Hinblick auf die gegenwärtige Diskussion einer sogenannten Klimakatastrophe recht aufschlußreich ist. Das Wetter war in der frühen Neuzeit noch weit mehr als heute existenzentscheidend. Eine bestimmte Witterung zu einem falschen Zeitpunkt – zu wenig oder zu viel Regen, Schnee, Hitze oder Kälte – konnte durchaus den Ruin oder gar Tod nicht nur der Bauern bedeuten. Es unterstreicht Münchs Einfühlungsvermögen, daß er astrologische Vorhersagepraktiken nicht einfach als abergläubischen Nonsens abtut, sondern als einen ersten Versuch des neuzeitlichen Menschen ansieht, seine Zukunft zu planen und dadurch in den Griff zu bekommen.

Noch immer genießt der "Hundertjährige Kalender" des Langheimer Abtes Maritius Knauer, der sich lediglich auf Beobachtungen von 1652 bis 1658 stützte, unverdiente Popularität. Die enge Verbindung zwischen der astrologischen Prognostik und der systematischen Wetterbeobachtung mit Hilfe von Meßgeräten wie dem Thermometer, die schließlich in die wissenschaftliche Meteorologie mündete, bestätigt überzeugend Münchs Ansatz und liefert einen weiteren Beleg für die These, daß es verfehlt ist, in der Geschichte Entwicklungen oder Errungenschaften nach späteren Kriterien als nützlich oder überflüssig zu bewerten.

Beachtenswert für die heutige Diskussion um mögliche Klimaänderungen sind auch die Ausführungen über das Klimaoptimum im 11. und 12. Jahrhundert und die gegen Ende des 16. Jahrhunderts einsetzende sogenannte Kleine Eiszeit, die – unterbrochen von kurzen wärmeren Abschnitten – bis in unser Jahrhundert reicht und besonders während des 17. Jahrhunderts Mißernten und Überschwemmungen sowie das Verschwinden einer Reihe von Kulturpflanzen mit sich brachte. Münch belegt die klimatischen Veränderungen mit reichhaltigem Datenmaterial und knüpft plausible Verbindungen zwischen den sich verschlechternden Wetterverhältnissen und sich verschärfenden sozialen und politischen Spannungen. Da man weniger erntete, gab es weniger zu verteilen; der Daseinskampf wurde härter. Die Hexenverfolgung, die in diesem Zeitraum ihren traurigen Höhepunkt erreichte, kann wohl kaum losgelöst von diesen Umständen betrachtet werden, worauf außer Münch auch schon Wolfgang Behringer hingewiesen hat ("Hexen und Hexenprozesse", dtv, München 1988). Weil das Klima jeweils sehr rasch umschlug, suchte man nach Schuldigen, wobei man an die eben erst entdeckten Sonnenflecken sicherlich zuletzt dachte.

Über die Erörterung makroökonomischer und gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge hinaus macht der Verfasser auch auf scheinbar unbedeutende, aber symptomatische Aspekte aufmerksam: Wer hat beispielsweise schon darüber nachgedacht, daß auf ungefähr 80 Prozent der zwischen 1550 und 1700 gemalten Landschaftsdarstellungen der Himmel bewölkt ist? Die Bedeutung des Klimas für die Evolution – auch die menschliche – ist vielfach behandelt worden, seine Rolle in der Historiographie aber kaum erst entdeckt. Mit zunehmender Beherrschung der witterungsbedingten Einflüsse auf das tägliche Leben und die Produktion von Gütern im Zuge der Industrialisierung nahm die Beachtung des Wetters in der Geschichtsschreibung vom 18. zum 19. Jahrhundert drastisch ab zugunsten der Themen Staat und Politik. Man betrachtete die Geschichte zunehmend als menschengemacht und immer weniger als von göttlicher Fügung bestimmt, je weniger man sich den Unbilden der Natur unterworfen glaubte.

In derselben Weise geht Münch auch in den weiteren Abschnitten den Lebensformen der frühen Neuzeit mit Sachkenntnis, Einfühlungsvermögen und Originalität im Denken nach. Allerdings schenkt er den grundlegenden technisch-naturwissenschaftlichen Entwicklungen und Entdeckungen der Aufklärungsepoche nur an einzelnen Stellen und insgesamt zu wenig Beachtung. Daß im ganzen Buch der – immerhin schon 1698 erstmals patentierten – Dampfmaschine nicht einmal ein Unterkapitel gewidmet ist, erstaunt schon. Ferner wäre ein Kapitel über die frühneuzeitliche Strafrechtspraxis und das von dem modernen grundsätzlich abweichende Verständnis von Schuld und Sühne eine erhellende Ergänzung gewesen. Schließlich fällt auf, daß Münch zwar das Gebiet des "Alten Reiches" zum Gegenstand seiner Betrachtung macht, aber praktisch nirgends auf die Verhältnisse im österreichischen und relativ wenig auf diejenigen im süddeutschen Raum Bezug nimmt (ganz zu schweigen von den nicht rein deutschsprachigen Gebieten wie Böhmen und Mähren). Diese geogra-phische Schwerpunktsetzung vermittelt zwangsläufig ein etwas einseitiges Bild.

Die bedachtsam ausgewählten Bilddokumente sind alle in einem Block in der Mitte des Bandes zusammengefaßt - ein beträchtlicher Nachteil, weil das viele Vor- und Zurückblättern den Zusammenhang zwischen Text und Illustration beeinträchtigt. Außerdem hätte man angesichts des Preises auch einige farbige Abbildungen erwarten können.

Gravierender noch ist das Fehlen eines Sach- und Namensregisters. Dieser Mangel kann auch durch die vorbildliche Bibliographie nicht wettgemacht werden. Das Inhaltsverzeichnis enthält unter den Überschriften der Hauptkapitel auch eine Aufzählung der Unterabschnitte, allerdings ohne Seitenangabe. Es wäre sinnvoll, bei einem solchen Verfahren die einzelnen Unterkapitel durch Randbeschriftungen im Text kenntlich zu machen (was in den Büchern der frühen Neuzeit in der Regel geschah).

In seinem Vorwort "Riskierte Zeiten" macht Münch auf die nach wie vor nicht überwundene Blickwinkelverengung der Geschichtsschreibung auf die Bereiche Staat, Politik, Verfassung und Recht aufmerksam, die aus dem 19. Jahrhundert herrührt und ein kultur- und mentalitätsgeschichtlich begründetes Verständnis früherer Lebenswelten weitgehend ausgeklammert läßt – sehr zum Nachteil unseres eigenen, aus der Geschichtsbezogenheit der Gegenwart geschöpften Selbstverständnisses. Mit seinem Werk hat Münch zur Überwindung dieser beschränkten Sicht einen wichtigen Beitrag geleistet.

"Riskierte Zeiten" – damit umschreibt er die Lebenswirklichkeit einer Gesellschaft, die aus der mittelalterlichen transzendentalen Geborgenheit "in Gottes Hand" herausgerissen war, aber den Gesellschaftsvertrag der Moderne mit seinen Normen und Rechtsgarantien noch nicht entwickelt hatte. Ich versichere, daß der Leser seine eigene Zeit nicht nutzlos riskiert, wenn er sie der Lektüre dieses Buches widmet.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1994, Seite 131
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.