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Lehr- und Wanderjahre eines Mathematikers


Unternimmt es ein weltberühmter Mathematiker, seine Lehr- und Wanderjahre zu beschreiben, so ist das schon etwas Besonderes. Meist verlaufen Karrieren in diesem Fach wenig spektakulär. Nicht so bei André Weil (Jahrgang 1906), Professor emeritus am Institute for Advanced Study in Princeton (New Jersey), Mitbegründer des Unternehmens Bourbaki und verschiedener einflußreicher Richtungen der modernen Mathematik. Angefangen hatte alles relativ ruhig: Der Sohn jüdischer Eltern absolvierte problemlos die Schullaufbahn in der französischen Hauptstadt und schaffte mit Leichtigkeit die Aufnahme in eine der Kaderschmieden der französischen Wissenschaft – die École normale supérieure. Auch sie durchlief er ohne Schwierigkeiten, wobei ihn auf mathematischem Gebiet vor allem Jacques Hadamard (1865 bis 1963) anregte. Großes Interesse entwickelte Weil auch für die Literatur und Sprachen; er lernte unter anderem Sanskrit. Nach der Promotion nahm der junge Dozent in Indien eine Professorenstelle an. Diesem recht ungewöhnlichen Schritt verdanken wir eine ausführliche Schilderung der damaligen Situation Indiens, seiner politischen und sozialen Probleme, aber auch seiner landschaftlichen und sonstigen Schönheiten. Zurückgekehrt nach Europa, wurde Weil Professor in Straßburg und damit Kollege Henri Cartans (Jahrgang 1904). Mit ihm und einigen anderen begann er ein großangelegetes Unternehmen, das nach dem Vorbild des antiken Geometers Euklid (um 300 vor Christus) die gesamte reine Mathematik seiner Zeit zusammenfassen sollte und (vielleicht deshalb) ein Torso – wenn auch ein äußerst einflußreicher – geblieben ist: die "Elemente der Mathematik" (nicht "Grundzüge der Mathematik", wie es auf Seite 186 heißt) unter dem Pseudonym Nicolas Bourbaki. Hier erfährt man manche Details über dieses sagenumwobene Vorhaben, die durchaus von mathematikhistorischem Wert sind. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs setzte dann eine wildbewegte Periode in Weils Leben ein: Über mehrere Zwischenstationen, darunter längere Gefängnisaufenthalte als mutmaßlicher Spion und als Wehrdienstverweigerer (allerdings nicht gerade aus Gewissensgründen), geriet er schließlich in die USA und nach Brasilien. Seine oft widrige Lage hinderte Weil keineswegs daran, wichtige mathematische Entdeckungen zu machen – auch und gerade im Gefängnis. Die eigentlichen Lehr- und Wanderjahre endeten zeitgleich mit dem Atombombenabwurf auf Hiroshima: "Seit meiner Rückkehr nach Brasilien habe ich das friedliche Leben eines Mathematikers geführt, ab und zu erhellt von der Freude einer mathematischen Entdeckung, aber auch durch die Freude an meinen Reisen (meist in Begleitung von Eveline) und durch die Betrachtung der Meisterwerke der Welt" (Seite 211). All das erzählt Weil flüssig und fesselnd, so daß man das Buch geradezu verschlingen kann. Es gibt viele Stellen, an denen er seine Erfahrungen und Ansichten in kleinen, aber spitzen Bemerkungen zur Geltung bringt. So heißt es über die US-Bürger: "Ich wußte nicht, daß die Amerikaner, welche diejenigen, die ihre Hilfe nicht brauchen, so herzlich empfangen, andere, die auf sie angewiesen sind, weit weniger freundlich aufnehmen" (Seite 140); und über seine Landsleute: "Das Verhalten der Franzosen glich in dieser Zeit weniger dem Entschluß freier Männer, die gewillt waren, ihr Liebstes zu verteidigen, als vielmehr dem Verhalten von Schafen, die sich willig überallhin führen lassen, auch zur Schlachtbank" (Seite 140); oder auch: "Unsere Franzosen wären keine richtige Franzosen gewesen, wenn sie nicht ihre Frauengeschichten gehabt hätten" (Seite 179). Im Kontext klingen diese Bemerkungen allerdings nicht so überheblich, da sie durchaus mit Selbstkritik relativiert werden. Weil ist eigentlich nie einseitig oder platt. Was die Mathematik selbst anbelangt, so erfährt der Leser ziemlich wenig. Das Buch ist auch ohne mathematische Vorkenntnisse vollständig verständlich. Hier und da tauchen Fachbegriffe oder Namen auf, die man aber einfach zur Kenntnis nehmen kann. Für den Mathematiker oder Mathematikhistoriker gibt es – mit Ausnahme der Bourbaki-Geschichte – wenig Neues. Das gilt auch für Weils berühmte Schwester Simone (1909 bis 1943), die Philosophin. Abgesehen von der sicherlich wichtigen Rolle, die sie im Leben ihres Bruders spielte, wird sie kaum geschildert. Fairerweise macht der Autor darauf in seinem Vorwort aufmerksam. Es lohnt sich, dieses interessante und spannende, oft auch humorvolle Buch zu lesen. Der Übersetzerin ist es gelungen, viel vom Esprit des Verfassers zu erhalten. Nur stecken in der Übertragung der mathematischen Fachsprache etliche Fehler, die eine fachkundige Durchsicht hätte eliminieren sollen. So ist die "Leermenge" (Seiten 18 und 124) die leere Menge, die "Kinematiktheorie der Gase" (Seite 35) ist die kinematische Gastheorie, und das "Journal de Crelle" (Seite 122) ist keine französische Zeitschrift, sondern das "Journal für die reine und angewandte Mathematik", auch als Crellesches Journal bekannt. Elie Cartan (1869 bis 1951) hat kein Buch über invariante Integrale, sondern eines über Integralinvarianten geschrieben, und die "Reminiszenztheorie" (Seite 17) ist bei uns als Anamnesistheorie bekannt. Die Übersetzerin hat sich auch bemüht, Begriffe, die dem deutschen Leser nicht geläufig sind, durch Anmerkungen zu erklären. Das ist sehr hilfreich, geht aber manchmal etwas daneben. So vermißt man in der Erklärung zum Begriff École normale (Seite 23) den entscheidenden Zusatz "supérieure" (gewöhnliche Écoles normales waren so etwas wie Pädagogische Hochschulen), das Collège de France (Seite 29) wird reichlich unter Wert verkauft und die "Trimonitis" (Seite 25) gar nicht erklärt (mit diesem Wort bezeichnet die französische Schülersprache das früher daselbst extensiv betriebene Studium von quadratischen Ausdrücken der Form ). Alles in allem sind das aber kleine Unvollkommenheiten, welche die Freude an diesem Buch nur geringfügig trüben.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1994, Seite 140
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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