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Leichenpredigten - Quelle geschichtlicher Forschung


Mit seinem "Sermon von der Bereytung zum Sterben" aus dem Jahre 1519 knüpfte der Reformator Martin Luther (1483 bis 1546) direkt an die im Spätmittelalter aufgekommene Gattung der Sterbebüchlein an und führte sie damit auch im Protestantismus ein. Doch während die katholische Ars-moriendi-Literatur das rechte Sterben lehrte, war seine Intention eine andere, wie er 1532 in seiner Vorrede zu "Zwo Predigt uber der Leiche des Kürfursten Hertzog Johans zu Sachssen" präzisierte (Bild 1): Das Lob Gottes sowie Tröstung, Erbauung und Belehrung der Gemeinde waren ihm die vornehmsten Aufgaben dieser Schriften, wohingegen die katholische Kirche den Toten und insbesondere sein künftiges Seelenheil im Mittelpunkt ihrer Begräbnisriten sah.

Biographische Angaben zu den Verstorbenen fanden erst seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunehmend Eingang in die gedruckten Leichenpredigten, und um die Jahrhundertwende bildeten Kurzbiographien sogar eigenständige Teile. Dazu gesellte sich eine umfassende Darstellung der Sterbeszenen, die dann im 17. Jahrhundert zentrales Motiv wurden. Bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges 1618 entwickelte sich schließlich ein Aufbau aus Titelblatt, Widmung und Vorrede, christlicher Leichenpredigt, Lebenslauf, Abdankung oder Standrede, die ursprünglich außer einer knappen Würdigung des Toten vornehmlich den Dank der Hinterbliebenen an das Trauergefolge enthielt. Den Abschluß bildeten die Epicedien, die Trauergedichte der Freundschaft.

Gebrauchte man bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts überwiegend späthumanistisches Neulatein, so setzte sich anschließend allmählich das Deutsche durch. Zugleich begann die Verzierung des Druckwerks, etwa mit Porträts der Verstorbenen als Holzschnitte und schlichte Vignetten, mit Partituren von Trauermusiken oder auch Programmen, mit denen Rektoren von Universitäten oder Gymnasien zu Trauerfeiern luden.

Beschied man sich in der Entstehungszeit des Brauches noch mit zehn bis zwanzig Druckseiten im Oktav- oder Quartformat, so bedingten Prachtliebe und Geltungssucht des ausgehenden 17. Jahrhunderts, daß man 100, 200 und mehr Druckseiten in immer größeren Abmessungen – von etwa 22,5 bis mehr als 45 Zentimeter Rückenhöhe – benötigte, um den Toten gebührend zu ehren. Die Pracht des Barock setzte damit einen Wettbewerb in Gang, der schließlich kaum noch finanzierbar wurde. Die als Aufklärung bezeichnete neue Geisteshaltung und eine Abkehr von Erbauungsschriften hin zur Literatur taten das ihre, diese Gattung der Personalschriften um die Mitte des 18. Jahrhunderts in die Bedeutungslosigkeit zu drängen.


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Die Gesamtzahl der noch erhaltenen Leichenpredigten schätzen wir aufgrund einer Umfrage auf mehr als 250000 Drucke. Abgesehen von der Bedeutung des Phänomens an sich etwa im Kontext der Kirchengeschichte macht die schiere Zahl diese Quellen interessant, ermöglicht sie doch gewissermaßen statistische Erhebungen an Bevölkerungsgruppen der Vergangenheit.

Dabei muß man freilich verschiedene Eckdaten berücksichtigen: In 87 Prozent der Schriften wird der Tod eines Vertreters der protestantischen Oberschicht betrauert, nur 8,5 Prozent der Verstorbenen stammen aus der Mittelschicht; typischen Angehörigen der Unterschicht wie Kutschern, Fuhrleuten oder Dienstboten sind Leichenpredigten nur sehr selten gewidmet.

Das Verbreitungsgebiet konzentrierte sich auf Mitteldeutschland, im Süden durch den Main und im Norden durch eine Linie zwischen Osnabrück und Berlin begrenzt; deutlich weniger Schriften stammen aus den oberdeutschen Reichsstädten, kaum welche aus Niederdeutschland. Der Anteil der betrauerten Männer beträgt 61,5 Prozent, der von Frauen etwa 34 und der von Kindern etwa vier Prozent.

Um die Schriften für unterschiedliche Fragestellungen aufzubereiten, hat die 1976 gegründete Forschungsstelle für Personalschriften in Marburg ein Auswertungsschema entwickelt, das 174 Kategorien umfaßt. Es gewährleistet eine bibliographisch korrekte Aufnahme und ein detailliertes Erfassen formaler Eigenheiten und inhaltlicher Aussagen. Eine Auswahl von 45 Kategorien ermöglicht bereits bei der Katalogisierung einer Quelle eine vorläufige Auswertung.

Das vollständige Schema ist in zehn Blöcke gegliedert. Der erste umfaßt fast alle Kategorien, die unmittelbaren Bezug auf den Verstorbenen haben, also beispielsweise Name und Vornamen, Geschlecht, Zivilstand, Konfession, Beruf und dergleichen. Der zweite Block erschließt bibliographische Angaben, die übrigen folgen dem Aufbau der Leichenpredigt und sollen – auch mit Zitaten – nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Informationen wiedergeben wie beispielsweise Aussagen zur schichtenspezifischen Ideologie oder zum Sterbeverlauf; auch meteorologische Angaben werden erfaßt.

Dieses Grobraster aus 174 Kategorien für die Datenaufnahme wird durch 95 Kennzahlen noch feiner abgestuft, um innerhalb jeder Kategorie Personen- und Ortsnamen, Funktionen, unterschiedliche Reisearten, bildliche Beigaben und andere Daten feststellen zu können.

Eine typische Leichenpredigt liefert bei solch detaillierter Erfassung rund 1000 Einzelinformationen. Allein die Kategorie Epicedien-Verfasser steuert im Mittel 150 Daten bei, weil die Büchlein im Durchschnitt 15 dieser Gedichte enthalten und jeder Verfasser mit 10 Kennziffern versehen wird. Eine beträchtliche Zahl weiterer Informationen liefern die Kategorien Ausbildung und Beruf sowie Vorfahren, deren Aufzählung insbesondere bei Adligen viele Seiten zu füllen vermochte.

Insgesamt haben wir bislang 3307 Leichenpredigten zur weiteren Nutzung ausgewertet und dabei 3,5 Millionen Einzeldaten erhalten. In Anbetracht dieser Fülle und der noch unbearbeiteten Quellen verlagerte sich der Schwerpunkt der Arbeiten seit 1984 von der Intensivauswertung auf das Katalogisieren. Einige Beispiele sollen den Nutzen für die Geschichtsforschung verdeutlichen.

Zur Entwicklung des Immatrikulationsalters

Aus den wenigen überlieferten Biographien und Autobiographien zumeist herausragender Vertreter der regierenden Oberschichten in der frühen Neuzeit hatte man geschlossen, die Erstimmatrikulation zur Artistenfakultät sei im 16. und 17. Jahrhundert meist schon vor der Pubertät erfolgt. Für diese Annahme sprach auch, daß Vertreter von Adel und Hochadel mit dem 15. Lebensjahr die Regierungsfähigkeit erlangten. Hingegen bekundet die Festschrift zur 400-Jahr-Feier der Universität Jena 1958, daß das Durchschnittsalter der Studienanfänger in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bei 19 Jahren gelegen habe.

Das uns zur Verfügung stehende Kollektiv von 3307 intensiv ausgewerteten Leichenpredigten enthält 1179 Akademiker, immerhin 677 dieser Lebensläufe geben präzise Altersangaben, die entweder das Immatrikulationsalter direkt mitteilen oder dessen Berechnung aus den Einschreibungs- und Geburtsdaten ermöglichen.

Demnach lag das mittlere Ersteinschreibungsalter bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit 17,9 Jahren deutlich höher als bislang vermutet. Danach stieg es – vom Dreißigjährigen Krieg unbeeinflußt – bis 1700 beständig auf 18,9 Jahre an. Dieser überraschende Befund ist darauf zurückzuführen, daß der Ausbau der den Universitäten vorgelagerten Bildungseinrichtungen in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums abgeschlossen worden war. Müßten heutige männliche Studierende keinen Zivil- oder Wehrdienst ableisten, würden sie sich im gleichen Alter an den Universitäten einschreiben.


Zivilstand und Lebenserwartung

Aktuelle Untersuchungen zeigen, daß Verheiratete eine höhere Lebenserwartung haben als Alleinstehende. Für den Zeitraum zwischen Reformation und Aufklärung glaubt man dies ebenfalls feststellen zu können, doch wurden bei solchen Untersuchungen häufig gewisse Daten der Gegenwart in die frühe Neuzeit zurückprojiziert.

In unserem Kollektiv identifizierten wir 1252 bei ihrem Tod verheiratete und 265 ledige Männer sowie 640 verheiratete und 85 ledige Frauen. Die Statistik belegt den genannten Befund auch für diesen Zeitraum der Geschichte. Besonders krass ist der Unterschied für Männer im 17. Jahrhundert (Bild 2 links). Zwischen 1601 und 1650, also einem Intervall, das den Dreißigjährigen Krieg umfaßt, hatte ein 15jähriger, sofern er ledig blieb, im Mittel nur weitere 15 Lebensjahre zu erwarten; bei einer Heirat standen ihm jedoch noch 38 bevor. In den folgenden fünf Dezennien bis 1700 wurde diese Kluft noch größer: Während ledige Männer im Mittel mit knapp 28 Jahren starben, lebten verheiratete doppelt so lange. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nimmt die Lebenserwartung beider Gruppen zu und die Diskrepanz zwischen beiden ab.

Für Frauen liegen erst ab dem 17. Jahrhundert, als sich ihre Position in der Kernfamilie gestärkt hatte, Leichenpredigten in ausreichender Anzahl vor, um verläßliche Aussagen ableiten zu können (Bild 2 rechts). Wieder lag das Sterberisiko Lediger erheblich höher als das Verheirateter, obgleich auch diese wegen der hohen Kindbettsterblichkeit und sonstiger Belastungen kaum älter als 40 Jahre wurden.

Als Ursachen der höheren Mortalität von Ledigen gilt für jene Zeit wohl in noch höherem Maße das, was Arthur E. Imhof 1981 – in seinem Buch "Die gewonnenen Jahre" – für die Gegenwart anführte, nämlich, daß "Verheiratetsein eines der Basis-Elemente der sozialen Ordnung darstellt. Alle diejenigen, die davon ausgehen, daß Ordnung in diesem Sinn wesentlich für die Aufrechterhaltung von Gesundheit ist, werden darüber nicht erstaunt sein, daß Nicht-Verheiratete eine wesentlich höhere Sterblichkeit aufweisen als Verheiratete". Festzuhalten ist allerdings, daß Singles der Gegenwart nicht von den gleichen Todesursachen betroffen sind wie diejenigen früherer Zeiten. Wird die Mortalität der Ledigen heute in hohem Maße von Verkehrsunfällen und vom Tabakkonsum geprägt, war es damals das Absinken in einen niederen sozialen Stand: Ledige mußten sich häufig als Magd oder Knecht verdingen und wurden – freiwillig oder unfreiwillig – eher zum Kriegsdienst herangezogen als Verheiratete. Bei mangelnder Integration in die Kernfamilie waren sie ebenso wie heutzutage stärker gesundheitsschädigenden Risiken ausgesetzt – wie beispielsweise durch Trinken, Spielen und Hurerei – und fielen Erkrankungen leichter zum Opfer.

Somit vermag die Analyse gedruckter Leichenpredigten auch zum Verständnis heutiger sozialer Gegebenheiten beizutragen. Sie ist aber auf jeden Fall ein noch zu wenig genutztes Mittel, die Lebensumstände der Menschen aus jener Epoche zu verstehen, in der sich der Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit vollzog.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1997, Seite 108
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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