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Leitbilder der Technikplanung - Plädoyer für einen Wechsel der Perspektive

Zur Absicherung strategischer Entscheidungen befragten römische Staatsmänner einst die Auguren, die aus dem Vogelflug nach festen Regeln den Willen der Götter zu erkunden suchten. Heutzutage nutzen Unternehmen und staatliche Einrichtungen dazu wissenschaftliche Verfahren wie die Expertenbefragung oder die Szenarienentwicklung. Damit gewonnene Empfehlungen begründen Planungen für Technologische Schwerpunkte und Fördermaßnahmen und beeinflussen somit das wirtschaftliche, soziale und auch ökologische Wohlergehen des Gemeinwesens. Freilich sind Leitbilder und Techniken des gegenwertigen Methodenapparats selbst noch in der Entwicklung.

Die zögerliche Umsetzung neuer Ideen in marktfähige Produkte – das zeigt die Debatte der letzten Jahre – ist eine wesentliche Ursache der mangelnden Innovationskraft in Deutschland. Eberhard von Kuenheim, Vorsitzender des Aufsichtsrats von BMW, sagte dazu: "Nicht die Großen fressen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsamen!"

Abhilfe könnte ein strategisch ausgerichteter, also auch vorausschauender Umgang mit Technik in Politik und Wirtschaft ergeben. Daß entsprechende Unternehmungen bislang aber wenig bewirkten, mag in einseitigen Leitbildern solcher Planung begründet sein. Vereinfacht und idealtypisch lassen sich dafür drei grundlegende Kategorien benennen: Technologie-, Anwendungs- und Bedarfsorientierung.


Ausrichtung am Machbaren

Das erste Leitbild setzt bei den Technologien selbst an und projiziert das "technisch Machbare"; es ist die Grundlage technikgeleiteter Zukunftsvisionen. Dieser Ansatz bestimmt die Forschungspolitik in den meisten Industrieländern, so auch in der Bundesrepublik. Dabei orientiert man sich in hohem Maße an sogenannten kritischen Technologien, auch als Schlüsseltechnologien apostrophiert, von denen man annimmt, daß sie künftig die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft bestimmen dürften.

Diese Fixierung der herkömmlichen Wissenschafts- und Technologiepolitik birgt allerdings die Gefahr, an gesellschaftlichen Bedürfnissen, öffentlicher Akzeptanz und auch am Markt vorbeizuarbeiten. Unternehmen merken am ehesten, daß diese Sichtweise zu eng ist: Bei immer kürzeren Produktzyklen und zunehmend schnelleren Entwicklungen auf den relevanten Märkten bleibt aus rein technologischer Perspektive heraus wenig Spielraum, auf den Wandel gesellschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen zu reagieren.

Eines von vielen Beispielen für Fehlschläge solchermaßen begründeter Technikplanung war Teletex, eine Form des Bürofernschreibens, die den langsamen Telexdienst ersetzen sollte. Vorgeschlagen 1974 von der damaligen Kommission der Bundesregierung für den Ausbau des technischen Kommunikationswesens, wurde dieser Dienst 1981 in der Bundesrepublik gestartet und 1993 wieder eingestellt. Erwartete man anfänglich 130000 Endgeräte für 1990, wurde das Maximum 1988 mit lediglich 19000 Anschlüssen erreicht – in dem langen Zeitraum zwischen Idee und Einführung waren konkurrierende technische Neuerungen wie das Telefax aufgetaucht.

Im In- und Ausland unternahm man in den letzten Jahren zahlreiche Versuche, die großen technologischen und technischen Entwicklungstendenzen der Zukunft aufzuspüren. Dazu gehörten beispielsweise der Deutsche Delphi-Bericht und die Studie "Technologie am Beginn des 21. Jahrhunderts", entstanden am Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI) in Karlsruhe. Ein wichtiges Ergebnis der Studie war, daß es in Zukunft nicht mehr allein auf einzelne Schlüsseltechnologien ankommen werde, sondern auf deren Integration zu Systemen.

Interessant sind zudem in der Regel nicht die Technologien selbst, sondern ihre Nutzungsmöglichkeiten; entsprechend beinhaltet das zweite Leitbild der Technikplanung die Anwendungsorientierung. Dabei wird nach der Verfügbarkeit neuer Technik gefragt, nach ihrem Problemlösungs- und Marktpotential – kurz: nach dem Gebrauchswert von Forschung; auch die Marktforschung gehört in diesen Kontext.

Beim dritten, dem bedarfsbezogenen Aspekt der Technologieplanung gilt das Hauptaugenmerk zunächst individuellen Bedürfnissen ebenso wie sozialen Problemfeldern und dann erst dem daraus – möglicherweise – resultierenden Bedarf an Technik. Ein derartiger Ansatz zielt natürlicherweise auf gesellschaftlichen Konsens und vermag deshalb die häufig als mangelhaft beklagte Technikakzeptanz der Bürger zu fördern.

Paradoxerweise vollzieht sich technische Entwicklung nicht einmal dort, wo es um Wohlbefinden oder Leiden – letztlich um Leben und Tod – geht, entlang der Linie von Bedürfnissen. In der Apparate-Medizin gibt es viele Beispiele eigendynamischen Fortschritts, die nur mittelbar dem Streben nach einer verbesserten ärztlichen Versorgung in Diagnose und Therapie entspringen.

Eine auf den Menschen und das gesellschaftlich Wünschenswerte bezogene Sichtweise ist allerdings keineswegs neu. Walter Riester, derzeit stellvertretender Vorsitzender der Industriegewerkschaft Metall, sprach sich bereits 1993 in seinem Minderheitenvotum zum Bericht der baden-württembergischen Zukunftskommission "Wirtschaft 2000" gegen eine Technologiepolitik aus, die allein auf Schlüsseltechnologien setzt: "So wird in allen relevanten Industrieländern die Forderung erhoben, Informations- und Kommunikationstechnologien, die Mikroelektronik und die Telekommunikation, die Bio- und Gentechnologien zu fördern. Ein Spezifikum könnte sich jedoch daraus ergeben, wenn es gelänge, dies mit Bedarfsfeldern zu verzahnen." Seine Ansicht fand an dieser Stelle allerdings keine Berücksichtigung.

Doch es gibt auch in der Praxis durchaus Ansätze bedarfsorientierter Technologiepolitik. Das Bundesprogramm "Humanisierung der Arbeit" (HdA), mittlerweile in "Arbeit und Technik" umbenannt, und das Programm "Mensch und Technik – Sozialverträgliche Technikgestaltung" (SoTech) des Landes Nordrhein-Westfalen gehören dazu. Letzteres ist ein Instrument sozialorientierter Modernisierungspolitik, darauf ausgerichtet, Innovationen zu erleichtern und durch ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeit und Technik, Organisation und Qualifizierung, Beteiligung und Konsens Arbeitssysteme zu schaffen, die zugleich wirtschaftlich und sozialverträglich sind. Vom HdA-Programm unterscheidet es sich durch sein größeres Themenspektrum; es ist auch weniger auf innerbetriebliche und ergonomische Folgen von Rationalisierungen konzentriert (das Nachfolgeprogramm "Arbeit und Technik" hat dagegen deutlich mehr mit SoTech gemein).

Vielleicht stehen wir bereits am Beginn eines Perspektivwechsels. In Deutschland findet die Nachfrage- und allmählich auch die Bedarfsorientierung mehr Akzeptanz. So erklärte der Strategiekreis am damaligen Bundesministerium für Forschung und Technologie 1994 die Absicht, zu verschiedenen Themenbereichen einen an Bedarfsfeldern der Menschen und Lösungspotentialen der Forschung orientierten "Innovationsdialog" zu organisieren.

Am Beispiel der Informationstechnik weist auch Frieder Meyer-Krahmer, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Systemtechnik und Innovationsforschung in Karlsruhe, auf diesen Wandel hin: Waren die siebziger Jahre durch die Konzentration auf das technisch Machbare gekennzeichnet – die Visionen vom papierlosen Büro und von der menschenleeren Fabrik entsprachen dem damaligen Zeitgeist –, begann in den achtziger Jahren eine Diskussion über Chancen und Risiken neuer Technologien (beispielsweise neue Kommunikationsmöglichkeiten gegenüber dem Verlust von Arbeitsplätzen). In diesem Jahrzehnt schließlich, so Meyer-Krahmer, stehe die Frage im Vordergrund, was die Informationstechnik zu einzelnen gesellschaftlichen Bereichen wie Kultur, Wirtschaft, Verkehr, Gesundheit, Bauwesen, Stadtentwicklung und Umwelt beitragen könne. Es ließe sich insbesondere an den Informations- und Kommunikationstechnologien, deren Anwendungen meist nach Bedarf und Einfallsreichtum beliebig gestaltbar sind, ablesen, wie wenig der Stand der Technik die weiteren Entwicklungen determiniert.

Am Begriff der bedarfsorientierten Technologieplanung wird häufig Anstoß genommen, meist mit dem Argument des Staatsversagens. Darunter ist unter anderem die Kritik zu verstehen, daß staatliche Akteure nur über beschränkte technologische und wirtschaftliche Informationen verfügten und ihr Eingreifen leicht Fehlleitungen (etwa am Bedarf vorbei) zur Folge haben könne. Doch Befürworter technologiepolitischer Eingriffe weisen darauf hin, daß es zu den Aufgaben des Staates gehört, einerseits für geeignete institutionelle und infrastrukturelle Rahmenbedingungen zu sorgen sowie andererseits Situationen des Marktversagens zu kompensieren, wenn der Markt als Lenkungs- und Orientierungsinstrument aussetzt. Dazu gehört beispielsweise ein Umweltverbrauch, der sich nicht in adäquaten betriebswirtschaftlichen Kosten niederschlägt.

Eines von vielen weiteren Beispielen dafür, daß sich gesellschaftlicher Bedarf nicht immer am Markt in zahlungskräftiger Nachfrage artikuliert, sind die Bedürfnisse älterer Menschen. Eine auf diese Zielgruppe zugeschnittene Technik kann durchaus zu einem angenehmeren dritten Lebensabschnitt verhelfen, wie die aktuellen Überlegungen zum "virtuellen Altersheim" zeigen.

Eine Schwierigkeit in der Umsetzung des bedarfsorientierten Leitbildes, so eine Kritik, bestehe darin, gesellschaftlichen Bedarf überhaupt festzustellen. Man darf jedoch nicht verkennen, daß nicht konkrete Plandaten das unmittelbare Ziel sein dürfen; vielmehr muß es zunächst der Aufbau einer Diskussionskultur zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und der breiten Öffentlichkeit sein, auch wenn es dafür keine systematischen Wege gibt. Die zunehmend populärere regionalisierte Industriepolitik, die auf Vernetzung der Akteure in einer Region basiert, geht in diese Richtung.


Neues Leitbild: Integration

Weder Technologie- noch Anwendungs- oder Bedarfsorientierung vermag allein die Richtung zu weisen. Vielmehr sollten technische Entwicklungslogik, wirtschaftliche Rationalität und gesellschaftlicher Bedarf in geeigneter Weise in ein gemeinsames Leitbild integriert werden. Das bedeutet, daß mittel- und langfristige Technikplanung diese drei Aspekte gleichzeitig zu berücksichtigen hat, ohne den einen oder den anderen zu vernachlässigen.

In der Standortdebatte der letzten Jahre war immer wieder die Rede von Technikfeindlichkeit der Öffentlichkeit. Doch die Bevölkerungsmehrheit in Europa – auch in Deutschland – steht der Technik durchaus positiv, wenngleich differenziert gegenüber. Das belegen mehrere neuere Studien vom Büro für Technikfolgen-Abschätzung des Deutschen Bundestages, vom Verein Deutscher Elektroingenieure und von der Europäischen Kommission. Die Urteile der Bürger variieren je nach Technologie: Großtechnologien werden meist negativer bewertet als alltagsnahe Technik, etwa auch die in der Medizin. Die weitverbreitete Furcht vor Arbeitsplatzverlust infolge technischer Innovationen existiert neben einem ausgeprägten Bewußtsein von der wirtschaftlichen Bedeutung moderner Industrie. Anders als in vielen düsteren Szenarien mancher Medien ist die Einstellung der Deutschen zur Technik durchaus vergleichbar mit den Ansichten von Bürgern anderer westlicher Industrienationen.

Wenn Menschen Bedarf an Technik oder beispielsweise an intelligenten Dienstleistungen artikulieren, dann ist das reale Technikakzeptanz. Dies gilt es durch den integrierten, also auch bedarfsorientierten, Planungsansatz zu fördern. Schließlich sind das größte Innovationshemmnis Phantasielosigkeit und Mangel an Wünschen, Zielen und Visionen. Oder ist es schon so weit gekommen, wie Ortwin Renn von der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg fragt, daß sich das sprichwörtliche Land der Dichter und Denker zu einem Land der phantasielosen Krämer und satten Wohlstandsbürger entwickelt hat?


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1995, Seite 96
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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