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Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung



Jüngst hat "Der Spiegel" (Heft 29/93) ein vernichtendes Urteil über die deutschen Philosophen gefällt: Ihre Beiträge zeugten angesichts drängender aktueller Probleme von Perspektivlosigkeit. Sie erwiesen sich als unfähig, notwendige Orientierungen zu vermitteln. Nachbardisziplinen breiteten sich ungeniert aus, und "Hobby-Weltdeuter" füllten mit privaten Rezepturen jene Leerräume, die Philosophen nicht mehr besetzten. "Die Denker danken ab."

In dieses Bild will der Konstanzer Philosophieprofessor Jürgen Mittelstraß (Jahrgang 1936) nicht recht passen. Mit seinem Buch "Leonardo-Welt" liegt er, so scheint es, quer zum Strom, und dies gleich in mehrfacher Hinsicht. Entgegen der vom "Spiegel" beklagten Dialogverweigerung und Öffentlichkeitsscheu ist ihm die ursprüngliche Nähe von Philosophie und Rhetorik sehr wohl bewußt.

Im vorliegenden Buch sind Vorträge zusammengefaßt, die er in den letzten Jahren zu den Themenkreisen Wissenschaftsentwicklung, Ethik und Naturwissenschaft sowie zu Problemen und Perspektiven wissenschaftlicher Hochschulforschung gehalten hat.

Auch die Adressaten sind bemerkenswert. Mittelstraß sucht keineswegs den exklusiven philosophischen Expertenkreis, sondern spricht überwiegend vor Naturwissenschaftlern und Medizinern. Berührungsängste läßt er nicht erkennen. Interdisziplinarität ist für ihn offenbar nicht nur eine rhetorische Forderung, sondern angestrebtes Arbeitsprinzip.

Diese Redensammlung erlaubt nebenbei einen interessanten Einblick in den gelehrten Mikrokosmos. Was kann wissenschaftlichen Gesellschaften an Philosophie zugemutet werden, beziehungsweise was muten diese sich an philosophischer Orientierung zu?

Die thematische Mitte der publizierten Reden bilden Entstehen und Entwicklung der Leonardo-Welt. Der geniale Renaissance-Künstler, Baumeister und Techniker Leonardo da Vinci (1452 bis 1519) fungiert bei Mittelstraß als Namenspatron der industriellen Moderne, einer Welt, in der wissenschaftliche und technische Rationalität und ihre Ergebnisse entscheidend die Vorstellungen von gesellschaftlichem Fortschritt prägen. Die Bewunderung für das Werk Leonardos mag nicht so recht damit korrespondieren, daß die nach ihm benannte Welt keineswegs als schöne, heile Welt gelten kann, sondern auch Zerstörung und Inhumanität auf ihrem Weg liegen; aber zumindest wissenschaftsgeschichtlich wird damit die Abkunft der heutigen Industriegesellschaft kenntlich gemacht.

Mittelstraß weiß die Janusköpfigkeit des wissenschaftlich-technischen Fortschritts beredt zu schildern. Bedingt vor allem durch die rücksichtslose Ökonomisierung aller menschlichen Verhältnisse beginne die Leonardo-Welt als Werk des Menschen sich nun den Menschen selbst anzueignen. Der könne so auf längere Sicht der Verlierer einer Entwicklung sein, die er selbst mit seinem Denken und Handeln in Gang gesetzt hat.

Diese Diagnose ist nicht neu. Gemessen an den Umweltkatastrophen der letzten Jahrzehnte und der wachsenden Orientierungslosigkeit westlicher Industriegesellschaften angesichts globaler Herausforderungen bleibt Mittelstraß' Kritik moderat.

Welchen Weg weist der Philosoph aus dem sich abzeichnenden Dilemma? Zur Leonardo-Welt existiere keine tatsächliche Alternative. Sie sei darum nicht nur Schicksal, sondern auch Hoffnung des Menschen. Schwierigkeiten hätten ihre Ursache darin, daß sich der wissenschaftlich-technische Verstand und sein notwendiges Korrelat, die praktisch-politische Vernunft, auseinanderentwickelten. Dieser sei groß und stark, jene schwach und verzagt. Gelänge es nur, beide wieder in ein vernünftiges Verhältnis zu setzen, dann werde die derzeitige "Orientierungsschwäche" der Leonardo-Welt überwunden.

Diese Auffassung provoziert kritische Fragen: Auf welchen Wegen, mit welchen Protagonisten soll der notwendige öffentliche Diskurs auf den Weg gebracht werden, der dem schier unaufhaltsamen wissenschaftlich-technischen Fortschritt notwendiges Orientierungswissen und politische Handlungsregulative an die Hand geben könnte?

Hier mag der Einwand gelten, daß dies, wolle man das Problem gründlich und sachkundig darstellen, eine neue Rede, ein neues Buch erfordere. Aber: Muß man angesichts der beschriebenen Tatsache, daß der wissenschaftlich-technische Fortschritt dem Menschen aus dem Ruder zu laufen droht, nicht fragen, ob der Fortschrittskonsens, der die modernen Industriegesellschaften trägt, auch für die Zukunft noch Gültigkeit hat oder nicht schon längst aufgebraucht ist?

Die strikte, apodiktische Weigerung, Alternativen zu den verblassenden Wertvorstellungen der Industriemoderne auch nur zu denken, macht beklommen. Schließt Mittelstraß Alternativen aus, weil er sie für undenkbar oder weil er die Beschreibung möglicher kritischer Auflösungstendenzen der industriellen Moderne für kontraproduktiv hält? Reicht der Popanz eines ökologischen Fundamentalismus tatsächlich aus, um ein Hinausdenken über die Strukturen heutiger Industriegesellschaften abzubrechen?

Richtig ist, daß plausible Alternativen, Wege in eine andere Moderne, bisher – soweit zu sehen – nicht aufgezeigt worden sind. Doch kann und muß nicht auch Ratlosigkeit zur Inspiration werden, wie der Münchener Soziologe Ulrich Beck jüngst schrieb?

Anregend und lesenswert sind vor allem jene Passagen des Buches, in denen Mittelstraß Stellung bezieht zur in letzter Zeit geradezu überbordenden Diskussion zum Verhältnis von Wissenschaft und Ethik. Kenntnisreich und mit polemischer Eloquenz deckt er die modische Kurzatmigkeit der Versuche auf, die zunehmenden Zweifel und die Kritik an wissenschaftlich-technischen Innovationen über eine technokratische Funktionalisierung von Ethik abzubauen. Wenn ethische "Checklisten" als probates Arbeitsmittel des Ingenieurs entwickelt werden, ist das für Mittelstraß ein besonders augenfälliger Ausdruck eines Denkens, in dem Vernunftethik zur Reparaturethik verkommt. Nicht um die Ethik (und damit den Philosophen) in die Rolle des unfehlbaren Richters und Gesetzgebers zu drängen, wohl aber um das Bewußtsein für ethische Fragen zu schärfen und philosophisches Grundwissen einzubringen, fordert er die Teilnahme der Philosophie am ethischen Diskurs zu Problemen der Wissenschaftsentwicklung.

Einen dritten, relativ geschlossenen, wenn auch mit den anderen Themenbereichen eng verbundenen Schwerpunkt bildet die Situation der Forschung an den deutschen Hochschulen. Gestützt auf aussagekräftiges statistisches Material, offenbar auch auf Erfahrungen aus wissenschaftsleitender Tätigkeit, verteidigt er deren Rolle als Forschungsstandort.

In diesem Zusammenhang wäre es sicher interessant gewesen, erste Erfahrungen beim Umbau des Hochschulwesens der ehemaligen DDR kennenzulernen, die der Autor an nicht unmaßgeblicher Stelle gesammelt hat. In einem erst nach dem Erscheinen des Buches für "Die Zeit" verfaßten Artikel beschreibt er die Reorganisation in Berlin und Sachsen als einen Prozeß, bei dem am Ende nicht nur die Freiheit von Forschung und Lehre, sondern auch die Reformunfähigkeit des westlichen Hochschulwesens übertragen worden sei. Der Artikel hätte dem Band auch deshalb gut angestanden, weil in den darin gedruckten Reden, die immerhin bis in das Jahr 1992 datiert sind, die tiefe Zäsur, die der Zusammenbruch des Sozialismus auch für das Verständnis der westlichen Industriegesellschaften darstellt, merkwürdig unreflektiert bleibt.

Mittelstraß' Buch ist anregend. Seine Reden führen ins Zentrum geistiger, auch philosophischer Auseinandersetzungen unserer Zeit. Obgleich ich zu zentralen Thesen Widerspruch anmelden muß, sehe ich in ihm einen Beleg dafür, daß die Misere der deutschen Philosophie nicht ganz so dramatisch ist, wie der "Spiegel" erkannt zu haben glaubte.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1994, Seite 119
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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