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Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925-1970).

De Gruyter, Berlin 1995.
358 Seiten, DM 168,-.

Wie die Autorin im Vorwort berichtet, hat ein literaturwissenschaftlicher Zufall – nämlich die Konfrontation mit dem Problem des Zufalls in Philosophie und Literatur – sie auf die moderne Physik gebracht: "Die Entwicklung der Quantentheorie und ihr Einfluß auf die Naturphilosophie waren so spannend, daß die moderne Physik fortan mein Interesse einnahm." Derart fasziniert, konnte sich die angehende Germanistin Elisabeth Emter "nicht vorstellen, daß sich die physikalischen Erkenntnisse nicht in der Literatur niedergeschlagen haben", suchte in der Sekundärliteratur – und fand wenig.

Ich bekenne, daß schon dieser Einstieg mir ihr Unternehmen fast bis zur Kritikunfähigkeit sympathisch macht. Wie bereits der griechische Philosoph Aristoteles (384 bis 322 vor Christus) eingangs in seiner "Metaphysik" feststellte, beginnt Erkenntnis mit dem Staunen über scheinbar Selbstverständliches; und so häufig es vorkommt, daß Literaturhistoriker und Germanisten von den Naturwissenschaften nicht nur wenig verstehen, sondern – mit dem Argument, trockene Wissenschaft sei nicht literaturfähig – auch gar nichts wissen wollen, so erstaunlich ist diese Betriebsblindheit eigentlich. Genau auf diesen blinden Fleck hat die Autorin ihr Augenmerk gerichtet, und sie förderte mit größtem Fleiß (den die Freie Universität Berlin 1994 mit einem Doktorhut würdigte) möglichst vollständig alle Stellen zutage, an denen die Quantenphysik – von der sekundärliterarischen Fachwelt gar nicht oder nur sporadisch wahrgenommen – kulturelle Spuren hinterlassen hat.

Als Paradefall dient ihr Wolfgang Koeppen (1906 bis 1996). Dieser von der Berufskritik hochgeachtete und von der Literaturwissenschaft schon zu Lebzeiten fleißig sezierte Schriftsteller hat immer wieder betont, wie wichtig ihm die moderne Physik sei; und wie zum Beweis hat er insbesondere in seinem Roman "Tauben im Gras" mehrfach die Namen berühmter zeitgenössischer Naturforscher angeführt und sogar ganze Abschnitte aus der epochemachenden Schrift "Was ist Leben?" des österreichischen Physikers Erwin Schrödinger (1887 bis 1961, Nobelpreis 1933) zitiert. Doch just um solche Stellen haben die Interpreten, wie Elisabeth Emter nachweist, ratlose Bögen geschlagen; wenn sie sich doch darauf einließen, lasen sie – außer tiefgründig klingenden Behauptungen wie der, mit der modernen Physik löse die Wirklichkeit sich auf, relativiere sich je nach Standpunkt des Beobachters, werde unscharf, mathematisch-abstrakt oder rein geistig – wenig heraus, auch wenn die Schriftsteller eigentlich mehr hineinzulegen gewußt hatten.

An weiteren Beispielen wie Robert Musil (1880 bis 1942), Hermann Broch (1886 bis 1951), Ernst Jünger (geboren 1895), Gottfried Benn (1886 bis 1956) und Bertolt Brecht (1898 bis 1956) demonstriert die Autorin, "daß der Vorwurf an die Literaturwissenschaft, sie habe in puncto Naturwissenschaften einen selektiven Blick, sich weitgehend – bis auf einige Ausnahmen im Falle Brechts – bestätigt hat. Entweder werden Analogien zur Physik hergestellt, ohne diese mit den Aussagen der jeweiligen Autoren zur Physik abzugleichen, oder aber es wird alles ignoriert, was mit Physik zu tun hat" (Seite 178).

Doch nicht nur bei Brecht, der explizit auf ein "Theater des wissenschaftlichen Zeitalters" abzielte, sondern auch bei Friedrich Dürrenmatt (1921 bis 1990), dessen bekanntestes Drama nicht von ungefähr "Die Physiker" heißt, ist der bewußte Bezug auf zeitgenössische Naturforschung unübersehbar. In einer ausführlichen Untersuchung zeigt Elisabeth Emter, wieviel Dürrenmatts Literatur den philosophischen Studien des englischen Astronomen Sir Arthur Eddington (1882 bis 1944) verdankt. (Freilich sind Eddingtons Versuche, die Naturkonstanten als a priori im menschlichen Geist angelegte Zahlen herzuleiten, eher eigenbrötlerische Anstrengungen eines Amateur-Erkenntnistheoretikers gewesen; siehe Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1992, Seite 82.) Auch die experimentelle Schreibweise der sogenannten konkreten Poesie suchte ihr Theoretiker Max Bense (1910 bis 1990) mit dem neuen Wirklichkeitsbild der Quantenphysik zu begründen.

Angesichts der Fülle von Indizien, welche die Autorin für den unterschätzten Einfluß der modernen Physik auf die zeitgenössische Literatur anführt, mutet ihr Fazit wie ein allzu milder Tadel an: "Die vorliegende Arbeit hat gezeigt, daß ein Blick über die Fachgrenzen der Germanistik hinaus auch für die Analyse literaturtheoretischer Reflexionen und deren Umsetzung in Literatur durchaus sinnvoll sein kann" (Seite 330).

Freilich hat auch diese Arbeit bei aller Quellenfülle doch ihre Grenze: Konsequent meidet sie ausgerechnet das Genre, in dem Wissenschaft und Fiktion sich programmatisch begegnen und am innigsten durchdringen: Von Anfang an wurde die Naturwissenschaft von Spielen der Phantasie begleitet, die als Utopien, Phantastik und Science-fiction keineswegs nur zahllose Groschenhefte hervorgebracht haben. Die Verdrängung dieses weitläufigen Gebiets aus der sogenannten hohen Literatur ist selbst Teil des Übelstands, den Elisabeth Emter sonst so eindrücklich konstatiert. Wenn man schon in Dürrenmatts Kriminalromanen die Spuren der probabilistischen Quantenkausalität entdeckt, hätte man bei Schriftstellern, die als "bloße" Science-fiction-Autoren abgestempelt sind, erst recht reiche Beute gemacht. In diesem Zusammenhang wäre auch interessant gewesen zu erfahren, wie man in der DDR mit Science-fiction (dort "wissenschaftliche Phantastik" genannt) umgegangen ist; etliche ihrer literarisch manchmal recht respektablen Produkte hat in der Bundesrepublik Franz Rottensteiner bei Suhrkamp herausgegeben.

Und selbst in einer Studie, die sich auf den deutschen Sprachraum beschränkt, dürfte wenigstens ein Hinweis auf den Polen Stanislaw Lem (geboren 1921) nicht fehlen, dessen vielfältiges belletristisch-essayistisches Werk dem literarisch wie dem naturwissenschaftlich Aufgeschlossenen größtes intellektuelles Vergnügen zu bereiten vermag; er hat zum Beispiel mit zwei Kriminalromanen ("Die Untersuchung" und "Der Schnupfen") vorgeführt, wie die Ermittlung des Schuldigen scheitern muß, wenn anstelle eindeutiger Ursachen statistische Kausalketten ihr Spiel treiben. Auch seine beißenden Bemerkungen über den Versuch einiger Autoren des französischen nouveau roman, ihre Anti-Epik mit gewagten Analogien zur Quantenunschärfe theoretisch aufzuwerten, hätten gut zum Thema gepaßt. Und unter den deutschen Gegenwartsautoren hätte vielleicht Arno Schmidt (1914 bis 1979) eine ausführlichere Würdigung verdient, wenn es um experimentelles Schreiben geht, das bewußt in einer von moderner Wissenschaft geprägten Welt zu Werke geht.

Das hat die Autorin nun davon, daß sie so fleißig war: Es fallen einem immer noch mehr Beispiele ein...



Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1997, Seite 116
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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