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Magnetisches Verhalten von Hochtemperatur-Supraleitern

Ein unerwartetes Phänomen behindert die technische Anwendung dieser neuartigen Materialien, die selbst bei der Siedetemperatur von flüssigem Stickstoff elektrischen Strom verlustfrei leiten können: Sobald sie einem Magnetfeld ausgesetzt sind, verschwindet der elektrische Widerstand nicht völlig. Ursache ist die Drift magnetischer Flußlinien, die wie in einer Flüssigkeit frei beweglich sind und damit einen bisher unbekannten Materiezustand bilden.

Nach Entdeckung der Hochtemperatur-Supraleiter im Jahre 1986 sahen manche Physiker in kühnen Visionen deren baldigen Einsatz in Magnetschwebebahnen oder Stromspeichern hoher Kapazität sowie in zahlreichen anderen Maschinen und Geräten voraus. Doch schon bald dämpften mehrere Schwierigkeiten die anfängliche Euphorie. Als besonders lästig stellte sich heraus, daß diese neuen keramischen Werkstoffe, die elektrischem Strom bei relativ hohen Temperaturen keinen Widerstand bieten, die Eigenschaft der Supraleitung verlieren, sobald sie einem Magnetfeld ausgesetzt sind – für viele technische Anwendungen ist aber gerade dies erforderlich oder zumindest unvermeidlich.

Der Stromfluß wird behindert, wenn das äußere Magnetfeld den Supraleiter in Form einzelner Bündel – sogenannter Flußlinien – durchdringt und diese sich bewegen. Nur wenn man weiß, wie diese Drift zustande kommt und wie sich die Flußlinien bei unterschiedlichen Temperaturen und Magnetfeldstärken anordnen, wird man das höchst unerwünschte Phänomen beeinflussen und den supraleitenden Stromfluß aufrechterhalten können.

Neuere Untersuchungen haben unser Wissen über diese Erscheinung erheblich erweitert. Das Verhalten von Supraleitern in Magnetfeldern ist weitaus vielgestaltiger als zunächst angenommen. So können Flußlinien völlig neue Materiezustände innerhalb der Klasse der Hochtemperatur-Supraleiter bilden. Zur Beschreibung dieser Zustände – Flußlinien-Festkörper, -Flüssigkeiten und -Gläser – mußte man neue Erkenntnisse aus der Festkörperphysik berücksichtigen und die bisherige Theorie der Supraleitung modifizieren. Meßverfahren von bislang unerreichter Empfindlichkeit waren nötig, um die Modellvorstellungen zu überprüfen. Damit ist man allerdings dem umfassenden Verständnis der Hochtemperatur-Supraleiter und vielleicht auch ihrem erfolgreichen Einsatz um einiges näher gekommen.

Gewöhnliche Supraleiter

Im Rückblick verwundert es nicht, daß die Hochtemperatur-Supraleitung mit dem Wissensstand von 1986 nicht zu erklären war. Bis dahin hatte man nämlich die Theorien anhand der Eigenschaften herkömmlicher Supraleiter entwickelt. Diese Materialien – im allgemeinen gewöhnliche Metalle und Legierungen – leiten elektrischen Strom nur dann widerstandsfrei, wenn sie auf wenige Grad über dem absoluten Nullpunkt (0 Kelvin oder –273,15 Grad Celsius) gekühlt werden.

So hatte denn auch der niederländische Physiker Heike Kamerlingh-Onnes (1853 bis 1926) die Supraleitung im Jahre 1911 entdeckt, weil er sich für das Verhalten von Materie bei tiefen Temperaturen interessierte. Ihm war drei Jahre zuvor das schwierige Unterfangen geglückt, Helium zu verflüssigen – das einzige Edelgas, das man bis dahin nicht unter den Siedepunkt abzukühlen vermocht hatte. Mit dem verflüssigten Helium als Kühlmittel konnte Kamerlingh-Onnes nun andere Substanzen auf nahezu 1 Kelvin abkühlen.

Man erzählt, der Leidener Professor habe einen Studenten beauftragt, den elektrischen Widerstand von Quecksilber bei tiefen Temperaturen zu bestimmen. Als dieser berichtete, der Widerstand der Probe verschwände unterhalb von 4,2 Kelvin, habe Kamerlingh-Onnes ihn ins Labor zurückgeschickt, um die Ursache für die seiner Meinung nach falsche Messung zu finden. Erst nachdem sich wirklich kein Fehler feststellen ließ, hätten die Wissenschaftler erkannt, daß ihnen eine historische Entdeckung gelungen war. Dafür und für zahlreiche andere bedeutende Leistungen in der Tieftemperaturphysik erhielt Kamerlingh-Onnes 1913 den Nobelpreis für Physik.

Das Verschwinden des elektrischen Widerstandes unterhalb einer bestimmten Temperatur war freilich nicht das einzig Faszinierende an den neuen Supraleitern. Ebenso verwunderlich war ihr Verhalten im Magnetfeld. Im Jahre 1933 fanden die Physiker Fritz Walther Meißner (1882 bis 1974) und Robert Ochsenfeld, daß ein Supraleiter beim Abkühlen unter die Übergangs- oder Sprungtemperatur die Feldlinien eines äußeren Magnetfeldes aus seinem Inneren verdrängt. Dieses nun als Meißner-Ochsenfeld-Effekt bekannte Phänomen und der widerstandsfreie Stromfluß lösten ein enormes Forschungsinteresse an der Supraleitung aus.

Die experimentellen Befunde vermochte man mit dem damaligen theoretischen Rüstzeug nicht zu deuten. Die in den dreißiger Jahren entwickelten quantenphysikalischen Modelle konnten zwar die Leitfähigkeit der normalen Metalle erklären, nicht aber den Zustand der Supraleitung. Was sich dabei auf atomarer Ebene abspielt, begann man erst in den fünfziger Jahren zu verstehen, als die russischen Physiker Witali L. Ginsburg vom Lebedew-Institut in Moskau und Lew D. Landau (1908 bis 1968) eine phänomenologische Theorie entwickelten: Sie betrachteten, was während des Übergangs vom normalen zum supraleitenden Zustand geschieht, und stellten einen Satz von Gleichungen auf, mit dem sich die Erscheinung beschreiben ließ – eine Erklärung vermochten sie jedoch noch nicht zu geben.

Die mikrophysikalische Deutung gelang schließlich erst 1957 John Bardeen, Leon N. Cooper und J. Robert Schrieffer (Nobelpreis 1972). Der – nach den Anfangsbuchstaben ihrer Nachnamen benannten – BCS-Theorie zufolge treffen die Leitungselektronen deshalb auf keinen Widerstand, weil sie sich paarweise fortbewegen. Diese Cooper-Paare können sich infolge der Wechselwirkung der Elektronen mit Phononen, den Schwingungsquanten des Kristallgitters, bilden. (So wie Photonen die Quanten elektromagnetischer Strahlung sind, stellen Phononen die Energiequanten mechanischer Schwingungen – also von Schallwellen – dar.) Die Schwingungsbewegung der Atome um ihre Ruhelage im Kristallgitter kompensiert dabei nicht nur die abstoßenden elektrostatischen Kräfte zwischen den Elektronen, sondern erzeugt sogar eine schwache gegenseitige Anziehungskraft, aufgrund deren sich die Elektronen paarweise vereinen.

Freilich hängt dieser Effekt sehr stark von der Temperatur ab. Nur unterhalb der Sprungtemperatur ist Supraleitung möglich; oberhalb dieses kritischen Wertes verhindern die thermischen Gitterschwingungen die Bildung von Cooper-Paaren und zerstören somit die Supraleitfähigkeit des Metalls.

Die Paarbildungswechselwirkung legt zwei wichtige mikroskopische Entfernungsskalen fest: die Kohärenzlänge und die Eindringtiefe. Die Kohärenzlänge ist der räumliche Abstand der beiden Elektronen eines Cooper-Paares und die kleinste Entfernung, über die sich elektronische Eigenschaften (unter anderem eben der spezifische elektrische Widerstand) eines Supraleiters ändern können. In einem typischen Supraleiter beträgt sie einige zehn bis einige hundert Nanometer und damit ein Vielfaches des Atomabstandes. (1 Nanometer entspricht 10–9 Meter oder einem millionstel Millimeter; in den meisten Festkörpern sind die Atome 0,1 bis 0,3 Nanometer voneinander entfernt.)

Die zweite charakteristische Länge, die Eindringtiefe, hängt mit der Stärke des Meißner-Ochsenfeld-Effekts zusammen, also mit der Fähigkeit eines Supraleiters, ein schwaches äußeres Magnetfeld aus seinem Inneren zu verdrängen. Der Effekt entsteht dadurch, daß ein externes Magnetfeld in einer dünnen Oberflächenschicht des Supraleiters verlustfreie Ströme induziert; diese erzeugen ihrerseits ein Magnetfeld, das im Inneren des Supraleiters das externe Feld genau kompensiert. Die Stärke der induzierten Ströme nimmt mit zunehmender Tiefe exponentiell ab. Die Tiefe, bei der die Flußdichte um den Faktor 1/e (etwa 0,3679) abgenommen hat, ist die Eindringtiefe. Sie ist die kürzeste Entfernung, über die sich ein Magnetfeld in einem Supraleiter ändern kann. Typische Werte liegen zwischen einigen zehn und mehreren tausend Nanometer.

Je nach dem Verhältnis von Eindringtiefe und Kohärenzlänge unterscheidet sich das Verhalten der Supraleiter im Magnetfeld. Bei solchen vom Typ I ist die Eindringtiefe kleiner als die Kohärenzlänge. Die meisten von ihnen werden erst bei sehr niedrigen Temperaturen supraleitend. Erreicht das äußere Magnetfeld eine bestimmte kritische Feldstärke (die für jedes Material unterschiedlich ist), dringt es in das Material ein und zerstört die Supraleitung. Da dies bereits bei relativ schwachen Feldern der Fall ist, eignen sich solche Supraleiter kaum für den praktischen Einsatz.

Supraleiter vom Typ II hingegen haben ein erheblich größeres Anwendungspotential. Weil bei ihnen die Eindringtiefe größer als die Kohärenzlänge ist, bleiben sie auch dann supraleitend, wenn sie vom äußeren Magnetfeld durchdrungen werden. Sie können vergleichsweise starken Feldern bis zu einem bestimmten kritischen Wert standhalten und somit recht starke Ströme transportieren. Alle technisch interessanten Supraleiter sind deshalb vom Typ II. Auch die Hochtemperatur-Supraleiter gehören dazu.

Magnetische Phasen in gewöhnlichen Supraleitern...

In den fünfziger Jahren veröffentlichte der russische Physiker Alexei A. Abrikossow die grundlegende Theorie über das Verhalten eines herkömmlichen Typ-II-Supraleiters in einem Magnetfeld. Aufbauend auf den Arbeiten von Ginsburg und Landau zeigte er, daß es unterhalb der Sprungtemperatur von der Stärke des äußeren Feldes und der Temperatur abhängig ist. Solch einen Zusammenhang kann man in einem Phasendiagramm darstellen; daraus geht hervor, daß ein herkömmlicher Supraleiter drei unterschiedliche magnetische Zustände annehmen kann (Bild 3 links).

Unterhalb der Sprungtemperatur und bei kleinen Magnetfeldstärken tritt der Meißner-Ochsenfeld-Effekt auf, das heißt, die Feldlinien durchdringen den supraleitenden Körper nicht.

Überschreitet die Feldstärke hingegen einen unteren kritischen Wert (der im allgemeinen von der Temperatur abhängig ist), tritt ein Mischzustand auf: Die Probe bleibt zwar supraleitend, es bilden sich jedoch zylinderförmige normalleitende Bereiche, die sich parallel zum angelegten Feld von einer Oberfläche zur anderen erstrecken. Nur in diesen Bereichen herrscht magnetischer Fluß. Die Probe wird also nicht gleichförmig von magnetischen Feldlinien durchdrungen, sondern nur von diskreten röhrenförmigen Flußlinien oder -schläuchen.

Aus quantenphysikalischen Gründen tragen alle Flußlinien den gleichen magnetischen Fluß, ein sogenanntes Flußquant. Ändert das äußere Magnetfeld seine Stärke, müssen sich folglich Anzahl, Dichte und Abstand der Flußlinien ändern. Die energetisch günstigste Anordnung der Flußlinien ist dabei ein regelmäßiges Gitter der Zylinderachsen in einer Dreieckskonfiguration (Bilder 1 und 2).

Der Aufbau einer einzelnen Flußlinie hängt von der Kohärenzlänge und der Eindringtiefe ab. Jede weist einen kleinen Kern auf, dessen Durchmesser etwa der Kohärenzlänge entspricht. Innerhalb des Kerns verhält sich das Material wie ein normales Metall. Kreisförmig um die Flußlinienachse herum fließt ein verlustfreier Strom aus Cooper-Paaren, der den magnetischen Fluß am Eindringen in die supraleitenden Bereiche hindert. Da diese kreisende Bewegung den Wirbeln in Gasen und Flüssigkeiten ähnelt, bezeichnet man die Flußlinien auch als Wirbellinien (englisch vortex lines). Die Kreisströme erzeugen ein Magnetfeld, dessen Reichweite gleich der Eindringtiefe ist.

Das Austreten der Flußlinien aus einer Ebene senkrecht zu ihren Achsen kann man mit sehr feinem Eisenpulver sichtbar machen (siehe Kasten auf Seite 49). Auf solchen Bildern erkennt man leicht ihre Anordnung in einem regelmäßigen Dreiecksgitter.

Übersteigt – dritter Fall – das angelegte Magnetfeld einen zweiten Schwellenwert, geht der Supraleiter schließlich in einen weiteren magnetischen Zustand über. Oberhalb dieser oberen kritischen Feldstärke ist die Supraleitung vollständig zerstört, das Material verhält sich mithin wie ein normaler Leiter. Der Grund dafür ist, daß das zunehmende äußere Feld die Flußlinien immer dichter zusammendrängt, bis schließlich die normalleitenden Wirbelkerne sich so stark überlappen, daß zwischen ihnen nicht mehr genügend Raum für supraleitende Bereiche verbleibt.

...und in Hochtemperatur-Supraleitern

Diese drei magnetischen Phasen schienen die Wirkung eines äußeren Magnetfeldes auf einen Supraleiter hinreichend genau zu beschreiben – bis 1986 Johannes Georg Bednorz und Karl Alex Müller vom IBM-Forschungszentrum Zürich in Rüschlikon eine neue Klasse von Typ-II-Supraleitern entdeckten (sie erhielten dafür ein Jahr später den Physik-Nobelpreis). Die von ihnen untersuchten Kupferoxid-Keramiken mit verschiedenen metallischen Zusätzen zeigten Supraleitung bis etwa 40 Kelvin; durch Variieren der chemischen Zusammensetzung fand man kurz darauf Keramiken, die noch bei mehr als 120 Kelvin supraleitend sind. Demgegenüber beträgt die maximale Sprungtemperatur bei herkömmlichen Supraleitern nur 23 Kelvin.

Die neuen Hochtemperatur-Supraleiter lösten hektische Forschungsaktivitäten auf der ganzen Welt aus. Ihr unmittelbarer Vorteil ist, daß zu ihrer Kühlung flüssiger Stickstoff (Siedetemperatur 77 Kelvin) ausreicht. Abgesehen vom verringerten apparativen Aufwand ist dieses Kühlmittel mit einem Literpreis von 20 Pfennigen erheblich billiger als flüssiges Helium, das etwa 8 Mark pro Liter kostet. Selbst mit kleinen und einfachen Kühlvorrichtungen lassen sich die Sprungtemperaturen der neuen Supraleiter erreichen.

So vielversprechend die Erweiterung des supraleitenden Temperaturbereichs zunächst zu sein schien – bei weiteren Untersuchungen entdeckte man doch eine sehr seltsame und störende Eigenschaft: Das Verhalten der Hochtemperatur-Supraleiter im äußeren Magnetfeld ließ sich nicht mit Abrikossows Modell beschreiben, das sich bis dahin als erfolgreich erwiesen hatte; vielmehr zeigte sich, daß bei Feldstärken bis zu 10 Tesla (etwa der 200000fachen Stärke des Erdmagnetfeldes), wie sie für technische Anwendungen durchaus nötig sind, der elektrische Widerstand einiger Supraleiter erst dann kleiner wird als der von gewöhnlichem Kupferdraht, wenn die Temperatur nicht mehr als 20 bis 30 Prozent der Sprungtemperatur beträgt. In einigen Fällen kann der Widerstand sogar hundertfach größer sein als der von Kupfer. Die Vorteile von Hochtemperatur-Supraleitern schienen demnach bei starken Magnetfeldern verlorenzugehen.

In weiterführenden Experimenten fand man heraus, daß die Ursache ein ungewöhnliches Verhalten der Flußlinien ist: Sie ordnen sich nicht immer in einem festen Dreiecksgitter an, sondern dieses kann gleichsam schmelzen und in eine flüssigkeitsähnliche Phase übergehen. Die dann mögliche Bewegung der Flußlinien verhindert den Übergang in den supraleitenden Zustand.

Aus mehreren Gründen kann diese Bewegung, die einen neuartigen Materiezustand – sozusagen eine Flußlinien-Flüssigkeit – darstellt, den Stromtransport in Hochtemperatur-Supraleitern behindern. Die Ursache dieses Phänomens ist in der mechanischen Spannung der Flußlinien zu suchen, die von der Kohärenzlänge und der Eindringtiefe abhängt. Ähnlich wie Gummibänder versuchen Flußlinien sich zusammenzuziehen, denn dieser Zustand ist energetisch am günstigsten. Diesem Bestreben wirkt jedoch die Wärmebewegung entgegen. Mit steigender Temperatur schwingen nämlich nicht nur die Atome eines Festkörpers, sondern auch die Flußlinien mit immer größerer Amplitude, wodurch sie gedehnt werden. Die mechanische Spannung der Flußlinien ist dabei stets bestrebt, sie in den ungedehnten Zustand zurückzuführen.

Je größer nun die Kohärenzlänge ist und je kleiner die Eindringtiefe, desto stärker gespannt sind die Flußlinien, und desto kleiner sind folglich die thermischen Schwingungen, die sie ausführen können. Genau dies ist bei den meisten herkömmlichen Typ-II-Supraleitern der Fall – die Flußlinien sind verhältnismäßig gerade und kurz, und sie schwingen kaum.

Bei Hochtemperatur-Supraleitern ist die Situation jedoch umgekehrt. Ihre Kohärenzlängen sind mit Werten von 0,2 bis 2 Nanometer zehn- bis hundertfach kleiner, ihre Eindringtiefen hingegen mit 100 bis mehr als 10000 Nanometern um den gleichen Faktor größer als die entsprechenden Werte in herkömmlichen Supraleitern. Mithin ist die mechanische Spannung der Flußlinien vergleichsweise gering, ihre Flexibilität also sehr groß. In Verbindung mit den hohen Sprungtemperaturen bedeutet dies, daß die Flußlinien starken thermischen Fluktuationen unterliegen. Bei ausreichend hohen Temperaturen schwingen sie so stark, daß sie sich von ihren Haftstellen losreißen und das Flußliniengitter gleichsam schmilzt – ähnlich wie Eis, wenn die Wärmeschwingungen der Wassermoleküle zu stark werden. Bei manchen Hochtemperatur-Supraleitern umfaßt die Phase der Flußlinien-Flüssigkeit einen größeren Temperaturbereich als diejenige, in der die Flußlinien fest verankert sind und quasi einen Festkörperzustand repräsentieren (Bild 3 rechts).

Flußdrift und elektrischer Widerstand

Warum verändert nun die thermisch aktivierte Bewegung der Flußlinien den Widerstand des Supraleiters? Stellen Sie sich vor, was geschieht, wenn man durch einen Typ-II-Supraleiter in einem äußeren Magnetfeld einen elektrischen Strom fließen läßt. Jede einzelne Flußlinie besteht aus einem normalleitenden Kern, der von Kreisströmen aus supraleitenden Cooper-Paaren umgeben ist. Fließt nun zusätzlich zu diesem Wirbelstrom ein linearer Strom durch das Material, addieren sich beide auf der Seite der Flußlinie, auf der ihre Richtung übereinstimmt, und subtrahieren sich auf der anderen. Dadurch entsteht eine Kraft, die die Flußlinie senkrecht zu ihrem Verlauf und senkrecht zum fließenden Strom zu verschieben sucht. (Dieser Effekt ist dem Magnus-Effekt in der Aerodynamik analog, durch den an einem Tragflügel Auftrieb erzeugt wird, indem die Luft an seiner Oberseite schneller vorbeiströmt als an der unteren.) Die Drift der Flußlinien entzieht dem fließenden Strom Energie und induziert einen Spannungsabfall, was somit einen elektrischen Widerstand verursacht. Messungen dieses Widerstandes in Abhängigkeit von der Temperatur zeigen, daß sich die Flußlinien so ähnlich verhalten wie Wasser in der Umgebung des Schmelzpunktes. Wir haben ein solches Experiment an einer sehr reinen Probe des Hochtemperatur-Supraleiters (Yttrium-dibarium-trikupfer-heptoxid, kurz YBCO) durchgeführt. Wie die Daten zeigen, ist der Widerstand bei hohen Temperaturen – also in der Phase der Flußlinien-Flüssigkeit – groß. Beim Abkühlen gefrieren die Flußlinien zu einem festen, regelmäßigen Gitter. Sie sind nun fest verankert, und der Widerstand verschwindet. Solche Widerstandsmessungen enthüllen zudem, daß die Flußlinien-Flüssigkeit sich vor dem Einfrieren unterkühlen läßt. Auch darin ähnelt sie reinem Wasser, das sich ebenfalls unterhalb des Gefrierpunktes noch in der flüssigen Phase befinden kann. Dieses Phänomen macht sich durch eine Abweichung der Meßkurve beim Erwärmen und Abkühlen bemerkbar, die man als Hysterese bezeichnet (Bild 4).

Flußlinien-Gläser

Eine für technische Anwendungen besonders wichtige Frage bleibt jedoch noch offen. Nur wenn das Material frei von Verunreinigungen ist, gefrieren die Flußlinien zu einem regelmäßigen Gitter. Was aber geschieht, wenn der Supraleiter Fremdatome oder Defekte im Kristallgitter enthält? Diese Frage ist keineswegs trivial. Für technische Anwendungen müssen Supraleiter solche Störstellen aufweisen. Bei herkömmlichen Supraleitern baut man sie sogar gezielt und an bestimmten Stellen ein, denn im allgemeinen ist die Strombelastbarkeit um so größer, je unreiner das Material ist. Die Inhomogenitäten bilden nämlich Haftstellen für die Flußlinien und verhindern somit deren Drift beim Durchfluß eines elektrischen Stromes. Das Haftpotential der Inhomogenitäten wirkt dabei auf die Flußlinien wie eine kleine Vertiefung in einer Tischplatte auf darüberrollende Murmeln: Gerät eine Flußlinie hinein, bleibt sie hängen, weil dort ihre potentielle Energie geringer ist. Diese Flußlinienverankerung (englisch flux pinning) in realen Supraleitern stört das regelmäßige Gitter, das sich normalerweise in einem idealen, reinen Material bilden würde. Dadurch verhindert sie, daß es in einem starken Magnetfeld zu einem perfekten Flußlinien-Festkörper gefriert. Statt dessen bildet sich ein Zustand, den man als Flußlinien-Glas bezeichnet – in Anlehnung an die unregelmäßige Anordnung der Moleküle in gewöhnlichem Glas (siehe Kasten auf Seite 51). Als Matthew P.A. Fisher vom Thomas-J.-Watson-Forschungszentrum der Firma IBM in Yorktown Heights (New York) die Hypothese von einem Flußlinien-Glas 1989 vorgeschlagen hatte, blieb man zunächst skeptisch, denn auch mit anderen Erklärungsversuchen ließ sich das beobachtete Verhalten der Hochtemperatur-Supraleiter beschreiben – etwa indem man die Flußlinien als einzelne Teilchen auffaßte. Aus dem Glas-Modell ergaben sich jedoch mehrere überprüfbare Voraussagen. Demzufolge sollte sich, falls eine genügend große Anzahl an Haftstellen vorhanden ist, die Flußlinien-Flüssigkeit beim Abkühlen langsam zu Glas verfestigen; in reinen Materialien hingegen geschieht dies schnell. Des weiteren vermochte das Modell den spezifischen Widerstand als Funktion von Temperatur, Strom und Magnetfeld zu beschreiben. Freilich ließ sich die Richtigkeit des Flußlinien-Glas-Modells erst dann eindeutig nachweisen, als außerordentlich empfindliche Messungen durchgeführt werden konnten. Dazu wurde eigens auf der Basis eines Quanteninterferometers (SQUID nach englisch superconducting quantum interference device) ein Gerät entwickelt, mit dem sich der Spannungsabfall in einem Hochtemperatur-Supraleiter auf weniger als ein Pikovolt ( Volt) genau bestimmen läßt – eine nie zuvor erreichte Genauigkeit; es war etwa eine Million mal so empfindlich wie ein normales Voltmeter (siehe Kasten auf Seite 52). Das Prinzip des Pikovoltmeters ist recht einfach. Die zu untersuchende Probe bringt man in einen Kryostaten, eine Art Thermosflasche, worin die Temperatur bis auf wenige tausendstel Kelvin konstant gehalten werden kann. Supraleitende Spulen außerhalb des Kryostaten erzeugen am Ort der Probe ein homogenes Magnetfeld. Sodann schickt man einen Strom durch die Probe und mißt ihren Widerstand mit dem SQUID. Dieses und die Magnete bestehen übrigens aus herkömmlichen Niedertemperatur-Supraleitern – ein Beispiel dafür, wie alte Technologien bei der Entwicklung von neuen helfen können. Das Flußlinien-Glas-Modell wurde bei diesem Experiment glänzend bestätigt. Die gemessenen Widerstände und Ströme stimmten mit den vorhergesagten überein; sie verschwanden allmählich, als man die Temperatur bis auf den Gefrierpunkt der Flußlinien-Flüssigkeit verringerte. Solche langsamen Übergänge stehen im Gegensatz zum Verhalten sehr reiner Kristalle, in denen der Phasenübergang sprunghaft stattfindet und mit einer Hysterese behaftet ist. Diese Beobachtung zeigt, wie stark die von den Haftstellen hervorgerufene Unordnung die Dynamik des Schmelzvorganges verändern kann: Die Flußlinien-Flüssigkeit im ungeordneten Kristall gefriert nicht zu einem regelmäßigen Festkörper, sondern zu einem Glas. Wie sich gezeigt hat, sind Hochtemperatur-Supraleiter ein ideales Experimentierfeld, um unser Wissen über die Typ-II-Supraleitung zu erweitern. So können wir nun annehmen, daß der Flußlinien-Glas-Zustand auch in herkömmlichen Supraleitern existiert, obwohl er möglicherweise kaum nachzuweisen ist. Es muß sich freilich noch zeigen, wie dieses Wissen praktisch umzusetzen wäre. Zur Zeit versucht man herauszufinden, mit welchen Haftstellen sich die Flußlinien am besten verankern lassen. Es ist schon gelungen, gezielt neue Supraleiter mit besonders hoher Strombelastbarkeit herzustellen. Unser jetziges mikrophysikalisches Verständnis der verschiedenen Flußlinien-Zustände wird dazu beitragen, die für die erhofften Anwendungen erforderlichen Materialien entwickeln zu können.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1993, Seite 46
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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