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Mangelnde Vorsorge

Der Wissenschaftsrat mahnt ein Umdenken bei der Erforschung von Energiesystemen an: Kooperationen seien zu verbessern und staatliche Fördermittel zu erhöhen.


Eine kluge Wirtschafts- und Forschungspolitik solle sich den langfristig verfügbaren Energiesystemen widmen, die ein plausibles Potential für Wirtschaftlichkeit und Akzeptanz in den nächsten Jahrzehnten haben – so die Forderung zehn deutscher Energiewissenschaftler im April 1998. In einem Memorandum stellten sie damals fest, daß sich die Politik offenbar von niedrigen Preisen und ungestörter Versorgung zur Untätigkeit verführen lasse, denn in den meisten Industrienationen seien die öffentlichen Aufwendungen für Energieforschung zurückgegangen. Die Forscher drängten zu einer baldigen Trendwende.

Anfang dieses Jahres nun schloß sich der Wissenschaftsrat dieser Warnung an: Forschung und Entwicklung im Energiebereich sei "eine zentrale Aufgabe der staatlichen Zukunftsvorsorge". Die Mittel dafür müßten in Deutschland innerhalb von drei Jahren um 30 Prozent erhöht werden, damit die wissenschaftliche und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit gesichert werden könne. Die Energieforschung sei bislang zu sehr in kleine und unabgestimmte Aktivitäten zersplittert und nur in einigen Bereichen gut koordiniert.

Vor allem die Universitäten sollten ihre Leistungen steigern, sich auf inhaltliche und örtliche Schwerpunkte konzentrieren und für eine zukunftsorientierte Ingenieurausbildung sorgen, so der Wissenschaftsrat in seiner Stellungnahme. Die bisher fast ausschließlich naturwissenschaftlich-technisch betriebene Energieforschung müsse interdisziplinär werden, in stärkerem Maße wirtschafts-, sozial- und geisteswissenschaftliche sowie ökologische Aspekte einbeziehen und nach neuen Wegen der Energieversorgung suchen, also möglichst viele Optionen offenhalten. Unternehmen sollten Ergebnisse öffentlich geförderter Forschung rascher aufnehmen und umsetzen.

Die am 22. Januar in Berlin verabschiedete Stellungnahme zur Energieforschung geht eingangs auf allgemeine inhaltliche Aspekte ein: die Gewinnung von Primärenergieträgern, die Umwandlungsprozesse bei fossilen, nuklearen und regenerativen Energien sowie bei Brennstoffzellen und der Wasserstofftechnik, die Speicherung, den Transport, die Verteilung und die rationelle Nutzung von Energie, sowie die Anwendungstechnik und die Analyse von Energiesystemen. Strukturelle Aspekte stellt das folgende Kapitel heraus, also das institutionelle Gefüge der Energieforschung, ihre Finanzierung, den Wissens- und Technologietransfer sowie die Akzeptanz in der Öffentlichkeit. Im dritten Teil werden die wichtigsten Einrichtungen der Energieforschung in Deutschland vorgestellt: 15 Universitäten, drei Fachhochschulen sowie 15 ebenfalls überwiegend mit öffentlichen Mitteln geförderte außeruniversitäre Institutionen, darunter fünf Zentren der Helmholtz-Gemeinschaft und zwei Institute der Fraunhofer-Gesellschaft. Der Wissenschaftsrat sieht Energieforschung als Hochtechnologiebereich an, dessen wissenschaftliches und wirtschaftliches Potential gleichwertig neben Informations- und Kommunikationstechnik und Biotechnologie stehe.

Mit dieser Stellungnahme setzt der Wissenschaftsrat seine Begutachtungen zu Stand und Perspektiven wichtiger Forschungsgebiete in der Bundesrepublik fort. Im Gegensatz zu der massiven Kritik in den Bestandsaufnahmen zur Umweltforschung (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1994, S. 124) sowie zur Materialwissenschaft (Spektrum der Wissenschaft, März 1996, S. 113) wird die Energieforschung sowohl strukturell als auch inhaltlich im wesentlichen als gut beurteilt. Bei einigen Institutionen werden allerdings auch Defizite festgestellt.

Optionen offenhalten




Der Wissenschaftsrat will die Vielfalt technisch möglicher Entwicklungspfade nicht bereits auf der Forschungsebene eingeschränkt sehen. Die "Gestaltungsfähigkeit" – zu der Wissen, Information und Kreativität gehörten – sei eine "besondere Ressource". Mit ihrer Hilfe lasse sich zum Beispiel die Energie- und Materialintensität des Wirtschaftens verringern. Eine solche effiziente Nutzung aller Ressourcen ist nicht nur für eine leistungsfähige Energie-Infrastruktur entscheidend, sondern reduziert auch die Energiepreise und die Umweltbelastungen und hilft, Armut und Hunger in der Welt zu verringern.

Will Deutschland in der Energieforschung eine Spitzenposition einnehmen, sind breite und diversifizierte Forschungsansätze erforderlich. Auch weil ein Großteil der fossilen Energieträger durch nachhaltige ersetzt werden soll, muß verstärkt in Forschungsfelder investiert werden, die erst in fernerer Zukunft marktfähige Produkte erwarten lassen. Man könne es nicht allein der Wirtschaft überlassen, deren Engagement an Energieforschung ohnehin nachlasse.

Besonders deutlich wird dies bei den Empfehlungen zu dem traditionellen Bereich der Verbrennung fossiler Energieträger in Kraftwerken und in Motoren. Die – überwiegend an Hochschulen durchgeführte – Forschung versuche vorrangig den Schadstoffausstoß zu mindern und die Effizienz zu steigern. Der wirtschaftlichen Bedeutung dieser Arbeiten werde die staatliche Förderung jedoch nicht gerecht; die Fördermittel seien sogar veringert worden.

Ganz anders die Situation in den USA: 1998 flossen dort 28,5 Prozent der Mittel für Energieforschung in die Verbrennungsforschung; in Deutschland waren es lediglich 4,5 Prozent. Eine wesentlich stärkere langfristige Förderung der Grundlagenforschung hierzulande sei dringlich, so der Wissenschaftsrat.

Auch bei den fossil befeuerten Kraftwerken werden die USA als Vorbild bemüht: Während das amerikanische Energieministerium moderne Kohletechnologien, insbesondere große Gas- und Dampf-Demonstrationsanlagen mit integrierter Vergasungsanlage bis zu 50 Prozent fördere, gebe es in Deutschland dafür keine Mittel. Der Wissenschaftsrat fordert deshalb erhebliche Aufwendungen für interdisziplinäre Forschung und Entwicklung, um den Wirkungsgrad der Kraftwerke noch weiter zu steigern.

In der Kernenergie sieht der Wissenschaftsrat zwar ein "großes Potential zur Reduzierung der Kohlendioxid-Emissionen", doch hält er sich in der Wertung neuer Reaktorentwicklungen – etwa des europäischen Druckwasser- oder eines neuen Siedewasserreaktors – sehr zurück. Die Forschung solle sich künftig überwiegend der Entsorgung und der Reaktorsicherheit widmen. Notwendig seien vor allem die Ausbildung des akademischen Nachwuchses und der Erhalt kerntechnischer Kompetenzen in Deutschland. Damit die Wissenschaft nicht den internationalen Anschluß verliere, sollten die noch verbliebenen kerntechnischen und radiochemischen Forschungseinrichtungen in Deutschland "angemessen" gefördert werden. Ferner solle der Bund verstärkt in Forschungen zur Endlagerung investieren, weil es eine große Herausforderung sei, die Langzeitsicherheit radioaktiver Abfälle zuverlässig zu bewerten.

Die Kernfusion ist zwar für viele Wissenschaftler eine attraktivere Forschungsrichtung, doch ist ungewiß, wann sie wirtschaftlich angewendet werden kann. Der Wissenschaftsrat hält ein Demonstrationskraftwerk in der dritten Dekade des nächsten Jahrhunderts für möglich. Am aussichtsreichsten sei nach heutiger Kenntnis die sogenannte Tokamak-Linie; indes dürfe man sich in der gegenwärtigen Phase des Übergangs von der Grundlagen- zur anwendungsorientierten Forschung nicht zu stark verengen, sondern müsse auch die Stellarator-Linie "in angemessenem Umfang" weiterverfolgen.

Nach den Erfolgen der Plasmaforschung rückt nun das Verhalten des Reaktormaterials bei Einwirkung von Neutronen in den Mittelpunkt der Fusionsforschung. Dafür solle die Anschaffung einer Neutronenquelle mit hoher Flußdichte im Energiebereich um 14 Megaelektronenvolt international geprüft werden. Mehr als bisher müßten Fragen der Sicherheit Beachtung finden. Es gehe dabei "auch darum, den Dialog der Forschung mit der Öffentlichkeit zu intensivieren, um frühzeitig zu einer möglichst breiten Diskussion der auch mit der Fusionsenergie verbundenen Risiken zu gelangen".

Die bewährte internationale Zusammenarbeit in der Fusionsforschung solle fortgesetzt werden. Freilich müsse man die Pläne für neue Großexperimente wie etwa den Internationalen Thermonuklearen Experimentalreaktor (ITER) sorgfältig gegeneinander abwägen. Es sei finanziell nicht tragbar, mehrere Projekte in dieser Größenordnung gleichzeitig zu realisieren.

Erneuerbare Energiequellen hält der Wissenschaftsrat nur in wenigen Bereichen derzeit für konkurrenzfähig; Biomasse decke derzeit immerhin rund zehn Prozent des Primärenergieverbrauchs. Er rät unter anderem dazu, die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zur Produktion und Bereitstellung von Biomasse mit der Verbrennungsforschung und der Anlagentechnik zu verknüpfen.

Wenngleich die Wasserkraft mit einem Anteil von 4,2 Prozent der Stromerzeugung in Deutschland weitgehend ausgeschöpft ist, sieht der Wissenschaftsrat noch Möglichkeiten, die Anlagen zu optimieren. Forschungsbedarf bestehe etwa bei der Auslegung der Maschinen auf den jeweiligen Standort, bei ihrer hydraulischen Qualität, bei ihren Materialien sowie bei Methoden zum räumlichen Berechnen von Wasserströmungen.

Windkraftanlagen decken bisher weniger als ein Prozent der Bruttostromerzeugung, doch die Zuwachsraten sind groß. Zudem stellen sie ein wichtiges Exportprodukt dar. Mit rund 5200 Anlagen und 2000 Megawatt installierter Leistung nimmt Deutschland innerhalb der Europäischen Union den ersten Rang ein. Windkraftwerke werden wegen ihrer Größe und des Lärms oft als umweltbelastend empfunden. Der Forschung käme also die Aufgabe zu, Geräuschemissionen zu mindern und die Anlagen besser in die Landschaft zu integrieren. Des weiteren würden technische Lösungen gebraucht, die den Stromertrag erhöhen und die Stromerzeugungskosten senken.



Zersplitterte Forschung




Über Windenergienutzung forschen mehr als 20 Universitäten und außeruniversitäre Einrichtungen. Der Wissenschaftsrat wünscht eine stärkere Konzentration der Arbeiten an einem Ort. Er räumt einer Universität in Küstennähe, wo die meisten Windanlagen stehen, gute Entwicklungschancen ein, wenn sie sich mit der außeruniversitären Forschung und der Industrie verbündete.

Im Gegensatz zur Nutzung geothermischer Energie, deren Technik weitgehend ausgereift sei, sieht der Wissenschaftsrat für die Umwandlung von Solarenergie einen großen Forschungsbedarf. Langfristig könnte die Photovoltaik einen wichtigen Beitrag zur Energieversorgung leisten, doch müsse die Forschung erst noch weitere Fortschritte machen, um solcherart erzeugten Strom kostengünstiger in die Verbundnetze einspeisen zu können.

In der Forschung und Entwicklung sowie in der industriellen Produktion von Photovoltaik-Anlagen ist Deutschland führend neben den USA und Japan. Von besonderer Bedeutung seien die Forschungsverbünde, doch stellt der Wissenschaftsrat auch eine "ausgeprägte Zersplitterung" auf wenig ergiebige Kleinprojekte an nahezu allen der 76 Institutionen fest, die Photovoltaik-Forschung betreiben.

Der geringe Beitrag der Solarthermie zur Deckung der Niedertemperaturwärme in Deutschland könne nur durch Kostenreduktion und verbesserte Technik erhöht werden. Effizientere Kollektoren, wirtschaftlichere Gesamtsysteme, Mehrtagespeicher und eine bessere Einbindung der Anlagen in die Energieversorgungssyteme seien Aufgaben künftiger Forschung.

Große Potentiale werden in der Brennstoffzellentechnologie gesehen. Ihre Entwicklung sollte deshalb nachdrücklich gefördert werden. Demonstrations- und Pilotprojekte in enger Kooperation von Industrie und Wissenschaft – gefördert über besonders flexible Instrumente wie Verbundprojekte und Sonderforschungsbereiche – werden favorisiert. In der Wasserstofftechnologie sollte sich die öffentliche Förderung auf Grundlagenuntersuchungen und konkrete anwendungsorientierte Projekte konzentrieren.

Auch in den Bereichen Transport, Verteilung und Speicherung von Energie sieht der Wissenschaftsrat Forschungsbedarf, obwohl deutsche Unternehmen hierbei weltweit führend sind. Er legt nahe, außer an Materialien und Komponenten auch an der Stabilität ausgedehnter Netze und der Sicherung der Spannungsqualität zu arbeiten.

Die rationelle Energienutzung stehe als ein primäres Mittel zur Schonung der Ressourcen nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Forschung noch vielfach im Hintergrund. Grundlegende und umfassende Untersuchungen dazu gebe es bisher nicht. Der Wissenschaftsrat schlägt darum "ein ganzheitliches energetisches und ökologisches Bilanzieren und Kumulieren von Prozeßketten für Produkte und Dienstleistungen" vor. Damit könne auch dem einzelnen Nutzer deutlich gemacht werden, wo und warum er zum Beispiel energiesparend bauen sollte.

Der öffentliche Diskurs darüber und zu Fragen der Akzeptanz von Energietechniken darf sich nicht auf Naturwissenschaften und Technik beschränken. Auch die sozialwissenschaftliche Forschung ist hier gefordert. Der Wissenschaftsrat will mehr Vertrauen zwischen Wissenschaft, Industrie, Öffentlichkeit und Politik in Energiefragen erreichen. Insbesondere das Wissenschaftssystem, das für sich eigene Kommunikationsregeln entwickelt hat, sollte solche auch für die Kommunikation mit Außenstehenden etablieren


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1999, Seite 104
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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