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Mathematik von A bis Z. Eine alphabetische Tour durch vier Jahrtausende.

Aus dem Amerikanischen
von Eberhard Schmitt.
Birkhäuser, Basel 1996.
360 Seiten, DM 68,-.

Wer Mathematik – ob in Industrie, Universität oder Schule – betreibt, wird früher oder später mit etlichen immer gleichlautenden Fragen konfrontiert: Was tut ein Mathematiker den ganzen Tag? Was lernt man in einem Mathematik-Studium? Wozu ist Mathematik eigentlich gut? Gibt es in der Mathematik überhaupt noch etwas Neues zu entdecken? Was sind Mathematiker für Menschen? Gibt es da auch Frauen?

Auf all dies läßt sich seit kurzem mit einem einzigen Satz antworten: Man lese das vorliegende Buch. Wer das tut, findet nicht nur eine umfassende Antwort auf die Standardfragen, sondern kann auch noch eine ganze Menge Mathematik lernen und sich obendrein köstlich amüsieren – womit zugleich die Frage nach der Nützlichkeit von Mathematik vom Tisch ist.

Entgegen dem irreführenden deutschen Titel handelt es sich nicht um ein trockenes Lexikon, sondern um eine Reise durch "The Mathematical Universe" (so das englische Original), bei der die Namen der Zwischenstationen so gewählt sind, daß ihre Anfangsbuchstaben in alphabetischer Reihenfolge auftreten. Diese Reise ist spannend, lehrreich und unterhaltsam zugleich – von Gutenachtgeschichten, wie der Umschlagtext sie verspricht, kann keine Rede sein. Manche Kapitel lassen sich unabhängig lesen; aber erst die Lektüre am Stück zeigt, daß die aufgrund ihrer langen, reichen Entwicklung vielschichtige und dennoch klare Struktur der Mathematik gerade ihre Faszination ausmacht.

Das Buch selbst reflektiert in seiner Gesamtheit, sowohl in der Auswahl der Themen und des logischen Aufbaus als auch in der Darstellung, das mathematische Universum. Besonders zu danken ist William Dunham, Professor am Muhlenberg-College in Allentown (Pennsylvania), daß er auch die Menschen schildert, die zu diesem Kosmos gehören und seine Entwicklung beeinflussen. Entgegen den folkloristischen Vorurteilen sind es keineswegs immer unfehlbare Geistesheroen oder verschrobene Einzelgänger. Auch daß in der Mathematikgeschichte und in der aktuellen Forschung nur wenige weibliche Namen zu finden sind, diskutiert Dunham sachlich als rein gesellschaftliches Problem, während selbst heute noch mancher Fachkollege das auf mangelnde Befähigung zurückführt.

Dunham vermittelt nicht nur mathematische Sachverhalte, sondern macht immer wieder klar, wie Mathematik funktioniert. Er erklärt, was ein mathematischer Beweis ist, und weist auf die unter Laien nur wenig bekannte Tatsache hin, daß das Finden von Beweisen das tägliche Brot des forschenden Mathematikers ausmacht. Indem er die Arbeitsweise berühmter Wissenschaftler wie Leonhard Euler (1707 bis 1783) oder Archimedes (287 bis 212 vor Christus) beschreibt, führt er konkret vor, wie Mathematik entsteht.

Ebenso intelligent und klar schildert Dunham das Spannungsfeld zwischen reiner und angewandter Mathematik. Während andere Autoren ihre Leser oft durch besonders anwendungsbezogene Themen zu ködern versuchen, um die reine Mathematik, etwa die Zahlentheorie, als schmückendes Beiwerk unterzubringen, beschreibt er die Charakteristika beider Richtungen mit gleichem Gewicht anhand klug gewählter und leicht verständlicher Beispiele.

Nicht nur das: Er fängt mutig mit einem Fach an, das als besonders trocken gilt – A wie Arithmetik. Es gelingt Dunham ebenso, das Wesen ihrer Weiterentwicklung, der Zahlentheorie, zu schildern, wie auch den Primzahlsatz plausibel zu machen; nebenbei führt er den Prototyp eines eleganten Beweises vor, nämlich den des Euklid dafür, daß es unendlich viele Primzahlen gibt. In die Darstellung mathematischer Sachverhalte sind Beschreibungen historischer Entwicklungen des Fachs und Biographisches eingeflochten – auch über die wenigen Frauen, die an dieser Entwicklung beteiligt waren. Zitate vermitteln, was Mathematiker an ihrem Forschungsgegenstand fasziniert und daß gerade die wenig anwendungsbezogene Zahlentheorie vielen als Einstieg in die höhere Mathematik gedient hat.

Kapitel A ist in verschiedener Hinsicht exemplarisch für das gesamte Buch: Die mathematischen Sachverhalte sind kurz und präzise, aber didaktisch hervorragend dargestellt, die historischen Exkursionen gut recherchiert und durch viele Zitate lebendig gestaltet, und der Stil ist kurzweilig.

Sowohl historisch als auch inhaltlich sind die Themen breit gestreut. Außer einer Einführung in die Zahlentheorie erhält man einen Einblick in die Grundkonzepte der Wahrscheinlichkeitstheorie sowie in die Entwicklungsgeschichte und die Anwendungen der Differential- und Integralrechnung. Dabei ist ein ganzes Kapitel der Kontroverse zwischen deren Schöpfern Isaac Newton (1643 bis 1727) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis 1716) gewidmet.

Immer wieder diskutiert Dunham unter verschiedenen Aspekten die Geometrie, sowohl die klassische der antiken Griechen als auch die im 17. Jahrhundert von René Descartes (1596 bis 1650) und Pierre de Fermat (1601 bis 1665) entwickelte analytische Geometrie. Erstere dient als Reservoir für klar strukturierte und mit wenig Vorkenntnissen nachvollziehbare Beweise und Beweistechniken.

Vorgestellt wird auch die Begriffsgeschichte der rationalen und der komplexen Zahlen. Durch die Einführung der letzteren ist es dem Autor möglich, die mathematische Beziehung eip+1=0 zu formulieren, die einige der wichtigsten mathematischen Konstanten auf erstaunliche Weise miteinander in Zusammenhang bringt. Gegen Ende des Buches macht er damit die Verflechtung völlig verschiedener Entwicklungslinien der Mathematik eindringlich klar.

Von einem der Hauptsätze der Zahlentheorie bis zum Fundamentalsatz der Algebra streift Dunham eine ganze Reihe grundlegender mathematischer Konzepte, ohne jemals oberflächlich oder ungenau zu sein – in diesem Fach ein äußerst ungewöhnliches Kunststück.

Außer den Praktikern des Fachs und interessierten Laien ist dieses rundum gelungene Buch besonders Mathematiklehrern zu empfehlen. Es ist eine Fundgrube an didaktisch hervorragend präsentierten Beispielen, die veranschaulichen, wie vielfältig und interessant Mathematik sein kann.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1997, Seite 115
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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