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Mechanosensoren im Außenskelett von Gliederfüßern

Spezielle Sinnesorgane von Insekten, Krebs- und Spinnentieren registrieren beim Laufen kleinste Verformungen im Außenskelett. Die gewonnene mechanische Information nutzen die Tiere, um ihre Beinbewegungen zu kontrollieren. Diese Methode könnte die Konstruktion mehrbeiniger Laufroboter erleichtern.

Wann immer Schaben in eine Ritze fliehen, Jagdspinnen verlorene Beute suchen oder Strandkrabben im Seitwärtsgang in die anbrandenden Wellen eilen – stets verlassen sie sich dabei auf spezielle Sensoren, um die sie viele Ingenieure beneiden. Diese winzigen Sinnesorgane in den Beinen von Gliederfüßern erfassen geringfügige, unter Belastung auftretende Verformungen des harten Außenskeletts und arbeiten dabei analog zu Dehnungsmeßstreifen. An Empfindlichkeit nehmen sie es mit elektronischen Geräten auf. Sie übertreffen diese sogar, indem sie zugleich Kontrollfunktion ausüben: Sie steuern reflektorisch die Laufbewegungen und können dem Tier helfen, sich in bestimmten Situationen Bewegungsabfolgen zu merken, um später zum Ausgangsort zurückzufinden.

Die Untersuchung solcher Sensoren ist auch von technischem Interesse, speziell für die Robotik. Bei der Konzeption von Maschinen, die auf unwegsamem, für Räderfahrzeuge nicht zu bewältigendem Gelände – auch auf anderen Himmelskörpern – vorankommen sollen, hat man sich bevorzugt für insektenähnliche Automaten entschieden, weil sie theoretisch die beste Lagestabilität gewährleisten (selten sieht man eine Schabe im Lauf straucheln und stürzen). Mit der praktischen Umsetzung hapert es noch: Der wohl bekannteste Roboter dieser Art ist "Dante" mit acht Laufbeinen wie eine Spinne, nicht nur sechs wie ein Insekt; er wurde Anfang der neunziger Jahre in Vulkankrater in Alaska und der Antarktis hinuntergeschickt. Doch er verlor an holprigen Steilhängen die Balance und hatte noch mit anderen mechanischen Problemen zu kämpfen; nie erreichte er auch nur annähernd die Grazie und Behendigkeit seines lebenden Vorbilds. Die nun ermittelte Funktion natürlicher Dehnungssensoren von Gliederfüßern könnte in Verbindung mit deren lokomotorischen Eigenheiten wie Gangart und Körperhaltung Anregungen zum Bau trittsicherer Automaten geben.

Dehnungsmesser

Physikalisch ist Dehnung definiert als das Verhältnis der Längenänderung eines Objekts (unter Beanspruchung) zur Ausgangslänge. Bei Zug verlängert sich ein Körper in dessen Hauptrichtung, bei Druck (bei Kompression) verkürzt er sich; man spricht dann von negativer Dehnung oder Stauchung. Technische Dehnungsmeßstreifen haben auf einem isolierenden Träger eine Metallfolie oder einen flexiblen Halbleiter; der elektrische Widerstand dieser Materialien ändert sich proportional mit der Dehnung.

Ein vertrautes Anwendungsbeispiel findet sich in der elektronischen Badezimmerwaage. Je nach Belastung biegt sich ihr Wägebalken durch – und mit ihm ein darauf angebrachter Meßstreifen, der die mechanische Änderung in ein elektrisch analoges Signal umwandelt. Die digitale Anzeige gibt dann das entsprechende Gewicht an.

Dehnungsmesser komplexerer Bauart finden in der Industrie breite Anwendung. Ihr leitendes Material ist oft in einem Mäander- oder Gittermuster angeordnet. Dadurch erhöht sich die Meßempfindlichkeit, da mehrere parallel erfaßte Werte addiert werden. Die versetzte Anordnung mehrerer Meßaufnehmer am selben Ort bringt zudem Richtungsempfindlichkeit. Mit solchen Meßstreifen prüft man beispielsweise die Belastbarkeit von Werkstoffen und Bauteilen für Gebäude, Brücken, Automobile und Flugzeuge.

Dehnungsmesser sind eine recht junge technische Errungenschaft, aber eine alte biologische: Gliederfüßer nutzen sie seit ihrem ersten fossil überlieferten Auftreten vor mehr als 300 Millionen Jahren. Bei jeder der drei hier angesprochenen Hauptgruppen – Insekten, Spinnen- und Krebstiere – haben sich eigene Versionen solcher Sinnesorgane herausgebildet, die Verformungen der Cuticula registrieren (sie umhüllt die gesamte Körperoberfläche und dient als Außenskelett). Cuticulare Sinnesorgane wie diese bezeichnet man in der Zoologie auch als Sensillen. Unterschieden wurden sie ursprünglich nach ihren äußeren Strukturen.

Die Dehnungssensoren der Insekten sind die Sinneskuppeln oder campaniformen Sensillen (nach lateinisch campana für Glocke; Bild 2 links). Sie treten teilweise zu auffälligen Gruppen zusammen. Bei Spinnen hat das Organ die Form eines Spalts in der Cuticula, den außen eine hauchdünne Membran verschließt. Auf den Beinen liegen mehrere solcher Spaltsinnesorgane jeweils als Gruppe dicht beieinander. Da sie dann oft ähnlich wie die Saiten einer Leier angeordnet sind, bezeichnet man das Ganze als lyraförmiges Organ (Bild 2 rechts). Die verschiedenen Dehnungssensoren von Krebsen – hier der Einfachheit halber insgesamt als kraftsensitive Organe bezeichnet – sehen in der Regel von außen wie feine Kanäle aus, die kurz unter der Oberfläche des Panzers blind enden (Bild 2 Mitte).

Trotz gewisser Unterschiede im Feinbau stehen alle drei Typen von Sensoren auf ähnliche Weise mit dem Zentralnervensystem in Verbindung. Aufgenommen wird der mechanische Reiz vom sensiblen Fortsatz (dem Dendriten) einer oder mehrerer Sinnesnervenzellen unter dem Außenskelett. Eine in diesem Bereich einwirkende Kraft deformiert nämlich über das Außenskelett auch die angekoppelte sensible Spitze. Die erregte Zelle antwortet darauf mit salvenartigen elektrischen Entladungen – man sagt, sie feuert. Die Nervenimpulse leitet sie über ihre abgehende, lange Faser (das Axon) bis zu einer zentralnervösen Instanz (den zuständigen Ganglien) weiter.

Die Anatomie dieser Sinnesorgane von Gliederfüßern war in ihren Grundzügen schon relativ früh bekannt, ihre Funktion aber wurde erst mit dem Aufkommen moderner elektrophysiologischer Registriermethoden in den dreißiger Jahren klar. Kern des hierfür nötigen Instrumentariums sind elektronische Verstärker, mit denen sich die schwache elektrische Aktivität von Nervenzellen erfassen läßt.

Der erste, der cuticulare Mechanosensoren von Gliederfüßern auf diese Weise auf ihre Funktion hin untersuchte, war John W. S. Pringle von der Universität Oxford (England). Ihm fiel die immer gleiche Anordnung der Organe und die konsistente Orientierung der einzelnen Sensillen zueinander auf. Insbesondere letzteres wies auf eine Richtungsempfindlichkeit solcher Dehnungsmesser hin. Außerdem konzentrierten sich die Sinnesorgane in kritischen, besonders belasteten Bereichen des Außenskeletts, nämlich in Nähe der Gelenke und der Spitze der Beine. Wie Pringle ferner feststellte, traten sie in Gruppen oft dort auf, wo Muskelsehnen am Außenskelett ansetzen; dies legte nahe, daß sie auf Dehnungen ansprechen, die von Kontraktionen der Muskeln im Inneren der Beine verursacht werden.

In neuerer Zeit haben Reinhard Blickhan und Friedrich Barth, damals an der Universität Frankfurt am Main, in bemerkenswerten Experimenten die extreme Empfindlichkeit der Gliederfüßer-Sensoren belegt. Ihr Versuchsobjekt war die tropische Jagdspinne Cupiennius salei (erwachsen erreicht sie eine diagonale Beinspannweite von ungefähr 10 Zentimetern). Mit Miniaturmeßstreifen, die unmittelbar an den Gliedern eines Beines angebracht wurden, vermochten sie lokale Dehnungen der Cuticula direkt zu bestimmen. Aus den Ergebnissen war zu folgern, daß die Cuticula dort umgerechnet pro Gewichtseinheit fast die gleiche Steifigkeit aufweist wie menschlicher Knochen (beide haben einen Elastizitätsmodul in der Größenordnung von zehn Gigapascal – ungefähr eine Tonne pro Quadratmillimeter). Daß die Spaltsinnesorgane Dehnungen in einem derart steifen Material erfassen können (und übrigens auch auf Boden- oder Luftvibrationen ansprechen), zeugt von hohem Leistungsvermögen: Sie sind gegenüber mechanischer Reizung praktisch genauso empfindlich wie die Schallrezeptoren im menschlichen Innenohr.

In elektrophysiologischen Untersuchungen hat man sich eingehend mit der ausgeprägten Richtungsempfindlichkeit der Sensoren im Arthropoden-Bein befaßt. So wiesen Stanley M. Spinola und Kent M. Chapman von der Brown-Universität in Providence (Rhode Island) nach, daß die Sensillen von Insekten am besten auf Kräfte ansprechen, die ihre leicht ovalen Kappen rechtwinklig zur Längsachse zusammendrücken. Barth – inzwischen an der Universität Wien – und seine Mitarbeiter entdeckten ähnliches bei den Spaltsinnesorganen von Spinnen. In bestimmten lyraförmigen Organen unterscheiden sich die Einzelspalte stark in der Länge. Wie Barth feststellte, reagieren die langen randständigen davon besonders empfindlich, weil sie relativ leicht verformbar sind (rasterelektronenmikroskopische Aufnahme in Bild 2 rechts). Darüber hinaus sind in vielen Organen die Spalte fächerförmig in einem bestimmten Winkel zueinander angeordnet. Dadurch vermag eine Spinne die Richtung einwirkender Kräfte genau zu bestimmen. Elektrophysiologischen Untersuchungen an Krabben zufolge sind deren Sensoren ebenfalls richtungsempfindlich, allerdings ist die mechanische Basis hierfür noch ungeklärt.

All diese Untersuchungen hatten jedoch offen gelassen, welche Rolle die Sinnesorgane tatsächlich bei der Bewegungssteuerung der Tiere spielen. Der Frage begannen deshalb mehrere Wissenschaftler, darunter auch wir, im Detail nachzugehen.


Eine Schabe als Modell

Ein hierfür hervorragend geeignetes Versuchstier ist die amerikanische Küchenschabe (Periplaneta americana). Im Haushalt eine wahre Plage, ist sie für den biomechanisch interessierten Forscher ein ideales Laufmodell: Diese wehrlosen Insekten verlassen sich ganz auf ihre flinken Beine, um sich in Sicherheit zu bringen.

Ihre Dehnungsrezeptoren sind über eine steife ovale cuticulare Kappe an das Außenskelett gekoppelt. Auf dem als Schiene oder Tibia bezeichneten Beinglied, unterhalb des Knies gewissermaßen, liegen sie in zwei Gruppen beieinander: Bei der körpernäheren Gruppe ist das Oval quer zum Bein ausgerichtet, bei der körperferneren hingegen längs dazu (Bild 2 linkes Mikrophoto sowie Bild 3 links oben). Technische Dehnungsmeßstreifen – abgekürzt DMS – werden häufig nach demselben Prinzip angebracht, um die in verschiedenen Richtungen unterschiedlich einwirkenden Kräfte zu erfassen; bei abwechselnd rechtwinkliger Orientierung zueinander spricht man von zweiachsigen 90-Grad-DMS-Rosetten.

Um herauszufinden, wie die Sensorgruppen die Muskelaktivität beeinflussen, gingen wir in Etappen vor. Zuerst untersuchten wir, welche passiven, also von uns herbeigeführten Beinbewegungen unterhalb des "Kniegelenks" die jeweilige Gruppe erregen. Um Eigenbewegungen zu vermeiden, fixierten wir die körpernahen Beinglieder mit Klammern. Zur Registrierung der sensorischen Aktivität implantierten wir feine Kupferdrähte nahe bei dem Nerven, in dem die Axone der Rezeptoren verlaufen. Die querstehenden Sensillen antworteten, wie sich zeigte, bei passiver Auslenkung der unteren Beinglieder nach oben; dabei biegt sich die Oberseite der Tibia durch, so daß dort Kompressionskräfte in Längsrichtung der Extremität wirken. Genau umgekehrt verhält es sich bei passiver Auslenkung des Beinendes nach unten: Hierbei entstehen an der Oberseite der Tibia Querkräfte, welche die längs stehenden Sensorkappen komprimieren.

Im nächsten Versuchsschritt, wieder an festgelegten Tieren, reizten wir einzelne Sensillen direkt, und zwar durch leichtes Drücken ihrer Kappe mit einem feinen Wolframdraht von wenigen Mikrometern Durchmesser. Zugleich verfolgten wir die elektrische Aktivität der beiden Muskeln, die normalerweise die Tibia bewegen (Bild 3 Mitte). Reizung quer orientierter Sensillen erregte reflektorisch den Streckmuskel für die Tibia (er entspricht funktionell dem menschlichen Quadrizeps, dem Kniegelenkstrecker; Bild 3 rechts). Druck auf eine längs ausgerichtete Kappe hingegen unterdrückte die Aktivität dieses Muskels.

Selbst wenn man Schaben völlig fixiert, also alle aktiven Bewegungen der Beingelenke blockiert hat, lassen sich experimentell Muskelkontraktionen hervorrufen. Die Muskeln arbeiten dann gegen einen Widerstand an, ohne sich verkürzen zu können (was man als isometrische Kontraktion bezeichnet), und verformen dabei das Exoskelett etwas.

In der Tat sprachen die Sensoren auch auf Dehnungen an, die von diesen Kontraktionen der Beinmuskeln selbst herrührten, womit sich unsere früheren Vermutungen bestätigten. Die Rezeptoren mit quer orientierten Kappen feuerten ausschließlich während der Kontraktion des Beugemuskels für die Tibia (er entspricht funktionell den Beugemuskeln für das menschliche Knie), die anderen dagegen nur während der Kontraktion des Streckmuskels. Demnach erfüllen die campaniformen Sensillen auf den Schabenbeinen ganz ähnliche Funktionen wie einfache technische Dehnungsmeßstreifen.

Am fixierten Tier läßt sich allerdings nicht untersuchen, wie sie die natürliche Laufbewegung kontrollieren. Dazu mußten wir die sensorische Nervenaktivität beim freilaufenden Tier aufzeichnen und mit der Tätigkeit von Beuge- und Streckmuskulatur korrelieren. Jeder Schritt eines Beins setzt sich aus zwei alternierenden Bewegungsfolgen zusammen: In der Schwungphase wird die Extremität angehoben, angewinkelt und nach vorne geschwungen, in der Stemmphase dann aufgesetzt und nach hinten abgestemmt. Während dieser letzten Phase muß das Bein das Tier tragen und ihm gleichzeitig Vortrieb verleihen; dazu kontrahiert sich der Streckmuskel. Der Beugemuskel tut dies hingegen während der Schwungphase (Bild 4).

Während des Laufens registrierten wir die sensorische Nervenaktivität wie beschrieben und simultan dazu die Muskelkontraktionen über separat implantierte Elektrodendrähte. Es zeigte sich ein konsistentes Aktivitätsmuster. Zu Beginn der Stemmphase, wenn das Tier ein Bein auf den Boden setzt und sein Gewicht darauf verlagert, biegt sich die Oberseite der Tibia unter der Belastung durch und erregt die quergestellten Sensoren; diese veranlassen den Streckmuskel, sich reflektorisch zusammenzuziehen, was der Schabe Vorschub verleiht. Seine anhaltende Kontraktion verformt schließlich die Unterseite der Tibia. Dies wiederum aktiviert die Rezeptoren mit den längs ausgerichteten Kappen. Ihr Feuern kehrt den Prozeß praktisch um: Es hemmt den Streckmuskel, beendet somit dessen Kontraktion und die daraus resultierenden Verformungen des Außenskeletts. Zugleich aktiviert es den Beugemuskel, der das Bein anhebt und nach vorn schwingt, um einen weiteren Schritt einzuleiten. Über die Richtungsinformationen der Dehnungssensoren werden somit kontinuierlich die aufeinanderfolgenden, entgegengesetzten Biegekräfte in der Beincuticula erfaßt und die Schreitbewegungen reflektorisch über antagonistisch wirkende Muskeln geregelt.


Krabbenbeine in der Klemme

Dehnungssensoren können auch komplexere Koordinierungsaufgaben lösen helfen. Zehnfüßerkrebse beispielsweise sind mit noch schwierigeren Problemen konfrontiert als eine sechsbeinige Schabe. Zum einen haben sie – wie eben der Name besagt – zehn Beine, was mehr Koordination untereinander erfordert (das erste Paar Schreitbeine trägt allerdings kräftige Zangen und wird kaum zur Fortbewegung eingesetzt). Zum anderen laufen viele Krebse seitwärts, darunter die an europäischen Küsten heimische Strandkrabbe (Carcinus maenas). Darum müssen ihre Beine, anders als bei Schaben, je nach Laufrichtung imstande sein, den Körper zur Seite zu ziehen wie auch zu stemmen.

Die relevanten Sensoren der Krabbe konzentrieren sich am Endglied der Beine (dem Dactylus) und nicht nahe beim "Knie" wie bei den Schaben. Diese Lage scheint geradezu ideal zu sein, um die über die gesamte Extremität einwirkenden Kräfte zu erfassen: Die Sensillen sprechen sowohl auf das Verbiegen des Endglieds als auch auf Dehnungen an, die durch Muskelkontraktionen verursacht werden. Außerdem modulieren sie die Aktivität des wichtigsten Laufmuskels der Krabbe, des Depressors (Drückers), der das Bein in der Stemmphase gegen den Untergrund drückt.

Die kraftsensitiven Organe der Strandkrabbe sind offenbar an der Kontrolle von wesentlich komplexeren Aufgaben beteiligt als dem Auslösen von einfachen Reflexen in einem Bein. Entdeckt haben dies Fred Libersat und François Clarac am Labor des französischen Nationalzentrums für wissenschaftliche Forschung (Centre National de la Recherche Scientifique, CNRS) in Arcachon. Sie analysierten die Koordination der Laufbewegungen, nachdem sie das Endglied eines Beines in eine kleine Zwinge geklemmt hatten, die sich mit einer Schraube festziehen ließ (Bild 5 rechts). Die resultierende gleichbleibende leichte Verformung des Glieds reizte die darauf gelegenen Sensoren kontinuierlich.

Dies hatte mehrere Effekte. Zum einen verminderten sich Intensität und Dauer der Kontraktion des Depressormuskels im betroffenen Bein erheblich. Zum anderen feuerten seine Pendants in den Nachbarbeinen nun bei jedem Schritt deutlich länger und auch nicht mehr relativ gleichzeitig, sondern alternierend (Bild 5 links). Anders gesagt: Sobald ein Bein experimentell belastet wird, signalisieren die erregten Sensoren dem zuständigen Depressormuskel, seine Aktivität zu drosseln, und veranlassen die der benachbarten Beine, das scheinbar zusätzliche Gewicht in koordinierter Weise aufzunehmen. Meldungen aus einem Bein beeinflussen demnach die Bewegungsweise und Koordination der anderen, und zwar so, daß hieraus insgesamt sinnvolles Verhalten resultiert.


Bewegungsgedächtnis

Wie komplex und zugleich subtil die Rolle solcher Sinnesorgane sein kann, demonstriert die sogenannte kinästhetische Orientierung von Spinnen. Dabei speichert das Tier Informationen über vorausgegangene Laufbewegungen und ruft sie aus seinem Gedächtnis ab, um beispielsweise den Weg zu verlorengegangener Beute wiederzufinden.

Setzt man ein hungriges Jungtier der tropischen Jagdspinne Cupiennius salei mit zulackierten Augen in eine genau waagerecht ausgerichtete Testarena und präsentiert ihm eine surrende Stubenfliege, so lokalisiert es die Beute rasch über Luft- oder Bodenvibrationen und lähmt sie durch einen Biß mit seinen Giftklauen (bei der nächsten Häutung wird mit der alten Cuticula auch der Lack abgestreift). Wird die Spinne anschließend vorsichtig von ihrem Opfer getrennt und ein Stück zurückgescheucht, so dreht sie sich um und kehrt zum Fangort zurück, obgleich die – nun bewegungslose – Fliege inzwischen anderswo in der Arena plaziert wurde (Bild 6 links).

Vertreibt man die Spinne auf einem kurvenreichen Umweg vom Fangort, kehrt sie auf diesem nicht einfach zurück, sondern wählt die direkte Strecke, schneidet also die Kurven. Hiermit gibt sie zu erkennen, daß sie sich die Position der zurückgelassenen Beute gemerkt hat.

Für diese Orientierungsleistung spielen Seh-, Geruchs- oder Schweresinn keine Rolle. Die Tiere verlassen sich dabei auf ihre Dehnungssensoren, speziell auf ihre lyraförmigen Organe in der Nähe der Beingelenke. Sobald man zum Beispiel einzelne Organe auf den Tibien durch eine kleine Operation zerstört, sind die Spinnen bei der versuchten Rückkehr zur Beute desorientiert: Sie starten in die falsche Richtung und scheinen ihren Irrtum auch nicht mehr korrigieren zu können, so daß sie schließlich den Zielort verfehlen (Bild 6 rechts).

Das normale Lokomotionsverhalten und die Fähigkeit, Beute zu fangen, wird durch den Ausfall von einzelnen Sensoren nicht erkennbar beeinträchtigt – nur die Fähigkeit, verlorene Beute wiederzufinden. Diese Jagdspinnen sind normalerweise nachts aktiv; in der Dunkelheit, ohne äußere Orientierungshilfen verlassen sie sich offenbar auf Informationen, die ihnen ihre Dehnungsrezeptoren über die eigenen Bewegungen liefern.

Vorbilder für Roboter?

Ingenieure verschiedener Institutionen versuchen mittlerweile, mit geeigneter Anordnung und Verschaltung einfacher Sensoren Robotern zu ähnlich komplexen Leistungen zu verhelfen, wie Gliederfüßer sie vorweisen. Zum Beispiel hat Ken S. Espenschied zusammen mit Roger D. Quinn, Randall D. Beer und deren Mitarbeitern an der Case-Western-Reserve-Universität in Cleveland (Ohio) sechsbeinige Roboter konstruiert, bei denen die dezentrale nervöse Steuerung der Insekten als Vorbild diente. Die Bewegungen werden hierbei nicht von einem einzigen zentralen Prozessor kontrolliert, sondern getrennt und verteilt in aufeinanderfolgenden Segmenten. Diese Roboter schaffen es immerhin, recht schnell über einen Rost mit weit auseinanderstehenden Latten zu schreiten. (Auch in Deutschland – so im Team von Holk Cruse an der Universität Bielefeld – hat man insektenähnliche Laufmaschinen gebaut und sich bei den Größenverhältnissen und der Bewegungssteuerung am natürlichen Vorbild orientiert; Spektrum der Wissenschaft, März 1995, Seite 111.)

Mit solchen Design- und Funktionsprinzipien lassen sich einige der Probleme überwinden, mit denen man bei anderen mehrbeinigen Robotern zu kämpfen hat. Viele müssen nämlich mühsam Informationen aus zahlreichen Sensoren verarbeiten, ehe sie überhaupt einen Schritt tun können.

Roboter, die so behend und lagestabil wie ein Gliederfüßer sind, ließen sich vielseitig einsetzen. Sie wären hervorragend für gefährliches, tückisches Terrain geeignet, auf dem für Räderfahrzeuge kein Fortkommen ist. Untersuchungen von Giftmülldeponien und die Erforschung von Kratern auf Erde, Mond und Mars gehören zu den häufig genannten Einsatzmöglichkeiten. Es gibt aber noch anspruchsvollere Anwendungen; so versucht etwa die US-Marine, krabbenähnliche Roboter zu entwickeln, die aus Schiffen herausspringen, zum Strand laufen und nach Minen suchen können.

Doch wird es noch geraume Zeit dauern, bis ein künstlicher Arthropode sich so leichtfüßig und sicher fortbewegt wie seine natürlichen Vorbilder. Insekten, Krabben und Spinnen jedenfalls nutzen die Gesetze der Mechanik und die Möglichkeiten neuronaler Steuerung in so vielseitiger Weise, daß wir sie erst langsam zu verstehen beginnen.

Literaturhinweise

- The Exoskeleton and Insect Proprioception. Von S. N. Zill und D. T. Moran in: Journal of Experimental Biology, Band 91, Seiten 1 bis 24 und 57 bis 75, 1981.

– Spider Proprioception: Receptors, Reflexes, and Control of Locomotion. Von E.-A. Seyfarth in: Neurobiology of Arachnids. Herausgegeben von F. G. Barth, Springer-Verlag 1985.

– Force-Sensitive Mechanoreceptors of the Dactyl of the Crab: Single-Unit Responses during Walking and Evaluation of Function. Von F. Libersat, F. Clarac und S. Zill in: Journal of Neurophysiology, Band 57, Heft 5, Seiten 1618 bis 1637, Mai 1987.

– Biological Neural Networks in Invertebrate Neuroethology and Robotics. Herausgegeben von R. D. Beer, R. E. Ritzmann und T. McKenna, Academic Press 1993.

– Intracellular Characterization of Identified Sensory Cells in a New Spider Mechanoreceptor Preparation. Von E.-A. Seyfarth und A. S. French in: Journal of Neurophysiology, Band 71, Heft 4, Seiten 1422 bis 1427, April 1994.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1996, Seite 56
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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