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Astrophysik: Methusalem-Sterne

Vor wenigen Jahren noch schienen manche Sterne älter zu sein als das Universum. Korrekturen in der Kosmologie, aber auch modifizierte Sternmodelle und neue Daten haben die Krise entschärft.


Vor einigen Jahren machte die "kosmologische Alterskrise" Schlagzeilen: Die Messung der kosmischen Expansionsgeschwindigkeit hatte für das Universum ein Alter von maximal 14 Milliarden Jahren ergeben. Die ältesten Sterne des Alls wurden hingegen auf mindestens 15 Milliarden Jahre geschätzt. Die offensichtliche Diskrepanz – schließlich können auch Kinder nicht älter sein als ihre Mütter – gab den Astronomen Rätsel auf. Heute spricht kaum jemand noch von einer Alterskrise. Was hat sich geändert?

Die Wissenschaftsgeschichte bietet eine Fülle vergleichbarer Diskrepanzen, und meistens löste ihre Überwindung bedeutende Erkenntnisschübe aus. So stimulierte die Debatte über das Alter der Erde Charles Darwin zu seiner Evolutionstheorie. Kontroversen über das Alter der Sonne konnten die Astrophysiker erst beilegen, nachdem sie Kernfusionsreaktionen im Sterninneren als Mechanismus der Energieerzeugung erkannt hatten. Und die Vorstellung eines ewigen und unveränderlichen Universums überwand Edwin Hubble durch seine Entdeckung der allgemeinen Galaxienflucht.

Auch die kosmologische Alterskrise war Auslöser für eine Erkenntnisrevolution: Die Expansion des Weltalls wird offenbar maßgeblich von einer "Dunklen Energieform" bestimmt, über deren sonstige Eigenschaften die Astrophysiker bisher kaum etwas wissen (siehe Spektrum der Wissenschaft 3/2001, S. 30). Seit Kosmologen diese unbekannte Energieform berücksichtigen, liefern ihre Modelle ein höheres Weltalter. Bei dieser Dunklen Energie handelt es sich weder um normale Materie, die aus Atomen besteht, noch um die schon länger bekannte Dunkle Materie, die bis zu 90 Prozent der Masse von Galaxien ausmacht. Aber diese neue Entwicklung in der Kosmologie trug ihren Teil zur Lösung bei.

Noch als die kosmologische Alterskrise in Fachkreisen lebhaft debattiert wurde, hatten die meisten Astronomen den Fehler auf die Kosmologen und deren Berechnungen des Weltalters geschoben. Theoretiker misstrauten der Messung der kosmischen Expansionsgeschwindigkeit. Hingegen argwöhnten Beobachter, die kosmologischen Modelle der Theoretiker seien inkorrekt. Nur eine Minderheit von Forschern zweifelte an der Abschätzung des Sternenalters.

Ein halbes Jahrhundert lang war die kosmische Expansionsgeschwindigkeit Gegenstand einer oft scharf geführten Debatte. Im Gegensatz dazu schienen mehrere Forscher das Alter der ältesten Sterne äußerst zuverlässig abgeschätzt zu haben: Von Mitte der sechziger bis Mitte der neunziger Jahre lieferten die Modelle zur Sternentwicklung stets Alterswerte von 15 Milliarden Jahren oder darüber.

Diese Abschätzungen haben sich seitdem als falsch herausgestellt. Mit Hilfe der präzisen Entfernungsmessungen des Astrometrie-Satelliten Hipparcos und neuerer Theorien der Sternentwicklung schätzen die Astrophysiker die ältesten Sterne nun auf maximal 13 Milliarden Jahre. Damit ist die Alterskrise überwunden. Es gilt wieder: Kinder sind jünger als ihre Eltern – und alle Sterne sind jünger als das Weltall, das sie einst hervorbrachte.

Angenommen, der Kilometerzähler Ihres Autos sei kaputt. Dann könnten Sie die zurückgelegte Strecke trotzdem bestimmen: Sie sollten nur wissen, wie viel Liter Ihr Benzintank fasst und wie viel Benzin Ihr Auto pro Kilometer verbraucht. Die beiden Werte müssten Sie lediglich durcheinander dividieren. Mit einer ähnlichen Rechnung lässt sich auch das Alter eines Sterns berechnen: Dem Benzintank entspricht die Masse des Sterns, dem Verbrauch seine nukleare Brennrate.

Während des überwiegenden Teils ihres Daseins decken Sterne ihren Energiebedarf durch die Fusion von Wasserstoffkernen in ihrem sehr heißen und dichten Zentralbereich. Jeweils vier Wasserstoffkerne (jeder ein einzelnes Proton) verschmelzen dabei in einer Reaktionskette letztlich zu einem Heliumkern (mit zwei Protonen und zwei Neutronen), der 0,7 Prozent weniger Masse hat als die vier einzelnen Ausgangsteilchen. Dieser Massendifferenz entspricht laut Einsteins berühmter Formel E=mc2 die freigesetzte Energie. Unsere Sonne zum Beispiel strahlt 4¥1026 Watt in Form von Licht aus und muss dafür jede Sekunde 600 Millionen Tonnen Wasserstoff in Helium umwandeln.

Die Masse des Sterns bestimmt seine Lebensdauer

Auf diese Weise verbrennt die Sonne in einer Milliarde Jahren ein Prozent ihrer Masse. Da etwa ein Zehntel ihres gesamten Wasserstoffvorrats die für die Fusion erforderliche Temperatur und Dichte aufweist, kann sie ihre Strahlungsenergie ungefähr zehn Milliarden Jahre lang aus dem Verbrennen von Wasserstoff beziehen. Während dieser Zeit bleiben ihre Leuchtkraft und Oberflächentemperatur annähernd konstant.

In Sternen, deren Masse größer ist als diejenige der Sonne, laufen die Fusionsreaktionen rascher ab, weil Temperatur und Druck im Zentralbereich höher sind. Solche Sterne brauchen ihren Brennstoff deshalb erheblich schneller auf – obwohl sie anfangs mehr davon haben.

Der genaue Zusammenhang zwischen Anfangsmasse und Lebenserwartung eines Sterns ergibt sich aus den physikalischen Gesetzen, die seinen Aufbau bestimmen. Es sind dies

- das hydrostatische Gleichgewicht (es besagt, dass sich Gravitations- und Gasdruck die Waage halten);

- das ideale Gasgesetz (es beschreibt den Zusammenhang von Temperatur, Druck und Dichte);

- die Energietransportgleichung (die den Energiefluss im Inneren des Sterns beschreibt);

- die Energieerhaltung (die besagt, dass genau so viel Energie im Stern erzeugt wie nach außen abgestrahlt wird).

Insgesamt ergibt sich aus diesen Gesetzen, dass die Leuchtkraft eines Wasserstoff verbrennenden Sterns ungefähr mit der vierten Potenz der Masse (M4) zunimmt. Da der verfügbare Brennstoff selbst proportional zur Masse ist, variiert die Lebensdauer proportional zu M/M4 = M–3. Ein Stern mit der zehnfachen Masse der Sonne strahlt also im Vergleich zu ihr zehntausendmal so hell, hat aber nur ein Tausendstel ihrer Lebenserwartung, nämlich nur zehn Millionen Jahre. Massereiche Sterne sind gewissermaßen die Sportwagen des Universums: Sie sehen eindrucksvoll aus, haben aber einen abnorm hohen Verbrauch.

Hat ein Stern seinen zentralen Wasserstoffvorrat aufgebraucht, schrumpft sein Inneres so lange, bis dort die Kernfusion des Heliums zündet. Gleichzeitig verlagert sich die Wasserstofffusion in eine den Zentralbereich umgebende Schicht. Daraufhin bläht sich der Stern zu einem so genannten Roten Riesen auf: Dieser hat nun eine geringere Oberflächentemperatur als der ursprüngliche Stern, sodass er nicht mehr weiß, sondern nur noch rot glüht. Seine Leuchtkraft ist indes höher als zuvor, weil seine Oberfläche um ein Vielfaches zugenommen hat.

Die Heliumfusion liefert dem Stern weit weniger Energie als die Wasserstofffusion. Da er zugleich sehr viel stärker leuchtet, erschöpft sich dieses Energiereservoir binnen weniger Millionen Jahre. Immer hektischer zünden nun in dem Stern Fusionsreaktionen schwererer Atomkerne, bis beim Eisen alle Möglichkeiten erschöpft sind.

Diese Entwicklung eines Sterns lässt sich am besten in einem so genannten Hertzsprung-Russell-Diagramm (HRD) darstellen, in dem die Astronomen die Leuchtkraft gegen die Oberflächentemperatur auftragen. Alle wasserstoffbrennenden Sterne verteilen sich im HRD entlang einer Linie, der so genannten Hauptreihe. Am Ende der "Hauptreihenphase", wenn ein Stern zum Roten Riesen wird, verlässt er die Hauptreihe nach rechts (siehe Kasten auf Seite 32).

Auch wenn Astronomen relativ leicht die gesamte Lebenserwartung eines Sterns abschätzen können, so ist es doch unmöglich, sein momentanes Alter oder seine restliche Lebensdauer zu bestimmen. Dazu müsste man die Masse des bisher erzeugten Heliums kennen. Aber dieses verbleibt im Zentrum des Sterns und gelangt nicht an seine Oberfläche, sodass es nicht zu beobachten ist.

Kugelsternhaufen

Solange sich ein Stern in der Hauptreihenphase befindet, lässt sich deshalb von ihm nur sagen, dass er jünger als seine Lebenserwartung sein muss. Erst wenn er zum Roten Riesen wird, offenbart er sein Alter. Deshalb untersuchen die Astronomen bevorzugt solche Sterne, die sich in einer größeren Ansammlung befinden, also etwa gleichzeitig entstanden sein müssen. Das Alter eines solchen Haufens ergibt sich aus der Masse derjenigen Sterne in ihm, die gerade die Phase des Wasserstoffbrennens abgeschlossen haben und die Hauptreihe verlassen.

Ein spezieller Typ von Sternansammlungen, die so genannten Kugelsternhaufen, enthalten offenbar einige der ältesten Sterne, die in unserer Galaxis anzutreffen sind. In diesen Haufen drängeln sich 100000 bis zu einigen Millionen Sterne in einem kugelförmigen Raumgebiet von vielleicht nur hundert Lichtjahren Durchmesser. Den Bewohnern eines fiktiven Planeten in einem Kugelsternhaufen böte sich ein imposanter Nachthimmel: Sie könnten rund hunderttausend Sterne erblicken, im Gegensatz zu den etwa 3000, die wir mit bloßem Auge am irdischen Firmament sehen können.

Während drei Viertel aller Sterne des Milchstraßensystems – darunter auch die Sonne – in einer flachen Scheibe um das Zentrum der Galaxis kreisen, bewegen sich die Kugelsternhaufen in einem sphärischen "Halo", der die galaktische Scheibe wie eine Hülle umgibt. Auch andere große Galaxien haben einen Halo aus Kugelsternhaufen.

Aus dem Aufenthaltsort dieser Haufen ergeben sich Rückschlüsse auf ihr Alter. In den 40er Jahren war nämlich dem deutschen Astronomen Walter Baade, der am Mount Wilson-Observatorium in den USA arbeitete, eine unterschiedliche Verteilung der Sterne aufgefallen:

- Helle, blau leuchtende Sterne befinden sich bevorzugt in der Scheibe einer Galaxie;

- Sterne im Halo leuchten generell schwächer und rötlicher.

Baade kannte die Ursachen für diese beiden Kategorien noch nicht. Er bezeichnete die hellen, blauen Sterne schlicht als "Population I" und die lichtschwächeren roten als "Population II". Heute kennen wir den Grund: Die galaktische Scheibe enthält große Mengen an Gas, den Grundstoff neuer Sterne, von denen die massereichsten hohe Leuchtkraft und hohe Oberflächentemperatur haben, also bläulich erscheinen. Der Halo ist jedoch arm an Gas – wie in einer Stadt, in der es kaum Nachwuchs gibt, dominieren die Alten die Population.

Möglicherweise handelt es sich bei Kugelsternhaufen um Relikte der Urbausteine, aus denen sich das Milchstraßensystem einst geformt hat. Elemente, die schwerer sind als Helium, treten nämlich in Kugelsternhaufen nur mit einem Massenanteil von 0,01 bis 0,5 Prozent auf, während ihr Anteil in der Sonne immerhin zwei Prozent beträgt. Mit Ausnahme von Lithium können diese Elemente – Astronomen nennen sie zum Verdruss der Chemiker insgesamt "Metalle" – nicht im Urknall, sondern nur durch stellare Kernfusionsprozesse entstanden sein. Die "metallarmen" Sterne der Kugelhaufen scheinen sich also aus nahezu jungfräulicher kosmischer Materie kurz nach dem Urknall gebildet zu haben.

Der Metallgehalt ist wichtig

Innerhalb eines bestimmten Kugelhaufens zeigen alle Sterne, die gerade ihren zentralen Wasserstoffvorrat aufgebraucht haben, nahezu dieselbe Helligkeit und Oberflächentemperatur – ähneln sich also auch in Masse und Alter. In einem Hertzsprung-Russell-Diagramm macht sich dies zu großen Leuchtkräften hin durch ein abruptes Ende der Hauptreihe bemerkbar. Masseärmere, langlebigere Sterne gibt es noch in großer Zahl; die massereicheren sind jedoch bereits zu Roten Riesen geworden und haben die Hauptreihe verlassen. Der scharfe Knick in der Hauptreihe ist ein untrügliches Indiz für das übereinstimmende Alter aller Mitglieder eines Kugelhaufens.

Die Astronomen können deshalb das Alter eines Kugelsternhaufens relativ einfach ermitteln, wenn sie die Zustandsgrößen der Haufenmitglieder in ein Hertzsprung-Russell-Diagramm eintragen. Aus Leuchtkraft und Oberflächentemperatur des Abknickpunktes im Diagramm brauchen sie nur anhand ihrer theoretischen Modelle auf die zugehörigen Werte für Masse und Alter der Sterne zu schließen.

Die Genauigkeit dieses Verfahrens wird allerdings durch drei Faktoren beeinträchtigt:

- Erstens: Die Entwicklung eines Sterns hängt von seiner genauen chemischen Zusammensetzung ab.

- Zweitens: Der Aufbau der Sterne ist noch nicht in allen Details verstanden.

- Drittens: Die Umrechnung der beobachteten Helligkeit eines Sterns in seine tatsächliche Leuchtkraft ist mit Fehlern behaftet.

Zum ersten Punkt: Metalle haben zwar nur einen winzigen Anteil an der Gesamtmasse eines Sterns, doch beeinflussen sie seinen Aufbau erheblich. Sie tragen nämlich aufgrund ihrer größeren Masse zum Gravitationsdruck bei, was höhere Werte für Druck und Temperatur im Zentralbereich und somit eine stärkere Energieerzeugung durch Kernfusion zur Folge hat. Zudem absorbieren Metalle Strahlung stärker, was den Energietransport aus dem Zentrum zur Oberfläche behindert. Infolgedessen bläht sich der Stern leicht auf, und die Energieabstrahlung erfolgt von einer größeren Oberfläche mit geringerer Temperatur. Alles in allem bedeutet dies, dass ein metallarmer Stern heller und heißer ist als ein metallreicher Stern derselben Masse. Wenn die Astronomen also den Metallgehalt eines Sterns überschätzen sollten, unterschätzen sie seine Masse und sein Alter.

Die chemische Zusammensetzung eines Sterns erschließen die Forscher aus seinem Spektrum. Denn jedes Element in der Sternatmosphäre verursacht bei ganz bestimmten Wellenlängen scharfe Absorptionslinien, deren Stärke wiederum von der Konzentration der absorbierenden Atome abhängt. In den letzten Jahren konnten die Astronomen ihre Daten laufend optimieren: Durch größere Teleskopspiegel und den Einsatz digitaler Photonenempfänger erhöhten sie die Auflösung und das Signal-zu-Rausch-Verhältnis der Spektren. Dadurch reduzierten sich die Messfehler in den Daten um den Faktor drei. Aktuelles Beispiel: Mit dem Zehn-Meter-Spiegel des Keck-Teleskops auf Hawaii ermittelten kürzlich Judith G. Cohen vom California Institute of Technology, Raffaele G. Gratton von der Sternwarte in Padua und Kollegen den Metallgehalt der Kugelsternhaufen NGC 6528 und NGC 6553 mit nie zuvor erreichter Genauigkeit.

Korrektur der Datenbasis

Zum zweiten Punkt: Die Theorie des Sternaufbaus beschreibt nur näherungsweise, was in einem Stern tatsächlich vorgeht. Beispiel Sonne: Die von der Raumsonde Soho registrierten seismischen Wellen in der Sonne enthüllten, dass Helium langsam ins Zentrum unseres Muttergestirns absinkt. Diese Beobachtungen gelangen Jørgen Christensen-Dalsgaard von der Universität Århus, David B. Guenther von der Saint Mary’s-Universität in Halifax (Kanada) und anderen Kollegen.

Das absinkende Helium verdrängt nun im Zentralbereich der Sonne einen Teil des dortigen Wasserstoffs. Dadurch verringert sich der Vorrat an nutzbarem Brennstoff und somit auch die Lebenserwartung der Sonne. Meine Kollegen und ich haben die Modellierung anderer Prozesse – etwa der Konvektion – überarbeitet, um besser zu verstehen, wie das Gas auf Änderungen von Druck und Temperatur reagiert. Im Endeffekt reduzieren unsere Ergebnisse das berechnete Alter der Kugelsternhaufen um 14 Prozent. Sternmodelle simulieren inzwischen das Verhalten der Sonne so zuverlässig, dass nur schwer zu sehen ist, wo diese noch verbessert werden könnten.

Der dritte Punkt ist der größte Unsicherheitsfaktor für die Altersbestimmung. Aus der beobachteten Helligkeit eines Sterns lässt sich dessen Leuchtkraft nämlich nur dann ermitteln, wenn man seine Entfernung kennt, und Entfernungsmessungen zählen in der Astronomie zu den schwierigsten Aufgaben überhaupt.

Um die dritte Dimension der uns flächig erscheinenden Himmelssphäre zu erschließen, müssen die Astronomen unterschiedliche, einander überlappende Methoden anwenden (vergleiche Spektrum der Wissenschaft 2/2000, S. 50, und 1/1993, S. 46). Die erste Sprosse der "kosmischen Entfernungsleiter" bildet die Parallaxe – eine scheinbare Positionsverschiebung des Zielobjekts auf Grund eines Standortwechsels des Beobachters. Zur Demonstration des Effektes braucht man nur den Daumen des ausgestreckten Armes abwechselnd mit dem linken oder rechten Auge anzusehen. Beim Augenwechsel "springt" der Daumen vor dem Hintergrund hin und her, nur weil man ihn mal von rechts, mal von links anschaut. Wie man sich selbst leicht davon überzeugen kann, zeigen nähere Objekte eine größere Parallaxe als ferne. Diese Größe ist also ein Maß für die Entfernung.

Um die Parallaxe von Sternen zu messen, beobachten Astronomen deren scheinbare Positionsverschiebung am Himmel im Verlauf eines Jahres. Denn bedingt durch den Lauf der Erde um die Sonne verschieben sich nahe Sterne vor dem Hintergrund fernerer Sterne um einen gewissen Winkel.

Der Durchmesser der Erdbahn – seinerseits mit den Parallaxen der Planeten im Sonnensystem ermittelt – geteilt durch die in Bogensekunden ausgedrückte Parallaxe liefert die Entfernung zu dem betreffenden Stern. Per Definition entspricht eine Parallaxe von einer Bogensekunde einer Entfernung von einem Parsec (das 3,26 Lichtjahren entspricht). Teleskope auf dem Erdboden können gerade noch eine Parallaxe von 0,01 Bogensekunden auflösen, und so Entfernungen von 100 Parsec mit etwa zehn Prozent Genauigkeit bestimmen.

Die Entfernungen im Milchstraßensystem sind allerdings um ein Vielfaches größer. Um die Parallaxenmethode auch auf größere Distanzen ausdehnen zu können, startete die Europäische Weltraumbehörde Esa 1989 den Astrometrie-Satelliten Hipparcos, der mit einem Auflösungsvermögen von 0,001 Bogensekunden den zugänglichen Entfernungsbereich um den Faktor 10 vergrößerte (siehe Spektrum der Wissenschaft 2/2000, S. 42).

Lösung der Alterskrise

Doch selbst das reichte noch nicht, um etwa die Distanz zu dem uns nächsten Kugelsternhaufen zu bestimmen, der schätzungsweise rund 2000 Parsec entfernt liegt. Hipparcos gelang es immerhin, den Abstand einiger näher gelegener metallarmer Sterne zu messen, die jenen in Kugelsternhaufen ähneln. Unter der Annahme, dass diese Sterne dieselbe Leuchtkraft aufweisen wie Sterne derselben Farbe in Kugelhaufen, konnten die Astronomen die Entfernungen zu den Kugelsternhaufen präziser ermitteln als jemals zuvor.

Das Ergebnis überraschte: Kugelsternhaufen sind rund zehn Prozent weiter von uns entfernt als zuvor angenommen. Daher müssen ihre Sterne eine höhere Leuchtkraft haben und somit auch jünger sein als gedacht. Noch werden diese Resultate kontrovers diskutiert. Mögliche Fehlerquellen könnten etwa in den Modellen zur Sternentwicklung verborgen sein; auch ist die "kosmische Entfernungsleiter" noch nicht endgültig festgelegt.

Astronomen greifen deshalb auch zu anderen Methoden der Entfernungsbestimmung. Eines dieser Verfahren basiert auf der Bewegung einer großen Zahl von Sternen in einem Kugelhaufen. Für jeden Stern hat die Bewegung zwei Komponenten: die radiale Bewegung in Blickrichtung und die transversale Bewegung senkrecht dazu. Diese Komponenten lassen sich unabhängig voneinander messen: Die Radialgeschwindigkeit ergibt sich aus dem Spektrum des Sterns durch den Doppler-Effekt, die Transversalgeschwindigkeit aus Direktaufnahmen der Sterne zu verschiedenen Zeitpunkten.

Während sich die Radialgeschwindigkeit absolut messen lässt, hängt die Transversalgeschwindigkeit von der Entfernung des Sterns ab. Eine physikalische Beziehung, die beide Größen miteinander verknüpft, vermag demnach die Entfernung zu liefern. Ein bestimmter Einzelstern kann zwar beliebige Werte der Radial- und Transversalgeschwindigkeit haben. Doch für die abertausenden Sterne eines Kugelhaufens, deren Bewegungsrichtungen statistisch verteilt sind, müssen die Mittelwerte der Radial- und der Transversalgeschwindigkeit gleich groß sein. Diesen mathematischen Zusammenhang haben die Astronomen genutzt, um die Entfernungen von Kugelhaufen abzuschätzen.

Die Ergebnisse legen nahe, dass Hipparcos etwas zu große Entfernungen geliefert hat. Der derzeit beste Wert für das Alter der ältesten Kugelsternhaufen liegt nun bei 13 Milliarden Jahren – mit einer Unsicherheit von 1,5 Milliarden Jahren. Diese korrigierte Altersschätzung verträgt sich aber sehr gut mit dem Alter des Universums, wie es den jüngsten Messungen der kosmischen Expansionsgeschwindigkeit entspricht. Erstmals seit fünfzig Jahren stimmen die Kosmologen mit den Sternphysikern überein.

Obwohl die Altersbestimmung von Kugelhaufen die derzeit wichtigste Methode zur Bestimmung des Alters des Milchstraßensystems ist, gibt es noch andere Verfahren, die vergleichbare Werte liefern. Kürzlich setzten Roger Cayrel von der Pariser Sternwarte und seine Mitarbeiter radiometrische Methoden ein, wie sie auch in der Archäologie oder Geologie benutzt werden. Zum ersten Mal konnten die Forscher in einem anderen Stern als der Sonne die Häufigkeit von Uran und weiterer schwerer Elemente bestimmen. Sie ermittelten, dass der Stern CS 31082-001, welcher der Population II angehört, weit weniger Metalle enthält als die Sonne. Alle Häufigkeiten betragen nur 12 Prozent der entsprechenden solaren Werte – nur die radioaktiven Isotope Thorium-232 und Uran-238 sind in noch geringeren Mengen vorhanden.

Unter der Annahme, dass auch diese beiden Atomsorten bei der Entstehung des Sterns eine Häufigkeit von 12 Prozent der solaren Werte hatten und seitdem allmählich zerfielen, errechnet sich für diesen Stern ein Alter von 12,5 ± 3 Milliarden Jahren. Diese erstmalige Anwendung der radiometrischen Methode auf die Datierung eines fernen Sterns lässt erwarten, dass sie künftig noch genauere Ergebnisse liefern wird als der Weg über die Kugelsternhaufen.

Gleichwohl wird auch dieses Verfahren noch weiter entwickelt: Neue Großteleskope wie das Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte in Chile sollen bald bessere Werte für die chemische Zusammensetzung von Sternatmosphären liefern. Künftige Astrometrie-Satelliten wie die Gaia-Mission der Esa, die Space Interferometry Mission der Nasa oder der deutsche Satellit Diva werden eine weit bessere Auflösung haben als ihr Vorgänger Hipparcos. Damit werden in einem Jahrzehnt die Parallaxen der Kugelsternhaufen direkt bestimmt werden können. Die kosmologische Alterskrise, welche die Astronomen Jahrzehnte so sehr in Unruhe versetzt hat, wird sich dann wohl endgültig zu den Akten legen lassen.

Literaturhinweise


Physik der Sterne und der Sonne. Von Helmut Scheffler und Hans Elsässer. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1990.

Stellar Structure and Evolution: Deductions from Hipparcos. Von Yveline Lebreton in: Annual Review of Astronomy and Astrophysics, Bd. 38, S. 35, 2000.

Globular Cluster Distance Determinations. Von Brian C. Chaboyer in: Post-Hipparcos Cosmic Candles. Hrsg. von A. Heck und F. Caputo, Kluwer, 1999.

Stars. Von B. Kaler, W. H. Freeman, 1998.


Die kosmologische Alterskrise


Bei kosmologischen Fragen führt der gesunde Menschenverstand bisweilen in die Irre, aber hier liegt er gewiss richtig: Das Universum muss älter sein als die ältesten Sterne. Bizarrerweise schienen die Beobachtungsdaten lange das Gegenteil zu belegen. Die Mehrheit der Forscher vermutete den Fehler in der Kosmologie, aber wie sich herausstellte, lag er hauptsächlich in der Physik der Sterne.

Viele der ältesten Sterne finden sich in Kugelhaufen. Diese reizvollen Beobachtungsobjekte bestehen aus Hunderttausenden bis einigen Millionen Sternen, die alle etwa zur selben Zeit entstanden und gravitativ in einem System gebunden sind. Massereiche Sterne leuchten sehr hell und verbrauchen ihren Wasserstoff viel schneller als die Sonne: Sterne sind umso langlebiger, je masseärmer sie sind.

Daher verraten die massereichsten Sterne, die sich in einem Haufen finden lassen, auch dessen Alter. Messungen des Astrometrie-Satelliten Hipparcos ermöglichten die Korrektur vorher akzeptierter Schätzungen: Kugelsternhaufen sind weiter entfernt als zuvor angenommen. Die hellsten Sterne in ihnen sind also heller – und damit jünger. Seitdem steht ihr maximales Alter, 13 Milliarden Jahre, nicht mehr im Widerspruch zum Alter der Welt.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2001, Seite 26
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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