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Mit 27 Jahren ins Diplom und mit 31 promoviert

Auf allen Ebenen der Ausbildung verharrt der Nachwuchs länger denn je. Im Schnitt schaffen es die angehenden deutschen Naturwissenschaftler nicht einmal mehr, als späte Twens zu promovieren.

Schon vor drei Jahrzehnten ist das hohe Berufseintrittsalter der deutschen Hochschulabsolventen beklagt worden. Inzwischen aber hat das Problem eine andere quantitative Dimension angenommen: Waren es 1965 erst etwa 2000 Naturwissenschaftler, die nach elf oder zwölf Semestern ihr Diplom machten, sind es nun rund 12000, und das Studium hat sich noch um ein bis zwei Se-mester verlängert.

Allen Initiativen von Staat und Hochschulen und diversen Anläufen zu Studienreformen zum Trotz verlängern sich auf allen Ebenen der Ausbildung die Verweilzeiten. Kinder werden später eingeschult, und Gymnasiasten brauchen länger bis zum Abitur; nach dem unter anderem dadurch verzögerten Studienbeginn dauert es dann wiederum länger bis zum Abschluß.

Hier soll nicht untersucht werden, ob das hohe Berufseintrittsalter tatsächlich so beklagenswert ist, ob die deutschen Hochschulabsolventen deswegen die Konkurrenz ihrer europäischen Kommilitonen zu befürchten haben und was zu tun wäre, wenn man die Studiendauer senken wollte. Vielmehr geht es um die Fakten und Trends als Grundlagen solcher Diskussionen.

Mittlere Studiendauer

Nach Disziplinen aufgeschlüsselt betrug der Median der Studiendauer jener angehenden Naturwissenschaftler, die bis zum Examen durchgehalten hatten, 1989 beim Diplom in

– Geowissenschaften 13,4,

– Biochemie 12,7,

– Biologie 12,6,

– Mathematik 12,6,

– Informatik 12,5,

– Physik 12,5,

– Chemie 12,0 und

– Lebensmittelchemie 10,7 Semester.

Gegenüber den späten siebziger Jahren haben sich die Studienzeiten in den meisten Fächern mithin noch erhöht, nämlich in Informatik und Biologie um 1,2, in Geologie um 1,5 und in Mathematik um 0,4 Semester. Dagegen sind sie in Chemie und Physik seit 1976 erstmals – und zwar mehrere Jahre in Folge – gesunken: zwischen 1986 und 1989 um 0,7 Semester, womit die Werte von 1977 wieder erreicht wurden.

Dieser untypische Trend in den beiden großen naturwissenschaftlichen Fächern kann kein Zufall sein. Ich führe ihn auf drei Faktoren zurück. Zum einen dauerte ihr Studium früher länger als jedes andere, was in besonderem Maße Kritik aus Industrie und Öffentlichkeit erweckte, die auch fruchtete – von hohem Niveau kann man sich leicht hinabbewegen. Zum anderen haben sich diese beiden Fächer wegen der Kritik aus der Industrie, die viele Chemiker und Physiker beschäftigt, offensiv mit dem Thema befaßt und die langen Studienzeiten als hochschulpolitisches Problem erkannt und anerkannt – darin unterscheiden sie sich von vielen anderen Fächern. Und drittens begreifen führende Fachvertreter die langen Ausbildungszeiten und die späte Selbständigkeit der Nachwuchswissenschaftler als Behinderung der forscherischen Produktivität und Qualität.

Zuerst die zuständige Fachgesellschaft der Chemiker und neuerdings auch die der Physiker veröffentlichen denn auch regelmäßig tief differenzierte Daten über die Studiendauer an jeder einzelnen Hochschule. Professionell operierende Fachgesellschaften, die von der Industrie finanziell unterstützt werden, nutzen offenbar ihre Möglichkeiten der Meinungsbildung. Mehr und mehr Fachbereiche untersuchen, wo die Engpässe im Studien- und Prüfungsbetrieb liegen und bemühen sich um Abhilfe. Außerdem gibt es materielle Anreize für ein zügiges Studium: Chemiker, die es innerhalb von zehn Semestern mit gutem Erfolg abschließen, können für ihre Doktorarbeit ein Chemiefonds-Stipendium erhalten.

Wie die Statistik zeigt (Bild 1), sind erste Erfolge nicht ausgeblieben. Am langwierigsten in den Naturwissenschaften sind mittlerweile die geowissenschaftlichen Studiengänge mit 13,4 Fachsemestern; im gesamtuniversitären Rahmen werden sie jedoch noch von der Architektur (1989 im Schnitt 13,9 Semester) und einigen geisteswissenschaftlichen Studiengängen übertroffen.

Große Streubreite

Nun ist ein Mittelwert keineswegs die Norm. Während beispielsweise das Chemiestudium 1989 durchschnittlich nach genau zwölf Semestern abgeschlossen war, brauchte ein Viertel der Absolventen nur zehn Semester oder gar weniger, hingegen ein knappes Fünftel 14 Semester oder mehr. Dabei sind die Chancen auf einen Abschluß in zehn Semestern höchst ungleich örtlich verteilt: In Würzburg, Gießen und Bochum schaffte ihn rund die Hälfte aller Chemiestudenten, in Bremen, Oldenburg und an der Freien Universität Berlin kein einziger.

Obwohl sich die Studienpläne kaum voneinander unterscheiden, bestehen enorme Unterschiede zwischen den Hochschulen (Bild 3). Die Ursachen überlanger Studienzeiten sind also am ehesten in der Organisation des Studiums, den Inhalten der einzelnen Lehrveranstaltungen, den Anforderungen an die Diplomarbeit und in der Organisation der Prüfungen zu suchen. Manche von den Fakultäten beschlossene und von den Länderministerien genehmigte Prüfungsordnung hat lange Prüfungs- und damit lange Studienzeiten zur Folge.

Hoffentlich wissen auch die Arbeitgeber von diesen Unterschieden, wenn sie zunehmend die Studiendauer als einen Indikator für die Leistungen der Bewerber ansehen. Im Interesse eines fairen Wettbewerbs der Absolventen wäre eigentlich eine Bonus-Malus-Regelung zu fordern. Freilich sind die Unterschiede keine Besonderheit der Disziplin Chemie. In allen Fächern streuen die Studienzeiten mehr oder weniger, wobei die Hochschulen ihre Plätze auf den fachspezifischen Listen wechseln – diejenige, die etwa in Chemie mit vorn liegt, kann sich in Biologie, Informatik oder Betriebswirtschaftslehre in der unteren Tabellenhälfte finden und umgekehrt (Einzelheiten vermittelt der jährlich aktualisierte statistische Bericht „Fachstudiendauer an Universitäten“ des Wissenschaftsrates, der inzwischen zum fünften Male – für 1989 – herausgegeben worden ist).


Berufseintrittsalter

Nach Schule bis zur Hochschulreife, Wehr- oder Ersatzdienst und langem Studium kann es nicht verwundern, wenn der naturwissenschaftliche Nachwuchs erst mit 26, häufiger noch mit 27 Jahren das Diplom ablegt. Die arithmetischen Mittelwerte von 1989 für dieses früheste Berufseintrittsalter zeigt Bild 2.

Seit 1977 hat sich das Durchschnitts-alter in Biologie und Geologie um ein, in Mathematik um ein halbes und in Informatik um ein drittel Jahr erhöht. In Chemie und Physik gab es – nachdem das Durchschnittsalter zwischenzeitlich höher gelegen hatte – wie bei den Studienzeiten keinen Unterschied mehr zwischen 1977 und 1989.

Der Frauenanteil liegt bei den Absolventen der Naturwissenschaften im Diplomstudiengang Biologie mit 51 Prozent am höchsten und in Physik mit 7 Prozent am niedrigsten; er beträgt in Chemie 27 (darunter Lebensmittelchemie 61), in Geologie und Mathematik jeweils 25 und in Informatik 16 Prozent. Die Studentinnen gehen zwar bis zu einem Jahr eher ins Diplom, aber hier wirkt sich nur der Wehr- oder Ersatzdienst ihrer Kommilitonen aus – bei den Studienzeiten gibt es keine systematischen Unterschiede.

Das Studium an Fachhochschulen ist kürzer. Bis zum Diplom brauchen dort Mathematiker 9,0, Informatiker 8,8 sowie Physik- und Chemie-Ingenieure jeweils 9,4 Semester. Darin sind vielfach bis zu zwei Praxissemester eingeschlossen. Das Berufseintrittsalter der Fachhochschul-Absolventen liegt jedoch nur ein Jahr unter dem ihrer Universitätskollegen, weil sie vor Studienbeginn häufig eine Berufsausbildung absolvieren. Es betrug 1989 im Durchschnitt bei Mathematikern 25,8, bei den Informatikern 26,7, bei den Chemie- 26,3 und bei den Physik-Ingenieuren 26,8 Jahre.

Angejahrte Doktoranden

Bei Promotionsquoten von 50 (Physik), 60 (Biologie) oder gar 90 Prozent (Chemie) ist die Phase bis zum Diplom für viele an den Universitäten ausgebildete Naturwissenschaftler nicht maßgebend für ihr Alter beim Berufseintritt. Hinzu kommen für sie mindestens drei, vielfach vier und manchmal fünf Jahre als Doktorand.

Da die deutsche Industrie vorzugsweise promovierte Naturwissenschaftler einstellt, muß derzeit eine universitäre Ausbildung von durchschnittlich mehr als zehn Jahren hingenommen werden (10,6 bei den Chemikern, 10,7 bei den Mathematikern, jedoch 12,1 bei den Geowissenschaftlern und gar 12,4 bei den Informatikern). Dementsprechend lag das mittlere Alter der promovierten Mathematiker 1989 bei 30,6 Jahren; zusammen mit einer Schulzeit von 13 ergibt dies eine Gesamtausbildungsdauer von 24 Jahren. Die Chemiker promovierten mit 30,8, die Physiker mit 31,4, die Biologen mit 31,6 sowie die Geowissenschaftler und Informatiker erst mit 32,5 Jahren.

Ebenso wie bei der Fachstudiendauer gilt auch für das Promotionsalter, daß die hohen Durchschnittswerte nicht auf eine Gruppe von besonders gemächlichen Hochschul-Absolventen zurückzuführen sind (Bild 4); detaillierte Verteilungskurven zeigen, daß die lange an der Universität Verbleibenden meist Teilzeitstudenten sind, die den Median nicht beeinflussen. Damit erweist sich eine häufig als Erklärung für hohe Durchschnittswerte vorgetragene These als empirisch nicht haltbar.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1993, Seite 107
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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