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Mit den Augen des Computers. Phantastische Welten aus dem Geist der Maschine


Der Biophysiker und Molekularbiologe Clifford A. Pickover – Mitarbeiter der IBM am Thomas-J.-Watson-Forschungszentrum in Yorktown Heights (New York), Mit- und Gast-Herausgeber einiger Bücher und Computergraphik-Zeitschriften, Autor von mehr als 200 Veröffentlichungen und Patenten, Verfasser des Buches „Computers, Pattern, Chaos, and Beauty“ – ist ein äußerst kreativer und rühriger Geist. Diese produktive Unruhe spiegelt sich auch im vorliegenden Buch wider. Es richtet sich an den „neugierigen Laien mit künstlerischen Ambitionen, an Studenten, Künstler und Wissenschaftler“, wie es im Vorwort heißt. Anfänger ohne Vorkenntnisse werden sich schwertun, wenn sie dieses Buch als Einstieg in eine der zahlreichen beschriebenen Computerspielereien verwenden wollen. Zunächst scheint es, auch wegen seiner vielen Graphiken, ein Sammelsurium aller möglichen und unmöglichen Ideen zu sein: von Simulationen von Schmetterlingskurven über Befragungen von Wissenschaftlern zum künftigen Nutzen eines „Super-Super-Computers in Getränkedosengröße“ bis hin zu phantastischen Zahlenspielen, Fraktal-Chaotischem, Computergedichten, Fullerenen und „Weiteren Anregungen für den neugierigen Leser“. Dort findet sich auch ein bemerkenswerter Satz über den Goldenen Schnitt: „Frank Lonc... fand heraus, daß im Durchschnitt das Verhältnis zwischen der Größe einer Frau und der Höhe ihres Nabels 1,618 beträgt.“ Wahrlich ein verwirrender Jahrmarkt an Ideen! Aber man findet Ordnung im Chaos. Jeder Abschnitt des in zehn Teile und 64 Kapitel gegliederten Buches ist in sich abgeschlossen. Eine Fülle von Literaturzitaten innerhalb der Kapitel und im Anhang führt den interessierten Leser zu weiteren anregenden Abenteuern. Auch ein Glossar der wichtigsten Begriffe, Listen von relevanten Filmen, Lehrmaterialien, Händlern, Zeitungen und Zeitschriften sowie „weiterer ungewöhnlicher Literatur“ und anderes mehr stehen im Anhang. Wer eine ausführliche Behandlung von Chaos oder Fraktalen wie Mandelbrot- oder Julia-Mengen erwartet, findet darüber nur einige Andeutungen (in den Teilen IV und V), darunter auch etwas über das inverse Apfelmännchen, einen „Mandelbrot-Wald“ und andere „verdrehte Spiegelwelten“. Ausführlicher werden Darstellungen von (chaotischen) Attraktoren, oszillierenden fossilen Seemuscheln (es sind eher Meeresschnecken, vergleiche Pickovers Bild in Spektrum der Wissenschaft, September 1989, Seite 9) oder Kettenwurzelfraktalen (Fraktalen, deren Iterationsfunktion mehrfaches Wurzelziehen enthält) behandelt. Die Einführungen in unendliche Kettenbrüche, Primzahl-Karos und andere Zahlenspiele sind nicht uninteressant. „Zentriert-hexamorphe“ und „tortenmorphe ganze Zahlen“ waren mir neu: Man definiert zunächst die Tortenzahlen „. Sie geben die größtmögliche Zahl der Stücke an, in die sich eine Torte mit n Schnitten zerlegen läßt... So kann eine Torte mit nur zwei geraden Schnitten in vier Stücke zerteilt werden... Eine Zahl heißt tortenmorph, wenn sie mit der zugehörigen Tortenzahl endet. Wäre beispielsweise n=25 und Torte(n) gleich 1325, dann heißt n tortenmorph, da die Ausgangszahl in den letzten beiden Ziffern vorkommt“ (Seite 251; Zitat zur besseren Verständlichkeit leicht verändert). Aber das Ende des Kapitels ist traurig: Man kann beweisen, daß es keine tortenmorphen ganzen Zahlen gibt. Nicht nur die „Jongleur-Folge“ mit geraden und ungeraden Zahlen und die „Wurm-Algebra“ werden mit Hilfe von Pseudocodes lebendig. Pickover ist auf diese Zahlenspielereien durch Beobachtungen eines Jongleurs und beim Umgraben seines Gartens (er schnitt einen Regenwurm in zwei Teile) gestoßen. Schließlich sei noch auf „Palindrome“ hingewiesen: Pickover definiert sie als Wörter („Anna“), Sätze oder positive ganze Zahlen („121“), die vorwärts wie rückwärts gelesen denselben Sinn ergeben. Eine Palindrom-Zahl kann man – vielleicht – erzeugen, indem man eine ganze Zahl und ihre Ziffernfolge-Inversion addiert und diesen Prozeß wiederholt. Beispiel: 18 + 81 = 99 (ein Schritt); 19 + 91 = 110 und 110 + 011 = 121 (zwei Schritte). Führt man diese Überlegungen weiter, ergeben sich überraschende Einsichten und bei graphischer Darstellung unter Umständen oszillierende Muster. Im Anschluß an diese zahlentheoretischen Überlegungen appelliert Pickover an unsere Vorstellungskraft: Mit einer „Sprachsynthesegranate“ erobern wir das weite Gebiet der „computer-generierten Literatur“, die mit Hilfe von Computer-Poesie-Programmen samt installierten Thesauren erzeugt wird. Diese Wörtersammlungen sollen „die künstlerische Aussagekraft Ihres Gedichtes noch erhöhen“. Über volle zehn Seiten hinweg druckt Pickover für den Computer-Dichter Vorschläge für eine bessere oder „verschnörkelte“ Ausdrucksweise ab, statt „Wasser“ etwa „Tiefsee“, „glitzender See“, „träger Strom“, „silberne Teiche“! Im Teil „Fiktionen“ („Gelatine-Kühe“) wird diese Art der Poesie im Detail vorgeführt, die jenseits des Großen Teiches offenbar ein Publikum hat. Der anschließende Anhang mit weitergehenden Vorschlägen zu früheren Kapiteln versöhnt einen wieder mit den Grundgedanken des Buches. Da geht es etwa um Spinnenfäden und -netze, die „Gewichte tragen können, unter denen Drahtseile desselben Durchmessers sofort zerreißen würden“, um Fermat-Zahlen und die Benutzung von RNA-Faltungsprogrammen zur Untersuchung von Primzahlmustern. Als Empfehlung zur Lektüre möchte ich – inspiriert durch dieses Kompendium, in Abwandlung eines Zitates über die Mathematik von Bertrand Russell, das auf Seite 233 abgedruckt ist – sagen: „Dieses Buch ist eine wissenschaftliche Abhandlung, bei der man nie weiß, über was man spricht oder ob das Gesagte auch wahr ist!“


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1993, Seite 131
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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