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Editorial: Mit Gottfried Benn gedacht

Was Gottfried Benn wohl zu diesem Heft sagen würde? In seinem Essay "Physik" geißelte der breit interessierte Schriftsteller 1943 die Wissenschaft seiner Zeit. Mit Formeln die Natur zu sezieren, erschien ihm fast als Frevel. Mit ameisenhaftem Fleiß Daten anzuhäufen, die doch unverbunden blieben, deuchte ihn unsinnig. Als Beispiel führte er die 1930 entdeckte kosmische Strahlung an: "Die Höhenstrahlen werden nicht von den aller­obersten Bodenschichten der Erde verschluckt, sie dringen 300 Meter in festes Erdreich und 700 Meter in Wasser ein, es durchschießen den Menschen hundert Millionen von ihnen pro Tag; an Herkunft sind sie unerfahrbar, vermutlich stammen sie aus sagenhaften Fernen neu entspringender Sterne, ihre Wirkung ist kaum von Theorien bisher gestreift." Zahlen, die beliebig wirken und sich teils unserer Vorstellungskraft entziehen, gepaart mit abstrakten Theorien bedeuten noch keine Erkenntnis, so der Befund.

Ich bin sicher: Würde der Dichter noch leben, er wäre ein treuer und dabei äußerst kritischer "Spektrum"-Leser. Bei der Lektüre des Artikels über das IceCube-Experiment zum Nachweis hochenerge­tischer Neutrinos ab S. 34 würde er vermutlich die Stirn runzeln. Im Südpol-Eis haben Forscher ein paar Dutzend Elementarteilchen eingefangen, die zuvor das halbe Universum durchflogen? Und jetzt sollen diese "Boten aus dem All" astronomische Extremereignisse plus den Ursprung ebenjener kosmischen Strahlung erklären? All dies dürfte auf jemanden wie Benn skurril wirken, zu spekulativ, zu sehr theoriegeleitet, kurzum: kein echtes Verständnis. Und ich würde zugestehen: Ja, an dieser vordersten Front der Forschung bleibt das Wissen – vorerst und vielleicht noch auf lange Zeit – fragmentarisch, in jedem Fall unanschaulich. Auch teile ich die Kritik, bei aller Euphorie über die eigenen Fortschritte sollten sich Wissenschaftler regelmäßig demütig fragen, was sie denn wirklich bereits verstehen und wie viel Unverstandenes wohl noch vor ihnen liegt. Doch entschieden entgegenhalten möchte ich Benn, dass wir keine besseren Methoden als Theorie und Experiment haben, um uns Natur und Kosmos zu erschließen.

Damit ist freilich noch nichts darüber gesagt, was wir mit dem erworbenen Wissen anfangen. In seinem Aufsatz beschrieb Benn knapp vier Jahre nach Entdeckung der Kernspaltung und rund zwei Jahre vor Abwurf der Hiroschima-Bombe hellsichtig die Möglichkeit, "durch fortgesetztes Aufprallen von Neutronen auf Uratome in sich multiplizierenden Wirkungen so viel Energiebeträge freizumachen, dass die Planeten in Katastrophen verwickelt werden könnten". Doch allein aus der Verfügbarkeit einer Technologie entspringt kein tiefes Verständnis, bemäkelte der Literat. Was dächte er wohl heute über autonome Killerdrohnen und Roboter­soldaten? Unseren Artikel ab S. 80 würde er jedenfalls verschlingen, denn hier stellt sich die Frage­ nach der Verantwortung der Wissenschaft einmal mehr.

Nachdenklich grüßt Ihr

Carsten Könneker

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