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Mobilität und marktwirtschaftlicher Verkehr

Eine effizient funktionierende Straßenverkehrswirtschaft erfordert die Einbeziehung der Umweltschäden in die Preisgestaltung. Verschiedene Methoden bieten sich an, den Geldwert der bisher nicht berücksichtigten externen Kosten zu bestimmen.

Der Unmut über den unablässig anschwellenden motorisierten Verkehr ist groß. Viele Menschen fordern eine Reduktion des Verkehrsvolumens, damit das Leben entlang den Transitrouten und in den Stadtzentren nicht vom Blech erdrückt und von Abgasen erstickt wird. Gleichzeitig bringt die durch den Individualverkehr ermöglichte hohe Mobilität große wirtschaftliche und persönliche Vorteile; diese lassen die Nachfrage nach Verkehrsleistungen immer weiter ansteigen – ein scheinbarer Widerspruch, der vordergründig als Marktversagen gedeutet wird.

Doch diese Diagnose greift zu kurz. Würden wir den Preisen eine faire Chance geben, ihre Regelungsfunktion korrekt zu erfüllen, könnte der Marktmechanismus das Verkehrsgeschehen volkswirtschaftlich optimal steuern. Das Verkehrsaufkommen hat sich nämlich vor allem deshalb so stark erhöht, weil die Mobilität zu billig erhältlich ist. Die motorisierten Verkehrsteilnehmer bezahlen nur den privatwirtschaftlichen Teil der Kosten; der große Rest – beispielsweise durch Lärm, Luftverschmutzung, Unfälle und Klimaänderung verursacht – wird als externer Effekt auf eine anonyme Allgemeinheit abgewälzt.

Daran sind freilich keine böswilligen Automobilisten und Lastwagenfahrer schuld – deren Verhalten ist völlig marktkonform. Wir haben es vielmehr versäumt, die Rahmenbedingungen so zu wählen, daß die Preise die tatsächlichen Kosten repräsentieren. Wer Schutzdämme in Form von Verboten und Geboten errichtet, betreibt bloße Symptombekämpfung, indem er nicht marktgerechte Preise durch ineffiziente Regulierungen zu ersetzen sucht.

Eine notwendige Voraussetzung für den dringlichen Wandel ist die Internalisierung der externen Kosten nach dem Verursacherprinzip. Diese Maßnahme würde zwar von vielen als unbequem empfunden, denn niemand zahlt gerne für etwas, das er bisher (scheinbar) gratis in Anspruch nehmen konnte; sie wäre aber für das optimale Funktionieren der Marktwirtschaft unerläßlich.

Die Höhe der externen Effekte läßt sich mit direkten und indirekten Methoden berechnen. Bei den indirekten Verfahren schließt man aus beobachtbaren Preisen für gehandelte Güter auf die Höhe der externen Kosten und Erträge. Häufig orientiert man sich dabei an den Reparaturkosten oder dem Vermeidungsaufwand. In beiden Fällen behandelt man andere Lebewesen als Sache, denen gemäß dem anthropozentrischen Weltbild anhand ihres Gebrauchsnutzens für die Menschen ein materieller Wert zugeordnet wird. Einige Beispiele aus dem Verkehrsbereich vermögen dies zu verdeutlichen:

– Unfälle werden mit den Heilungskosten und dem Ausfall an Arbeitszeit während der Genesungsperiode bewertet. Bei Invalidität oder Tod wird der Humankapitalansatz verwendet, mit dem man das entgangene künftige Einkommen schätzt; menschliches Leid und der Verlust an Lebensqualität bleiben freilich unberücksichtigt.

– Gebäudeschäden durch Luftverschmutzung lassen sich vergleichsweise einfach anhand der Reparaturkosten ermitteln. Schwieriger ist die Berechnung, wenn die Abgase irreparable Schäden an einmaligen Kulturgütern und Kunstwerken verursachen.

– Wälder dienen nicht nur der Holzproduktion, sondern erbringen auch wichtige Dienstleistungen: Sie speichern Wasser, verhindern die Erosion des Bodens, nehmen Kohlendioxid auf und schützen in den Bergen vor Lawinen und Steinschlag; Spaziergängern bieten sie Ruhe und Erholung. Wenn die Bäume durch die Luftverschmutzung so stark geschädigt werden, daß der Wald seine Schutz- und Erholungsfunktionen nur noch eingeschränkt erfüllen kann, entstehen hohe Kosten für Wasserrückhaltebecken, Lawinenverbauungen, Schutzgalerien und Tunnelstrecken sowie für die Anlage neuer stadtnaher Erholungsgebiete. Hinzu kommen höhere Restrisikokosten – der Wald erfüllt nämlich seine Aufgaben billiger und besser als jede technische Schutzmaßnahme.

– Als Näherungswerte für die Kosten des Verkehrslärms lassen sich die Aufwendungen für Schallschutzwände und besser isolierende Fenster sowie für andere Lärmdämmungsmaßnahmen heranziehen. Die durch Geräuschbelastung erlittene Einbuße an Lebensqualität wird bei dieser reinen Aufwandmethode nicht berücksichtigt.

– Der Lärmpegel wirkt sich signifikant auf die Grundstückspreise und die Miethöhe aus. Ansonsten vergleichbare Objekte sind in ruhigen Lagen teurer als in lauten. Die Differenz entspricht ungefähr der Summe, die man für ruhiges Wohnen zu zahlen bereit ist; sie eignet sich daher zur Bewertung der Verkehrslärmkosten.

Bei der direkten Methode der Ermittlung externer Kosten wird die Zahlungsbereitschaft der Individuen einfach erfragt. Dabei lassen sich alle Externalitäten erfassen, sogar der Existenzwert einer intakten Landschaft oder einer vom Aussterben bedrohten Tierart.

Das Verfahren hat jedoch den Nachteil, daß kein tatsächliches Verhalten, sondern nur eine Absicht ermittelt wird. Zudem sind auch strategische Antworten, die das Umfrageergebnis verfälschen, nicht auszuschließen. Die Erfahrung mit derartigen Untersuchungen zeigt jedoch, daß sich mit richtig konzipierten Fragebögen und sorgfältig geführten Interviews die Zahlungsbereitschaft gut erfassen läßt.

Es liegen bereits zahlreiche Ergebnisse solcher direkten und indirekten Untersuchungen vor, die eine zuverlässige Abschätzung der externen Verkehrskosten gestatten. Selbstverständlich lassen sich auch weiterhin die Erhebungsmethoden verfeinern und die Ergebnisse noch präzisieren. Gleichwohl wäre es völlig falsch, mit der Internalisierung zu warten, bis perfekte Resultate vorliegen.

Heute werden die externen Kosten unserer motorisierten Mobilität gänzlich vernachlässigt. Diese schwerwiegende Verzerrung des Preisgefüges hat eine wirtschaftliche Ineffizienz und die Zerstörung der Umwelt zur Folge. Eine schrittweise Annäherung an die tatsächlichen Kosten schont die Umwelt und bringt außerdem wirtschaftliche Vorteile.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1993, Seite 99
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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