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Moderne Rechenkünstler. Die Industrialisierung der Rechentechnik in Deutschland


Der Titel ist gleich dreifach falsch. Die Helden des Buches sind nicht modern, sondern haben ihre großen Werke vor 1960 vollbracht; das Hauptgewicht der Darstellung liegt auf der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Es sind auch nicht Künstler im landläufigen Sinne, sondern Ingenieure, und ihre bemerkenswerten Fähigkeiten bestanden nicht im Rechnen, sondern im Bau von Rechengeräten: von den Planimetern (Instrumenten zur Bestimmung von Flächeninhalten) des Allgäuer Fabrikanten Albert Ott (1847 bis 1895) und den mechanischen Rechenmaschinen des Sachsen Arthur Burkhardt (1857 bis 1918) bis zu den frühen Universitäts-Großrechnern der fünfziger Jahre.

Dagegen ist der Inhalt des Buches sehr solide. Es handelt sich im wesentlichen um die Dissertation Petzolds, der als Abteilungsleiter für Informatik, Automation und Zeitmessung am Deutschen Museum in München an einer reichhaltig sprudelnden Quelle sitzt.

Aufbau und technische Funktionsweise der Geräte stehen nicht im Vordergrund. Nur zitatweise geht Petzold auf Einzelheiten technischer Neuerungen ein: Das Gerät des Münchener Maschinenbauers Udo Knorr (1887 bis 1960) zum Lösen von Differentialgleichungen "basierte nicht auf dem Mechanisms der ,stumpfen' Reibradrolle, sondern auf dem abgewandelten Prinzip der ,scharfen' Rolle" (Seite 32); aber hier wie an vielen anderen Stellen bleibt im dunkeln, was gemeint ist. Die Bilder sind schlecht reproduziert, wie bei diesem Verlag leider üblich. Dagegen sehe ich die Stärke des Buches in der akkuraten Darstellung der technischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, welche die industrielle Entwicklung bestimmten.

Die Idee einer mechanischen Addiermaschine war nicht neu; die deutschen Ingenieure hätten von den Differenzenmaschinen des englischen Erfinders Charles Babbage (1791 bis 1871) lernen können – direkte Verbindungen sind anscheinend nicht nachweisbar – oder von dessen Vorgängern auf dem Kontinent (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, April 1993, Seite 78). Für den mit großen Mühen erkämpften Erfolg von Burkhardts 1878 gegründeter Erster Deutscher Rechenmaschinenfabrik war vielmehr zweierlei entscheidend: Das sächsische Städtchen Glashütte war ein Zentrum des Uhrmacherhandwerks, wes-wegen dort zahlreiche fähige Feinmechaniker zu finden waren; und die Sozialgesetzgebung des Reichskanzlers Otto von Bismarck (1815 bis 1878) schuf erst den massenhaften Bedarf an Rechenleistung. Wenn nicht in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts zur Berechnung der Renten zahlreiche Rechenämter eingerichtet worden wären, "hätte Burkhardt den Rechenmaschinenbau [vielleicht] ganz aufgegeben" (Seite 69).

Überraschend häufig kommt zum Vorschein, welch entscheidende Bedeutung der Staat bei der Entwicklung der Rechenindustrie hatte. Geläufig ist seine Rolle als militärischer Auftraggeber: Analoggeräte zur präzisen Einstellung von Geschützen wurden im Zweiten Weltkrieg in so großer Menge bestellt, daß die sehr schwierige Produktion der dafür benötigten Kurvenkörper die Fertigungskapazität aller einschlägigen Fabriken überforderte. Auch daß Erfinder wie Konrad Zuse, der Erbauer der ersten programmierbaren Rechner, staatlichen Stellen ihre Erfindungen unter deutlichem Hinweis auf ihre militärische Verwendbarkeit andienten, überrascht nicht.

Entgegen landläufigen Vorstellungen wirkte der Staat jedoch auch in der Gegenrichtung: Der Wiener Ingenieur Gustav Tauschek (1899 bis 1945) scheiterte mit der Markteinführung seines neuartigen Buchhaltungssystems auf Lochkartenbasis im wesentlichen daran, daß die Firma Rheinmetall, die von seiner Erfindung überzeugt war und bereits große Summen in sie investiert hatte, 1930 sehr plötzlich das Interesse verlor, weil sie ihre Produktion wieder auf Waffen umstellte. Die Rationalisierungschancen der maschinellen Datenverarbeitung blieben in den Kriegsjahren weitgehend ungenutzt, und entsprechende Erfahrungen konnten nicht gesammelt werden, weil die Rüstungsaufträge, die zunehmend die Produktion dominierten, nach dem Kostenpreissystem abgerechnet wurden: Auf eine vom Hersteller selbst aufgestellte Kostenliste wurden 3 bis 6 Prozent Gewinn aufgeschlagen. Mit jeder Kosteneinsparung hätte also der Hersteller seinen Gewinn gemindert.

Die Kapitel zur Nachkriegszeit erzählen von den kläglichen Versuchen der deutschen Industrie, neben der erdrückenden Übermacht der IBM noch ein erträgliches Auskommen zu finden, und einer Neuentwicklung: Erstmals mischen sich die Universitäten intensiv in die Entwicklung dessen ein, was inzwischen Hard- und Software heißt.

Die Darstellung endet 1960, mit wenig überzeugender Begründung. Aber für die Zeit bis dahin ist sie eine reichhaltige Quelle an Informationen zur jüngeren Technikgeschichte, die sonst kaum zu finden sind.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1994, Seite 130
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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