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Moleküle und Psychosen. Der biologische Ansatz in der Psychiatrie

Aus dem Englischen
von Marianne Mauch.
Spektrum Akademischer Verlag,
Heidelberg 1995.
248 Seiten, DM 68,-.

Ein Buch im Trend der Zeit! Die "biologische Psychiatrie" (ob es denn eine Psychiatrie gibt, die nicht mit Leben zu tun hat?) spielt – zumindest im universitären Diskurs – zur Zeit wieder einmal eine dominierende Rolle; insbesondere Forschungen zur Human- und Molekulargenetik psychiatrisch auffälligen Verhaltens werden immer häufiger initiiert und – vor allem – finanziert. Es vergeht kaum eine Woche, in der die Leiter der Versorgungskliniken mit ihren großen Patientenzahlen nicht zur Mitwirkung an solchen Projekten aufgerufen würden.

Und auch ein wirklich schönes Buch! Allein aufgrund seiner Gestaltung fühlte ich mich immer wieder aufgefordert, es in die Hand zu nehmen: Die solide Bindung, das ungewöhnliche Format, der attraktive Schutzumschlag, die großzügige Textgestaltung, zahlreiche farbige Bilder und Graphiken auf hochwertigem Papier, teils von rein illustrierendem Charakter, großenteils aber sehr anschauliche, das im Text Ausgeführte erläuternde Skizzen und Schemata, ein zuverlässiges Stichwortverzeichnis – all das sind beste Voraussetzungen für ein Lesevergnügen; zudem ist es der Übersetzerin gelungen, die offensichtlich gute Lesbarkeit des 1992 erschienenen amerikanischen Originals zu bewahren.

Samuel H. Barondes ist Molekularbiologe und Psychiater an der Universität von Kalifornien in San Francisco. Er hat sich zum Ziel gesetzt, "aufzuzeigen, wie Erkenntnisse aus der modernen Biologie in der Psychiatrie Verwendung finden" (Seite 32). Mit ebenso großem Enthusiasmus wie unerschütterlichem Optimismus schildert er, wie "die einzelnen Moleküle und die von ihnen kontrollierten biologischen Mechanismen wichtige Bausteine des Verhaltens sind", "wie die Forschung auf der Ebene der Moleküle die Psychopharmakologie und die Verhaltensgenetik vorangebracht hat", "welche Einblicke die Fortschritte in Pharmakologie und Genetik bereits in die Ursachen schwerer psychischer Störungen, wie etwa der manisch-depressiven Erkrankung und der Schizophrenie, gebracht haben und wie diese Errungenschaften in der Zukunft zu besseren Diagnose- und Therapieverfahren beitragen können" (Seite 140).

Das Buch hat eine klare Gliederung: Nach einer Übersicht über die Entwicklung der biologischen Psychiatrie folgen Einführungen in die Genetik des Verhaltens, die Funktionsweise der Gene, den neuronalen Aufbau des Gehirns und die Psychopharmakologie. Die sprachliche und graphische Darstellung ist präzise, detailliert und sehr anschaulich. Barondes verschweigt auch unbequeme Tatsachen nicht, beispielsweise daß das Medikament Imipramin seit 40 Jahren in der Behandlung der Depression angewendet und seitdem intensiv beforscht wird, seine Wirkweise aber nach wie vor rätselhaft ist.

Der Laie, an den sich das Buch erklärtermaßen richtet, dürfte sich bei der einen oder anderen Passage durch die Fülle der Informationen überfordert fühlen. Dies liegt jedoch vor allem an der Sache selbst und weniger am Autor, dem man anzumerken glaubt, daß er in erster Linie Molekularbiologe ist und erst in zweiter Linie Psychiater.

Wenn Barondes nämlich im zweiten Teil des Buches häufige psychische Krankheiten – er beschäftigt sich mit Manie und Depression, mit Schizophrenie sowie mit Angst- und Zwangsstörungen – aus der "molekularen Perspektive" heraus betrachtet, dann würde sich der Psychiater seine Darstellungen an manchen Stellen differenzierter und (zum Beispiel bei der Zwillingsforschung und der Elektroschocktherapie) weniger unkritisch wünschen. Grundsätzlich hält er sich auch hier an den Lehrbuchcharakter, den er im ersten Teil gewählt hat, indem er beispielsweise die diagnostischen Kriterien des "DSM III R" (des diagnostischen und statistischen Handbuchs psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft) aufführt, Patientenberichte in den Text einstreut, beim jeweiligen Krankheitsbild eingesetzte Psychopharmaka benennt und den aktuellen Forschungsstand über ihre Wirkmechanismen darstellt.

Barondes hat mich jedoch von seiner zentralen Botschaft nicht überzeugen können. Sein "Credo", daß "die genaue Identifikation der an seelischen Krankheiten beteiligten Gene und ihre Bedeutung für die Funktion des Gehirns... enorme theoretische und praktische Konsequenzen haben" werde (Seite 32) und die "biologischen Ansätze auf entscheidende Fortschritte in Verständnis und Therapie hoffen lassen" (Seite 195), ist nicht zu widerlegen, ebenso wie es nicht zu beweisen ist. Die Tatsache aber, daß dieses Credo etwa hundert Jahre alt ist, so alt wie der Begriff der Schizophrenie selbst, sollte doch ein Anlaß zu Vorsicht und Zurückhaltung sein. Die Begeisterung für die "biologische Psychiatrie", die trotz aller Rückschläge und Enttäuschungen über all die Jahrzehnte hinweg ungebrochen ist, muß einen tieferen Grund haben. Dieser scheint mir in dem großen Bedürfnis zu liegen, auch menschliches Verhalten im Sinne einer trivialen Input-Output-Maschine zu verstehen und dann eben auch steuern zu können. Ich übersehe nicht, daß eine Fülle hochinteressanter Daten durch die "biologische Forschung", der nicht zuletzt aufgrund der gewaltigen Potenz der Pharma-Industrie erhebliche Geldmittel zur Verfügung stehen, zusammengetragen wurde; der Gewinn an Erkenntnis im Hinblick auf ein Verständnis von menschlichem Verhalten scheint mir jedoch noch sehr gering.

Insofern dürfte es auch charakteristisch sein, daß Barondes die für sein Thema zentrale Frage nach der Art der Beziehungen zwischen Bewußtsein, Geist, Psyche und Verhalten einerseits und molekularen Prozessen andererseits überhaupt nicht aufgreift und diskutiert. Statt dessen begnügt er sich mit einer reinen Parallelisierung von – zum Beispiel – neuronalen Verknüpfungen und Verhalten.

Man gewinnt den Eindruck, Barondes habe diese fundamentale Schwäche seiner Argumentation selbst bemerkt. Denn immer wieder streut er Hinweise in den Text ein, die diese Parallelisierung affirmativ bestätigen, teils sogar unfreiwillig komisch wirken, beispielsweise: "Vergegenwärtigt man sich die große Zahl von Neuronen und ihre vielfältigen Verknüpfungen untereinander, dann ist es nicht überraschend, daß aus ihrem Zusammenwirken sehr komplizierte Verhaltensmuster hervorgehen können" (Seite 92).

Auch wenn ich mich dem "Credo" von Barondes nicht anschließen kann und sein unerschütterlicher Optimismus, der auf jeder Seite durchscheint, mich skeptisch stimmt – das Buch gibt einen guten Überblick über den derzeitigen Stand der Erkenntnis aus genetischer und molekularbiologischer Sicht und kann durchaus jedem empfohlen werden, der sich über Grundlagen und Forschungsstand informieren möchte.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1996, Seite 120
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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