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Nanotechnik: Molekulare Motoren

In der lebenden Zelle sind mikroskopische Maschinen am Werk, die durch Zufallsbewegungen und Quanteneffekte angetrieben werden. Wie schaffen es diese winzigen Aggregate, das umgebende Chaos in geordnete Bahnen zu lenken?


In den Lehrbüchern der Zellbiologie und Biochemie macht alles einen so schön geordneten Eindruck: Moleküle schweben gezielt aufeinander zu, gehen wohl definierte Bindungen ein und bleiben brav zusammen, bis sie unter Energieaufwand wieder getrennt werden. Doch dieses harmonische Bild, das aus unserer makroskopischen Vorstellungswelt stammt, hat wenig mit der Realität des Nanokosmos in lebenden Zellen gemein – denn dort herrschen Zufall und Chaos. Und dennoch wandern Zellen zum Licht, nehmen Zuckermoleküle aus der Umgebung auf und synthetisieren ständig Bausteine für neue Strukturen.

In den vergangenen Jahren haben Wissenschaftler allmählich erkannt, wie die Natur aus diesem scheinbaren Widerspruch einen Antrieb für molekulare Motoren gewinnt. Sie filtert gleichsam aus der thermischen Zufallsbewegung mikroskopischer Teilchen, der so genannten Brown'schen Molekularbewegung, mit einem Trick all das heraus, was nicht in die gewünschte Richtung geht. Das zu Grunde liegende Prinzip lässt sich als Brown?sche Ratsche veranschaulichen: Eine Feder drückt eine Sperrklinke in ein Zahnrad. Entscheidend ist dabei, dass die Zähne asymmetrisch geformt sind: Auf der einen Seite haben sie eine steile Flanke, auf der anderen geht es gemächlicher abwärts.

Wissenschaftler haben in ihren Reagenzgläsern bereits Miniaturmotoren und -apparate hergestellt, die nach diesem Prinzip einzelne Moleküle manipulieren können. Wie ihre natürlichen Vorbilder setzen die winzigen Maschinen chemische Energie mit fast hundertprozentigem Wirkungsgrad in mechanische Arbeit um. In zukünftigen technischen Systemen könnten sie als molekulare Montagegeräte oder hyperfeine Siebe wirken, fast ohne Energiezufuhr Berechnungen durchführen oder die Qualität von Halbleiterstrukturen kontrollieren.

Noch sind das Zukunftsträume. Die Technik der Gegenwart ist meistens so klobig, dass sie mühelos mit bloßem Auge zu erkennen ist. Diese makroskopische Welt prägt unser Denken, und darum ist es hilfreich, sich die molekularen Vorgänge mit Modellen aus dem Alltag zu veranschaulichen. Beispielsweise steht ein Auto für ein Protein, das in eine bestimmte Richtung wandern soll, und die Hagelkörner eines heftigen Wintersturms übernehmen die Rolle der Wassermoleküle, die von allen Seiten auf das Eiweißmolekül einschlagen.

Um die Aufgabe noch schwieriger zu gestalten, parkt das Auto am Fuße eines Hügels, dessen Kuppe es erreichen soll. Unvorstellbar, dass es bei ausgestelltem Motor wie von selbst hochfährt. Aber mit Hilfe des Hagels ist genau das möglich. In jeder Sekunde hämmern hunderte Körner zufällig von allen Seiten gegen die Karosserie – ein Protein in der Zelle hat noch weit mehr Stöße einzustecken. Da die augenblicklichen Impulse sich nicht exakt aufheben, bewegen sie in ihrer Summe das Auto ein winziges Stückchen vor oder zurück. Über längere Zeit betrachtet bleibt das Fahrzeug zwar am Ausgangspunkt stehen, doch es zittert dabei hin und her.

Ein flinker Beobachter kann sich diese Bewegung zu Nutze machen. Wenn er ein Hinterrad mit einem Bremsklotz blockiert, unterbindet das jede Fahrt des Autos nach hinten. Schafft er es nun, den Klotz schnell genug nachzuschieben, wenn der Hagel den Wagen zufällig nach vorne treibt, macht er so nach und nach in winzigen Stücken Boden gut – und schließlich kommt das Auto tatsächlich oben auf dem Hügel an.

Der beschriebene Vorgang stellt freilich hohe Ansprüche an den "Fahrer". Bequemer geht es mit der bereits erwähnten Ratsche anstelle einer gewöhnlichen Bremse. Dafür muss das asymmetrische Zahnrad auf einer Radachse sitzen und die Sperrklinke zwischen die Zähne greifen. Treffen mehr Hagelkörner von vorne auf das Auto, bleibt es stehen, da die Klinke gegen die steile Flanke des Zahnrads gedrückt wird. Erfährt hingegen das Heck ein stärkeres Bombardement, so schiebt die Vorwärtsbewegung des Wagens den Stift die sanft ansteigende Seite des Zahnrads empor. Ist der Impuls groß genug, springt der Stift schließlich in die nächste Kerbe und sichert automatisch den kleinen Raumgewinn. Sonderlich effektiv ist diese Art der Fortbewegung natürlich nicht, denn nur solche Hagelkörner schieben das Auto voran, die genug Energie mitbringen, um die Kraft der Feder an der Sperrklinke zu überwinden.

Eine verbesserte Konstruktion vermeidet diese Schwierigkeit. Das Zahnrad ist diesmal andersherum eingebaut, sodass die Klinke bei einer Vorwärtsbewegung vor dem Problem der steilen Flanke steht. Doch statt ständig zwischen den Zähnen zu stecken, schwebt der Haken die meiste Zeit darüber. Das Auto kann also frei vor- und zurückzittern. Nur wenn der Fahrer auf die Bremse tritt, bewegt ein Kolben die Sperrklinke in das Zahnrad und stellt das Auto fest. In diesem Moment gibt es lediglich zwei Möglichkeiten: Hat sich der Wagen relativ zur Ausgangsposition ein kleines Stückchen nach hinten bewegt, trifft die Klinke auf die flache Flanke des Zahns und rutscht wieder in die Anfangslage zurück. Unter dem Strich hat sich also nichts geändert. Sollte der Wagen aber zufällig ein bisschen nach vorne gerollt sein, gerät der Stift mit hoher Wahrscheinlichkeit schon in den nächsten Zwischenraum, da er ja nur die kurze und steile Flanke überspringen musste. Das Fahrzeug wäre dann ein Stück weiter bergauf gelangt.

Bemerkenswert ist, dass das System funktioniert, obwohl der Fahrer in völlig unregelmäßigen Abständen auf die Bremse tritt. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Maschinen müssen die einzelnen Komponenten nicht genau synchron miteinander arbeiten.

Was ist die Antriebsquelle bei dieser Bergfahrt? Die Hagelkörner üben im zeitlichen Mittel keine Nettokraft auf das Auto aus. Auch wenn es bequem erscheinen mag, nur dann und wann mit dem Fuß auf die Bremse zu treten, stammt die Energie für das Vorwärtskommen genau aus dieser Bewegung. Sie zwingt die Sperrklinke den Weg entlang der flachen Zahnflanke in einen der tief liegenden Zwischenräume. Wäre nur eine der Bedingungen nicht gegeben – die Asymmetrie der Ratschenzähne, die Zitterbewegung des Autos durch die Hagelkörner oder die von außen stammende Energie beim Bremsen –, könnte der ganze Mechanismus nicht funktionieren.

Für ein echtes Auto stellt der Hagelkorn-Motor gewiss keinen brauchbaren Antrieb dar. Eine simple Überschlagsrechnung zeigt, dass ein Mensch selbst bei eifrigem Treten des Bremspedals eine Geschwindigkeit von gerade einmal einem Kilometer pro Stunde erreichen könnte – etwa eine Zehntel Wagenlänge in der Sekunde. Dabei würde der Fahrer bestenfalls eine Kraft auf das Gefährt übertragen, die einem Millionstel der Erdanziehung entspricht. Ein Hügel müsste also schon ziemlich flach sein, damit er auf diese Weise überwunden werden könnte.

Aber das Auto im Hagelsturm diente ja nur als Modell für Teilchen von Molekülgröße. Bei einem in Wasser gelösten kleinen Protein ist das Verhältnis der Massen recht ähnlich wie bei Auto und Hagel. Der Unterschied besteht vor allem darin, dass die Wassermoleküle den Eiweißklumpen viele Milliarden Mal in der Sekunde stoßen. Sein zufälliges Zittern – die Brown?sche Molekularbewegung – könnte mit einer winzigen Ratsche in eine Richtung geleitet werden. Ein kleines Protein würde so pro Sekunde bis zu einem Mikrometer (tausendstel Millimeter) – mehr als seine zehnfache Länge – zurücklegen und damit so viel wie ein Auto, das hundert Kilometer in der Stunde fährt. Der Mechanismus würde eine Kraft von bis zu zehn Pikonewton (billionstel Newton) aufbringen, immerhin tausendmal so viel wie die auf ein Molekül ausgeübte Schwerkraft.

Dass dieser Mechanismus wirklich funktioniert, haben Wissenschaftler bereits vielfach demonstriert. Es ist schon erstaunlich, wie zwei kombinierte Zufallsprozesse einen gerichteten Effekt hervorbringen können. Der Physiker Juan M. R. Parrondo von der Universidad Complutense in Madrid hat die Gültigkeit dieses Prinzips für Glücksspiele nachgewiesen. Indem der Kandidat zwischen zwei Spielen wechselt, die ihm jedes für sich genommen schlechte Chancen lassen, vermag er das Schicksal zu seinen Gunsten zu wenden.

Solche Beispiele werden bei Physikern sofort den Verdacht aufkommen lassen, die Ratsche verletze den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, der ausdrücklich verbietet, mechanische Arbeit aus thermischen Zufallsbewegungen zu gewinnen. In seinen berühmten "Lectures on Physics" hat Richard Feynman eine Sperrklinke analysiert, die mit einer Art Flügelrad verbunden ist (Abbildung Seite 41). Könnten die asymmetrischen Zähne verhindern, dass dieses Rädchen sich rückwärts dreht, so würden die molekularen Zusammenstöße tatsächlich eine unregelmäßige, aber unaufhörliche Vorwärtsdrehung hervorrufen. Das ergäbe ein so genanntes Perpetuum mobile der zweiten Art, das nach dem Zweiten Hauptsatz verboten ist. (Da der Mechanismus keine Energie aus dem Nichts zaubert, verletzt er hingegen nicht den Ersten Hauptsatz, der die Erhaltung der Energie postuliert.)

Wie Feynman zeigte, vermag dieses System nicht ohne Energiezufuhr von außen zu funktionieren. Eine Feder muss die Sperrklinke niederdrücken, und diese Feder vollführt selbst thermische Bewegungen. Dadurch zieht sie sich zufällig immer wieder zusammen, hebt den Haken hoch und gibt vorübergehend das Zahnrad frei. Wegen der Asymmetrie der Zähnchen springt die Ratsche dabei höchstwahrscheinlich um einen Zwischenraum zurück.

Doch kein Perpetuum mobile der zweiten Art

Wenn Flügelrad und Federmechanismus die gleiche Temperatur haben, heben sich die Vorwärtsbewegungen durch molekulare Stöße und die Rückwärtsschritte durch die unzuverlässige Feder exakt auf. Darum rotiert eine Ratsche im thermischen Gleichgewicht nicht von selbst.

Doch das gilt nicht, wenn das System an verschiedenen Stellen unterschiedlich warm ist. Hat das Flügelrad eine höhere Temperatur als die Feder, so dreht sich die Ratsche in der Richtung, die man intuitiv erwarten würde. Ist hingegen die Feder wärmer, so rotiert das ganze Gebilde in der Gegenrichtung – als wollte es der Sperrklinke einen Streich spielen. Jede Abweichung vom Gleichgewichtszustand ermöglicht eine gerichtete Nettobewegung. Dabei muss von außen nicht unbedingt Wärme zugeführt werden. Im Beispiel des Autos war es mechanische Energie durch Treten der Bremse. Diese Energie verwandelte sich in Wärme, als das Fahrzeug kurz zum Stehen gebracht wurde. Auf diese Weise gehorchen all diese Systeme dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik.

Im molekularen Maßstab sind große Temperaturunterschiede zwar selten, doch dafür treten andere Arten von Ungleichgewicht auf. Vor einigen Jahren führte der organische Chemiker T. Ross Kelly am Boston College dazu ein raffiniertes Experiment durch. Sein Team synthetisierte eine Feynman-Ratsche aus Triptycen, einem Y-förmigen Molekül, das als Flügelrad diente, und dem G-förmigen Molekül Helicen als Sperrklinke mit Feder. Da Helicen einen Knick aufweist, lässt sich das Flügelrad leichter im Uhrzeigersinn drehen als andersherum. Trotz dieser Asymmetrie zeigten Beobachtungen mittels Kernspinresonanz-Spektroskopie, dass Rotationen exakt gleich häufig in beide Richtungen auftraten – wie Feynman vorhergesagt hatte.

Kelly störte nun das Gleichgewicht, indem er zusätzlich einen chemischen Prozess ins Spiel brachte: die Hydrolyse von Phosgen-Gas, das heißt dessen Spaltung durch Wasser. An einen Flügel des Triptycen-Flügelrads setzten die Wissenschaftler eine Aminogruppe, und an die Helicen-Sperrklinke eine Hydroxyalkyl-Gruppe.

Jedes Mal, wenn der Flügel der Sperrklinke nahe kam, reagierten diese chemischen Substanzen – vom Phosgen angetrieben – miteinander und verhinderten jede weitere Bewegung gegen den Uhrzeigersinn. Insgesamt drehten sich deshalb die meisten Flügelrädchen im Uhrzeigersinn. Dieses System ist zwar noch kein echter molekularer Motor, denn es würde zu seinem Ausgangspunkt zurückstreben, wenn die Bremse gelockert und erneut angezogen würde; aber es demonstriert immerhin das Prinzip.

Ionenpumpen als Ratschen

Es gibt auch Arbeitsgruppen, die mit anderen Sperrklinken eine kontinuierliche Rotation erzielt haben. Ein Team um Ben L. Feringa von der Universität Gronin-gen (Niederlande) treibt zum Beispiel einen molekularen Motor mit Licht an.

Neue Experimente haben gezeigt, dass zumindest einige biologische Maschinen nach dem Ratschenprinzip arbeiten – zum Beispiel Ionenpumpen. Diese Proteine transportieren elektrisch geladene Teilchen entgegen der normalen Flussrichtung durch Zellmembranen. Könnten die Ionen frei diffundieren, würden sie im zeitlichen Mittel einer Kombination aus Konzentrationsgefälle und elektrischem Feld folgen, dem Gradienten im so genannten elektrochemischen Potenzial. Die Pumpen bewegen die Teilchen mit Hilfe einer äußeren Energiequelle "bergauf" und sorgen dafür, dass die lebenswichtigen Ungleichgewichte in der Stoffverteilung erhalten bleiben.

Das System gleicht auf den ersten Blick einem Tunnel durch die Membran. Im Prinzip können Ionen an beiden Eingängen hinein- und hinauswandern. Aber die Enden unterscheiden sich hinsichtlich der Öffnungsgröße und der Stärke der Wechselwirkungen zwischen Protein und Ionen. Vereinfacht gesagt steht das Tor beispielsweise zum Zellinneren weit offen, und elektrische Kräfte ziehen die geladenen Teilchen an und halten sie. Die Außenseite wirkt dagegen wenig einladend und bindet nur selten Ionen, die schnell wieder wegdiffundieren. Das Bild ändert sich, wenn an einer anderen Stelle der Ionenpumpe ein Molekül Adenosintriphosphat (ATP) gespalten wird. Der Tunnel verändert dadurch seine Form und geht in einen zweiten Zustand über, in dem der innere Eingang des Tunnels geschlossen ist. Gleichzeitig wandern die schon aufgenommenen Ionen nach außen und verlassen dort die Ionenpumpe. Der Kreislauf ist vollständig, wenn neues ATP die Spaltprodukte ersetzt. Die Pumpe klappt wieder in den nach innen offenen Zustand zurück und sammelt neue Teilchen für den nächsten Transport.

Sowohl die Formänderungen des Proteins als auch der Zerfall des ATPs laufen zufallsgesteuert ab. Bei der chemischen Spaltung des ATPs handelt es sich um eine Reaktion, die weit vom Gleichgewicht entfernt stattfindet. Daher setzt sie viel Energie frei, die – wie das Treten der Bremse im Automodell – das Gesamtsystem in einen Zustand zwingt und so die Ionen gegen das Potenzialgefälle antreibt. Eine Synchronisation der beiden Prozesse ist nicht erforderlich. Dieses Ratschenmodell haben Tian Y. Tsong, damals an der Johns Hopkins University, und ich Mitte der achtziger Jahre entwickelt. Wir legten ein elektrisches Wechselfeld an eine Ionenpumpe an und beobachteten, wie sie – sogar ohne ATP – Ionen gegen den elektrochemischen Potenzialgradienten transportierte.

Je nach den aktuellen Bedingungen können unterschiedliche Teilvorgänge sozusagen die Bremse betätigen. Das Enzym ATP-Synthase kann einerseits wie eine Ionenpumpe ATP zerlegen und damit Protonen über eine Membran pumpen. Seine eigentliche Aufgabe liegt jedoch darin, die Teilchen dem Potenzialgefälle folgen zu lassen und ihre Energie zu nutzen, um ATP zu produzieren. Nach dem Wechselbindungsmodell, für das Paul D. Boyer, damals an der University of California in Los Angeles, 1997 den Nobelpreis für Chemie erhielt, verläuft dieser Zyklus über drei Stufen, in denen von den drei aktiven Zentren des Enzyms jeweils eines leer ist, eines die Vorstufen von ATP enthält und eines das fertige Molekül birgt (Spektrum der Wissenschaft 12/1997, S. 18).

Im Jahre 1996 wiesen Dirk Sabbert, Siegfried Engelbrecht und Wolfgang Junge von der Universität Osnabrück nach, dass sich dazwischen eine Art molekulare Pleuelstange dreht. Angetrieben vom Protonenfluss drückt sie die Zentren der Reihe nach von einem Zustand in den nächsten. Agiert das Enzym als Ionenpumpe, ist die Reihenfolge umgekehrt: Wie bei einem Wankelmotor versetzen die drei Zentren die Pleuelstange in Rotation. Diese gibt die Bewegung weiter an den Proteinabschnitt in der Membran, der schließlich die Protonen "bergauf" transportiert (Spektrum der Wissenschaft 9/1996, S. 20).

Brown?scher Protein-Transport in Mikrotubuli?

Das Brown?sche Modell für molekulare Motoren fordert in manchen Fällen altbewährte Theorien heraus. Das Protein Kinesin besteht aus zwei locker miteinander verbundenen Domänen. Es transportiert andere Eiweißstoffe entlang dünner, Mikrotubuli genannter Proteinketten, die sich durch das Zellinnere ziehen. Trägt man in einem Diagramm auf, wie viel Energie frei wird oder eingesetzt werden muss, wenn das Kinesin an die verschiedenen Bereiche der Mikrotubuli bindet, entsteht eine Sägezahnkurve. Zwischen den bevorzugten Kontaktstellen gibt es Barrieren mit unterschiedlich steilen Flanken, die ein Weiterrutschen des Kinesins verhindern. Im Brown?-schen Modell wandelt die Spaltung von ATP das Energiediagramm in eine flache Kurve um. Dadurch reichen die zufälligen Kollisionen kleiner Moleküle wie Wasser mit dem Kinesin aus, um das Protein vor- oder zurückzittern zu lassen. Wenn die Abbauprodukte des ATPs wegdiffundieren, nimmt das System wieder den vorherigen Zustand mit dem Sägezahnpotenzial ein. Auf Grund der Asymmetrie ist dies in den meisten Fällen mit einer Nettowanderung in die gewünschte Richtung verbunden.

Die traditionelle Vorstellung erklärt den Vorgang ganz anders. Sie schreibt der Form des Kinesins eine zentrale Rolle zu. Wie eine Raupe auf einem Zweig soll das Molekül seine vordere Domäne ausstrecken, einen neuen Haltepunkt am Mikrotubulus finden und sich dort anklammern, woraufhin der hintere Teil nachrückt. Nach diesem Modell sind also unbedingt beide Hälften des Kinesins erforderlich: Fehlt ein Teil, kann das Molekül nicht mehr die Mikrotubuli entlangwandern. 1998 führten Yasushi Okada und Nobutaka Hirokawa von der Universität Tokio ein entsprechendes Experiment durch. Sie ersetzten eine der Domänen durch eine Reihe elektrisch geladener Aminosäuren, sodass die Form des Moleküls anders war, aber die energetischen Eigenschaften im Wesentlichen erhalten blieben. Tatsächlich konnte das veränderte Molekül etwa genauso schnell die Mikrotubuli entlangklettern wie normales Kinesin mit zwei Domänen – eine elegante Bestätigung des Brown'schen Modells.

Es ist gut möglich, dass Zufallsbewegungen an noch viel mehr biologischen Prozessen beteiligt sind, darunter Muskelkontraktion, Proteinsynthese, Trennen und Zusammenfügen von DNA-Strängen, Transport von Proteinen durch Zellmembranen und Abbau nutzlos gewordener Eiweiße.

In einigen Fällen halten sich experimentelle Hinweise für und gegen Brown?sche Mechanismen einstweilen noch die Waage. Doch eines ist sicher: Jede molekulare Maschine muss entweder gegen die Brown?sche Bewegung ankämpfen oder sie sich zu Nutze machen – und die letztgenannte Option bietet anscheinend mehr Vorteile.

Mittlerweile erforschen Wissenschaftler nicht nur natürliche Sperrklinken, sondern nutzen selbst dieses Prinzip. Sie sortieren damit beispielsweise Moleküle nach ihrer Größe. Kleinere Teilchen wandern im Trommelfeuer des Lösungsmittels schneller als schwerere Substanzen. Die ersten Brown'schen Siebe konstruierten vor einem Jahrzehnt die französischen Physiker Armand Ajdari und Jacques Prost. Joel S. Bader und seine Kollegen vom Biotechnologie-Unternehmen Curagen in New Haven (Connecticut) haben einen Apparat zum Sortieren von DNA-Molekülen konstruiert. Ihr Ansatz verspricht neue Sortiertechniken, die genauer und selektiver sind als die derzeit üblichen Elektrophorese-, Zentrifugen- und Destillationsverfahren.

1996 schlugen Martin Bier und ich – damals beide an der University of Chicago – vor, an die DNA-Gemische ein elektrisches Feld mit drei verschiedenen Zuständen anzulegen: positiv, negativ oder ausgeschaltet. Anders als bei den sonst üblichen Feldern, die nur "ein" oder "aus" waren, sollten darin leichte Teilchen in die eine und schwere Moleküle in die entgegengesetzte Richtung wandern. Theoretiker an verschiedenen Universitäten haben seitdem die Idee auf zwei Dimensionen erweitert.

Vor zwei Jahren bauten dann Alexander van Oudenaarden und Steven G. Boxer an der Stanford University ein funktionstüchtiges zweidimensionales Sieb. Mittels Elektronenstrahl-Lithografie trugen sie auf einen Objektträger ein Muster asymmetrischer, 25 Nanometer hoher Barrieren auf. Hinein füllten sie eine Flüssigkeit mit elektrisch neutralen Lipidmolekülen, mischten einige Lipide mit unterschiedlichen elektrischen Ladungen dazu und legten ein elektrisches Feld an. Weil die einfach geladenen Moleküle langsamer wanderten als die doppelt geladenen, hatten sie in den Mulden mehr Zeit, sich seitwärts auszubreiten. Die Asymmetrie der Barrieren machte es ihnen einfacher, in eine Richtung zu driften, statt sich einfach nur auszubreiten. Am anderen Ende des Objektträgers angekommen, hatten die Lipide sich schließlich selbst je nach ihrer Ladung in verschiedene Gruppen sortiert.

Unterdessen hat die Ratsche sogar Einzug in die Welt der Quanten gehalten. Vor fünf Jahren hatte Peter Hänggi von der Universität Augsburg die faszinierende Idee, dass Quanteneffekte – interferierende Wellenfunktionen, diskrete Energiewerte und tunnelnde Elektronen – einen weiteren Zufallsgenerator darstellen könnten. Bei extrem niedrigen Temperaturen sollten sie auf kleinstem Raum die Rolle der Brown'schen Bewegung übernehmen. Mit einer Quantenratsche könnten Wissenschaftler einzelne Elektronen präzise beeinflussen, ohne elektrische Felder ähnlich genau steuern zu müssen

Seither haben Charles M. Marcus und seine Mitarbeiter an der Stanford University aus einem Quantenpunkt eine Elektronenpumpe fabriziert, die als Tunnel zwischen zwei großen Elektronenreservoirs wirkt und mit elektrostatischen Barrieren verschlossen werden kann. Indem die Forscher die Spannung zwischen dem Quantenpunkt und den Barrieren zyklisch variierten, verschoben sie einzelne Elektronen zwischen den Reservoirs. Weil das System stets nahe dem Gleichgewicht blieb, war der Prozess reversibel und somit der Energieaufwand nahezu beliebig klein. Einen ähnlichen Mechanismus haben Imre Derényi und ich kürzlich an der Universität Chicago konstruiert; wir verwendeten abrupte und zufällige Spannungsänderungen. Ein solches System ist prinzipiell irreversibel und darum energieaufwendiger. Doch hat es den Vorteil, als Modell für irreversible chemische Reaktionen dienen zu können – etwa für diejenigen, welche die Ionenpumpe antreiben. Auch ließe es sich als Elektronenpumpe in molekularen Computern nutzen oder zur Signalverstärkung in extrem dünnen Drähten.

Heiner Linke hat an der Universität Lund (Schweden) dreieckige Quantenpunkte als Sperrklinken eingesetzt: Für die Elektronen war es schwieriger, die Spitze des Dreiecks zu passieren als die Basis. Bei Anlegen einer Wechselspannung floss deshalb ein Strom, obwohl die Spannung im zeitlichen Mittel gleich null war. Die Richtung des Stroms ließ sich durch Variieren der Temperatur steuern. Bei hohen Temperaturen wirkte das Bauteil als thermische Ratsche: Die Elektronen strömten vorzugsweise aus der Spitze der Dreiecke, weil es ihnen nach deren Passieren schwer fiel, wieder umzukehren. Bei tiefen Temperaturen verwandelte sich das Dreieck in eine Quantenratsche: Die Elektronen strömten mit Vorliebe aus der Basis, weil die Energiebarriere dort weniger hoch war und sie leichter durchtunneln konnten. Solche Bauteile könnten die Wirbelströme in Supraleitern dämpfen und damit ein großes Problem für Magnete und supraleitende Spulen lösen.

Auf diese Weise inspiriert das Prinzip der Brown'schen Sperrklinke nicht nur die Erforschung biochemischer Prozesse, sondern in zunehmendem Maße auch die Entwicklung miniaturisierter technischer Geräte. Auch in Zukunft wird dabei der Zufall ein Wörtchen mitzureden haben – aber nicht als Störfaktor, sondern als Ordnungsprinzip. Wie heißt es doch so schön? Wenn du einen Feind nicht besiegen kannst, dann verbünde dich mit ihm.

Literaturhinweise


Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall. Von Manfred Eigen und Ruthild Winkler. Piper, München 1975.

Playing Both Sides. Von Erica Klarreich in: The Sciences, Bd. 41, S. 25 (2001).

A Single Myosin Head Moves along an Actin Filament with Regular Steps of 5.3 Nanometres. Von K. Kitamura et al. in: Nature, Bd. 397, S. 129 (1999).

Thermodynamics and Kinetics of a Brownian Motor. Von R. Dean Astumian in: Science, Bd. 276, S. 917 (1997).


Steckbrief


- Ein molekularer Motor ist keineswegs nur die Miniaturausgabe einer gewöhnlichen Antriebsmaschine: Während in üblichen Motoren durch Energiezufuhr Bewegung erzeugt wird, verhindert in molekularen Motoren die zugeführte Energie bestimmte Bewegungen. Dies geschieht durch einen Mechanismus nach Art einer Sperrklinke oder Ratsche.

- Indem die Ratsche unerwünschte Bewegungen unterdrückt und erwünschte zulässt, lenkt der Motor die Zufallsbewegungen der Umgebung in geordnete Bahnen.

- Dieses Prinzip schafft Ordnung aus Chaos. Es erklärt nicht nur, auf welche Weise wichtige Prozesse in der lebenden Zelle ablaufen, sondern verspricht auch die Konstruktion künstlicher molekularer Maschinen für vielfältige Anwendungen.


Licht als Straße und Bremse


Vor mehreren Jahren verwirklichte der Physiker J. Albert Libchaber an der Princeton University einen molekularen Motor nach dem Prinzip des "Autos mit Bremsantrieb". Dem Auto entsprach ein durchsichtiges Plastikkügelchen mit einigen tausendstel Millimetern Durchmesser, das in einem Becherglas mit Wasser schwebte und gleichsam auf einer Straße aus Licht geführt wurde: Der schwache Strahlungsdruck der im Kügelchen gebrochenen und dahinter fokussierten Lichtstrahlen stieß es immer in Richtung der größten Strahlungsintensität. Ein Lichtstrahl gab den kreisförmigen Verlauf des Parcours vor. Ein zweiter Lichtstrahl fungierte als Bremse. Er sorgte für ein abwechselndes Muster hellerer und dunklerer Regionen auf der Strecke, wobei die Entfernungen zwischen Maxima und Minima richtungsabhängig waren: Von einem Punkt maximaler Helligkeit war es im Uhrzeigersinn nur ein kurzes Stück bis zum nächsten Minimum, in entgegengesetzter Richtung jedoch viel weiter. Diese Asymmetrie entspricht den Sägezähnen einer mechanischen Ratsche.

Wurde die Lichtbremse betätigt, so wanderte das Kügelchen zum nächsten Maximum und blieb dort, solange die Bremse aktiv war. Sobald der Bremsstrahl ausgeschaltet wurde, taumelte das Kügelchen zufällig auf der Kreisbahn umher. Wenn es dabei den Ort eines Minimums passierte – im Uhrzeigersinn ein kurzes Stück, entgegengesetzt eine längere Strecke –, drückte der nächste Bremsvorgang es zum nächsten Maximum. Auf Grund der Asymmetrie wanderte das Kügelchen eher im Uhrzeigersinn. Sein Tempo hing davon ab, wie oft die Wissenschaftler den Bremsstrahl ein- und ausschalteten: Je schneller sie das taten, desto flinker kreiste die Kugel – allerdings nur so lange, bis die Geschwindigkeit des "Autos" sich der Größenordnung der Brown?schen Molekularbewegung näherte.

Dieses System funktioniert ohne intelligente Steuerung von außen. Selbst wenn der Bremsstrahl ganz zufällig an- und ausgeschaltet wird, drehte die Kugel ihre Kreise.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 2002, Seite 36
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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Java Simulation einer einfachen Sperrklinke -> http://monet.physik.unibas.ch/~elmer/bm/
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