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Keine schlechte Idee: "Mond" ist umstritten, aber keineswegs abwegig



Obwohl die große Mehrheit der Astronomen glaubt, dass es Dunkle Materie gibt, hat eine alternative Hypothese – die Modifizierte Newton'sche Dynamik ("Mond") – in aller Stille durchgehalten, seit sie 1983 vorgeschlagen wurde. Wie Mordehai Milgrom in seinem Artikel berichtet, kann "Mond" eine beeindruckende Anzahl richtiger Vorhersagen zur galaktischen Dynamik vorweisen. Die Reaktionen der meisten Astronomen fallen in drei Kategorien:

1. "Mond" ist tautologisch. Die Theorie erklärt nur, worauf sie eigens zugeschnitten ist. Sie hat ein paar Zufallstreffer gelandet, aber deren Erfolg wird von den Befürwortern hochgespielt.

2. "Mond" beschreibt eine überraschende, geradezu rätselhafte Regelmäßigkeit in der Entstehung und Entwicklung von Galaxien. Die Standardtheorie der Gravitation gilt noch immer, und die Dunkle Materie existiert – aber sie verhält sich irgendwie "Mond"-gemäß. Bei detaillierter Anwendung auf ungewöhnliche Galaxien oder nichtgalaktische Systeme wird "Mond" versagen.

3. Unter bestimmten Voraussetzungen tritt "Mond" an die Stelle der Newton'schen Dynamik. Diese Modifikation ist ein Teilaspekt einer künftigen Theorie, die Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie ersetzen wird.

Den ersten Standpunkt vertraten bis vor kurzem die meisten Astronomen. Doch seit ein paar Jahren ist diese völlige Ablehnung schwer haltbar. Zahlreiche Folgerungen aus der Milgrom'schen Hypothese haben sich bestätigt – oft durch Arbeiten von durchaus kritisch oder neutral eingestellten Forschern. Zudem gibt "Mond" die Statistik der galaktischen Eigenschaften mindestens so gut wieder wie die Modelle mit Dunkler Materie, obwohl Letztere bei entscheidenden Aspekten der Galaxienentstehung zu Ad-hoc-Annahmen greifen.

Am eindrucksvollsten ist, dass "Mond" die Details der Galaxienrotation vorherzusagen vermag, und zwar bloß ausgehend von der Verteilung der sichtbaren Materie und einem angenommenen festen Verhältnis von Masse zu Leuchtkraft. Das übersteigt die Möglichkeiten der Modelle mit Dunkler Materie bei weitem. Sowohl diese Vorhersagen als auch die entsprechenden Beobachtungen gehen weit über das hinaus, was zu der Zeit, als "Mond" formuliert wurde, absehbar war. "Mond" ist nicht tautologisch.

Unterdessen ist die Standardtheorie der Dunklen Materie bei der Anwendung auf Galaxien in Schwierigkeiten geraten. Zum Beispiel sagt sie viel zu dichte Kerne Dunkler Materie in den Galaxien voraus. Diese Probleme könnten zwar von den Mängeln heutiger Computersimulationen herrühren, aber viele Theoretiker nehmen die Unstimmigkeiten ernst und ziehen Modifizierungen der Eigenschaften Dunkler Materie in Betracht.

Die Erfolge von "Mond" und die Schwierigkeiten mit Dunkler Materie haben mehrere Astronomen vom ersten zum zweiten Standpunkt bekehrt – doch nur einige wenige zum Standpunkt Nummer drei. Warum nur so wenige? Ich meine, dafür gibt es drei Gründe.

Erstens verändert "Mond" nur die Newton'sche Dynamik. Trotz einiger Anstrengung ist es den Befürwortern noch nicht gelungen, ihre Theorie so zu formulieren, dass sie auf relativistische Phänomene wie Gravitationslinsen und die kosmische Expansion angewandt werden kann. Offenbar ist dieses Ziel schwer zu erreichen – oder gar nicht. Wie auch immer, "Mond" ist bisher außer Stande, zu wichtigen kosmologischen Tests anzutreten und sie entweder zu bestehen oder durchzufallen.

Zweitens ist fraglich, ob die Theorie auch bei anderen Systemen so gut funktioniert wie bei Galaxien. Die Voraussagen über heißes Gas in Galaxienhaufen weichen krass von den Beobachtungen ab – peinlicherweise ganz so, als seien die Haufen durch noch nicht entdeckte Materie dominiert. Die Befürworter von "Mond" hoffen natürlich, dass es sich dabei um sehr leuchtschwache gewöhnliche Materie handelt, etwa um kleine Sterne oder warmes Gas. Diese Möglichkeit ist zwar nicht ausgeschlossen, aber durch Beobachtung und Theorie stark eingeschränkt. Es ist jedenfalls recht beunruhigend, dass eine wie auch immer geartete Dunkle Materie herhalten muss, um eine Theorie zu stützen, die extra zu deren Abschaffung erdacht wurde.

Der dritte Grund hängt mit den ersten beiden zusammen: Die Standardtheorie der Dunklen Materie hat in den letzten Jahren einige eindrucksvolle Erfolge erzielt. Numerische Simulationen ergeben eine räumliche Verteilung des intergalaktischen Gases, die ausgezeichnet zu den Daten passt. Alle unabhängigen Schätzungen für die Masse der Dunklen Materie in Galaxienhaufen stimmen überein. Die theoretisch hergeleitete Entwicklung kosmischer Strukturen verknüpft die großräumige Galaxienverteilung, die wir heute beobachten, korrekt mit den winzigen Temperaturfluktuationen der kosmischen Hintergrundstrahlung – den Relikten der Dichteschwankungen vor 13 Milliarden Jahren.

Was sollen die Astronomen also tun? Die stärksten Befürworter der Milgrom'schen Hypothese sollten weiter nach einer fundamentalen Theorie für "Mond" suchen, denn ohne eine solche Begründung wird die Mehrzahl der Physiker nie von der Standardposition abgehen. Wir anderen Forscher sollten "Mond" als eine bequeme Faustregel nutzen – ob wir nun eine Modifizierung der Newton'schen Dynamik akzeptieren oder nicht. Wir könnten die Regel vielleicht Milgroms Anpassungsformel, kurz Maf, nennen und damit betonen, dass wir sie als praktisches Werkzeug ansehen, aber nicht unbedingt gleich die Standardphysik ändern wollen.

Wenn die Allgemeine Relativitätstheorie zutrifft und die Dunkle Materie wirklich existiert, dann wird Maf mit zunehmender Genauigkeit der Messungen letztlich versagen. In der Zwischenzeit kann Maf als kompakte Zusammenfassung eines großen Wissensschatzes über die Bildung und Entwicklung von Galaxien sehr nützlich sein.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2002, Seite 39
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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