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Musikalische Akustik.

Ein Handbuch.
Aus dem Amerikanischen von Thomas A. Troge. Schott, Mainz 1997. 512 Seiten, DM 98,–.

Eine umfassende, anschauliche und einigermaßen voraussetzungslose Einführung in die Grundlagen der musikalischen Akustik war bislang nicht leicht zu finden. Dies ist um so bedauerlicher, als die deutschen Universitäten und Musikhochschulen den zwischen Physik, Elektronik, Physiologie und Psychologie angesiedelten, keineswegs trivialen Themenkomplex häufig sträflich vernachlässigen. Johannes Goebel, Herausgeber der deutschen Ausgabe und Leiter des Instituts für Musik und Akustik am Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, stellt zu Recht fest, daß es im deutschsprachigen Raum bisher an einem Buch mangelte, das den Musiker in den schwierigen Balanceakt zwischen Ästhetik, Technik und Wissenschaft einbezieht und für Laien wie Fachleute geeignet ist.

Das Buch wirkt in weiten Teilen wie eine niedergeschriebene Vorlesung. Dazu paßt die für wissenschaftliche Traktate ungewöhnliche persönliche Ansprache des Autors, die auch in der Übersetzung erhalten blieb.

Donald Hall, der an der Staatsuniversität von Kalifornien in Sacramento lehrt, ist zugleich promovierter Physiker und Berufsmusiker – vielleicht die beste Voraussetzung für die Abfassung eines Handbuchs, das sich mit einer gewissen Leichtigkeit und pragmatischen Selbstverständlichkeit den zahlreichen Phänomenen der musikalischen Akustik nähert, sie neugierig beobachtet, problematisiert und erläutert. Mit erstaunlichem pädagogischen Geschick versteht es der Autor, den Leser zu motivieren und mit geeigneten Übungsaufgaben am Schluß jedes Kapitels zur Vertiefung anzuregen.

Hall präsentiert den Stoff in drei Windungen einer Spirale mit zunehmend höherem Niveau. Jede Windung enthält die Themen Erzeugung, Übertragung und Ausbreitung sowie Wahrnehmung und Verarbeitung von Klang.

Schon in der ersten Windung findet man wichtige Grundbegriffe der Akustik und Schwingungslehre sowie die Grundlagen der Schallvorgänge beim Hören von Musik an gut ausgewählten Beispielen erläutert. Weiterführende, kompliziertere Aspekte werden – dem Leser die Wahl lassend – oft in eigenen Textkästen noch genauer ausgeführt. Zahlreiche Abbildungen, Prinzipdarstellungen und Tabellen sind geschickt in den Text eingeflochten. Auch die Bildlegenden enthalten häufig noch weiterführende oder genauere Erläuterungen.

Die ersten Kapitel der zweiten Windung widmen sich der Physik des Schalls, der Schallentstehung und -ausbreitung und den zugehörigen Grundlagen der Instrumentenkunde. Es folgen Aufbau und Funktion des menschlichen Ohrs sowie psychoakustische Gesetzmäßigkeiten und musikpsychologische Phänomene von der Tonempfindung bis zur musikalischen Organisation von Klängen und Geräuschen.

Die dritte Windung beginnt wieder eher physikalisch, diesmal mit vertiefender Darstellung der zugrundeliegenden physikalischen Prozesse und mathematischen Beschreibungsverfahren, zum Beispiel der Fourier-Analyse (Spektrum der Wissenschaft, August 1989, S. 90). Die Erläuterung der Klangsyntheseformen fällt allerdings auch für ein Buch mit Einführungscharakter etwas knapp aus.

Das – viel zu kurze – Kapitel über elektronische und Computermusik wirkt deplaziert, zumal es in den folgenden Kapiteln um die mechanischen Schwingungen geht, die traditionelle Musikinstrumente zum Klingen bringen. Jeweils ein eigenes Kapitel ist den Schlag-, den Saiten-, den Blasinstrumenten und schließlich der menschlichen Stimme gewidmet. Die Gliederung weicht von den üblichen Systematiken ab, wirkt aber in ihrem didaktischen Aufbau von Kapitel zu Kapitel durchaus überzeugend.

Auch hier ist der Autor durchweg bemüht, kompliziertere Sachverhalte wie die Eigenschwingungen einer Luftsäule, das Resonanzverhalten eines Geigenkorpus oder die Schwingungszustände eines Gongs möglichst nachvollziehbar zu beschreiben, wenngleich er über einige wissenschaftlich problematische Punkte vorerst hinweggeht. Jeder Pianist wird dem Autor dafür dankbar sein, daß er den überaus komplizierten und je nach Spielweise auch unterschiedlichen Tonentstehungsprozeß beim Anschlag des Hammers auf die Klaviersaiten vergleichsweise detailliert und immer mit Bezug zur resultierenden, musikpraktisch relevanten Klangwirkung verständlich beschreibt.

Umfangreiche Kapitel zu Raumakustik und Elektroakustik folgen, und der Kreis schließt sich mit einer problematisierenden Darstellung der Wahrnehmung von Klang und Musik. Hall stellt verschiedene Theorien der Hörwahrnehmung einander gegenüber, erörtert Fragen der musikalischen Gestaltbildung, vergleicht Stimmungssysteme und versucht schließlich sogar, höher organisierte psychologische Phänomene wie Melodiegestalt, Konsonanz/Dissonanz und Kadenzbildung zu diskutieren.

Hier bekennt er sich offen und ein wenig naiv zu einer Ablehnung der neuen, tendenziell konstruierten Formen wie der atonalen und der seriellen Musik, eine Haltung, die der Herausgeber der deutschen Ausgabe in einer Fußnote

(S. 438) mit leicht kritischem Unterton kommentiert. Hall beruft sich zwar auf gewisse musikpsychologische Grundkategorien wie die Empfindung eines tonalen Zentrums, versäumt es aber, seine Position mit einer gründlicheren Aufarbeitung des Forschungsstands (siehe zum Beispiel „Zur Musikpsychologie“ von Gerhard Albersheim, Heinrichshofen, Wilhelmshaven 1974) zu befestigen. Dadurch wirkt diese Passage wie ein artiger, etwas hilfloser Appell an den gesunden musikalischen Menschenverstand.

Immerhin werden jedoch andernorts häufig unterschlagene Hörphänomene wie das um 1940 von dem Niederländer J. F. Schouten erstmals erklärte Residuumhören oder die modernen Hörtheorien von Adrian J. M. Houtsma und Julius M. Goldstein zumindest angesprochen.

Zusätzlich zur Zusammenfassung am Ende jedes Kapitels gibt es einen hilfreichen Anhang mit Hinweisen zur Notenschrift und zu den physikalischen und mathematischen Maßeinheiten, dazu ein Glossar und einen umfangreichen Index.

Das Literaturverzeichnis ist für ein Handbuch nicht hinreichend. Schon die Angaben der amerikanischen Originalausgabe wirken zufällig zusammengestellt, wichtige musikpsychologische Standardwerke fehlen, die meisten Quellen sind vor 1985 erschienen; die vom deutschen Herausgeber hinzugefügten, an den deutschen Sprachraum angeglichenen Verweise nennen zwar einige neuere Publikationen, können das Defizit aber nicht ausgleichen.

Der Übersetzer hat sehr sorgfältig gearbeitet und Fachbegriffe behutsam an die deutsche Nomenklatur angepaßt. So wird das vieldeutige englische Wort sound je nach inhaltlichem Bezug nachvollziehbar als Geräusch, Schall oder Klang übersetzt.

Das Buch eignet sich bestens für Studenten, Pädagogen und Musiker. Es ist auch als Nachschlagewerk geeignet, obwohl der spiralförmige Aufbau und die didaktisch-methodische Intention des Autors dem doch ein wenig im Wege stehen. Es lag nicht in seiner Absicht, speziellere wissenschaftliche Informationen zu liefern. Zu weiterführenden Fragen darf man deshalb nicht wesentlich mehr als einen Hinweis erwarten.

Der Autor beschließt sein Buch mit einem Epilog über das Verhältnis von Wissenschaft und Ästhetik. Die Quintessenz drückt er in einem hübschen Sprichwort aus: „Mathematik ist Musik für den Verstand; Musik ist Mathematik für die Seele.“ Donald E. Hall versteht es zweifellos, diese Überzeugung auf den Leser zu übertragen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1999, Seite 149
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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