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Mutter Wurms Bettdecke

Eine Decke zu finden, die ein schlafendes Wurmbaby in jeder Lebenslage zuverlässig warmhält, ist nicht einfach jedenfalls für geizige Wurmmütter.

"Mama, ich mag nicht immer im Kreis herumlaufen!"

"Sei ruhig, Kind, sonst nagele ich dir den anderen Fuß auch noch fest."

Mündlich überliefert

Amelia, die Ehefrau von Heiner, dem Wurm, ist nicht nur gestreng und sauberkeitsbesessen (Spektrum der Wissenschaft, August 1994, Seite 10), sondern auch sehr sparsam. Kein Zweifel, ihr Baby braucht eine Zudecke, unter der es vollständig verschwindet, einerlei wie es sich im Schlafe kringelt. Aber da Mutter Wurm das gute Stück selber häkelt, will sie keinen Zentimeter Faden verschwenden. So kommt ein mathematisches Problem zu dem Namen "Mutter Wurms Bettdecke": Man bestimme unter allen universellen Bettdecken, das heißt ebenen Figuren, die jede Kurve der Länge 1 (Baby Wurms Körperlänge) vollständig überdecken können, diejenige mit dem minimalen Flächeninhalt. Der Mathematiker Leo Moser, der damals an der Universität von Alberta in Edmonton (Kanada) lehrte, stellte diese scheinbar einfache Frage vor vielen Jahrzehnten; aber sie ist bis heute unbeantwortet. Offenbar muß eine universelle Bettdecke eine Strecke der Länge 1 enthalten, denn ein langgestrecktes Wurmbaby muß ja darunterpassen. Eine Kreisscheibe vom Durchmesser 1 wäre zweifellos geeignet; denn wenn man den Kreismittelpunkt präzise auf Würmchens Körpermitte legt, kann jeder Teil seines Körpers höchstens eine halbe Einheit davon entfernt sein. Aber mit ihrer Gesamtfläche von PI/4, also ungefähr 0,785 Flächeneinheiten ist sie von verschwenderischem Luxus. Im Jahre 1973 beschrieben C. J. Gerriets und George D. Poole von der Universität des Staates Kansas in Emporia eine fünfeckige universelle Decke mit nur 0,286 Flächeneinheiten. Vor einigen Monaten schickte mir nun David Reynolds von der Firma Credence Systems in Beaverton (Oregon) eine viereckige Decke mit einer Fläche von (4+SQRT(3))/24, also ungefähr 0,239, die universell sein soll. Auf diesem mathematischen Gebiet wäre eine solche Verbesserung sensationell, und die Grenzen seiner Methode scheinen noch nicht ausgereizt. Die Idee ist am einfachsten an einem Beispiel zu erläutern. Ich werde zeigen, daß ein Halbkreis vom Durchmesser 1 eine universelle Decke ist. Seine Fläche ist nur noch PI/8, ungefähr,0,393. Würmchen liege irgendwie gekringelt auf dem Boden. Wir ziehen eine Verbindungslinie vom seinem Kopf zu seiner Schwanzspitze. (Wenn es sich zu einer geschlossenen Kurve zusammengeringelt hat, ziehen wir irgendeine Linie, die es in zwei Punkten trifft.) Nun bestimmen wir das kleinste Rechteck, welches das Wurmbaby umschließt und zwei Seiten parallel zu der bereits gezogenen Geraden hat (Bild 1 oben). Nennen wir das Rechteck einen Flicken. Die Breite b des Flickens liegt zwischen 0 und 1. Wie hoch kann ein Flicken der Breite b höchstens werden? Der ungünstigste Fall liegt vor, wenn sich das Wurmbaby in Form der beiden Schenkel eines gleichschenkligen Dreiecks zur Ruhe gebettet hat. Dessen Höhe SQRT(1-b2)/2 reicht also in jedem Fall aus (Bild 1 links unten). Damit haben wir eine Sammlung von Flicken bereitgestellt, einen für jede Breite b, die zusammengenommen universell sind: Einerlei wie sich Würmchen zusammenringelt – stets können wir es mit einem der Flicken vollständig zudecken. Aus allen Flicken läßt sich nun eine universelle Decke durch Überlagerung zusammensetzen. Reynolds spricht von Patchwork, aber eigentlich ist es eher eine Aufnähtechnik. Die Flicken müssen ja nicht Kante an Kante genäht werden – im Gegenteil: Je mehr sie sich überlappen, desto besser. Wie aber näht man die Flicken so übereinander, daß eine Decke von möglichst geringer Gesamtfläche entsteht? Wenn man alle Rechtecke auf dieselbe Grundlinie aufsetzt, und zwar symmetrisch zu einer gemeinsamen Mittelsenkrechten, dann bedecken sie gerade einen Halbkreis vom Durchmesser 1. Also ist dieser tatsächlich eine universelle Decke. Aber man muß die Flicken nicht so anordnen. Für b=SQRT(5)/5 ist das Rechteck ein Quadrat. Jeden Flicken, dessen Höhe größer ist als seine Breite, drehe man um 90 Grad. Dadurch wird seine Höhe kleiner als SQRT(5)/5, aber er paßt nach wie vor in den Halbkreis. Darum muß man Flicken, die höher als breit sind, gar nicht berücksichtigen. Also kann man dem Halbkreis oben ein Segment abschneiden, ohne seine Universalität zu beeinträchtigen. Aus einem etwas komplizierteren Argument, bei dem das Wurmbaby selbst gedreht wird, schließt Reynolds, daß wir sogar alle Flicken ignorieren können, für die b kleiner als 1/2 ist. Außerdem müssen die Flicken nicht unbedingt rechteckig sein. Nehmen wir an, Würmchen sei böswillig und möchte sich möglichst sperrig legen, aber Kopf und Schwanzspitze seien im Abstand b festgenagelt. Dann kann es die größte Höhe über der Grundlinie nur in der Mitte erreichen. Indem es den Knick an andere Stellen seines Körpers verlegt, beschreibt die Knickstelle einen Ellipsenbogen, denn die Menge aller Punkte mit konstanter Summe der Abstände von zwei gegebenen Punkten ist eine Ellipse (Bild 2 a). Man kann also die Rechtecke an den Oberkanten ein wenig rundschneiden und die universelle Decke entsprechend verkleinern (Bild 2 b). Auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei diese Methode damit ausgereizt, aber man kann die Decke ja auch noch umwenden. Wenn das Wurmbaby links von der Mitte an den Ellipsenbogen anstößt, kann es sich nicht mehr weit nach rechts oben strecken, und umgekehrt. Also dürfen wir dort jeden Flicken noch ein wenig beschneiden. Es ergibt sich eine Decke, die von einem Ellipsenbogen und drei geraden Linien begrenzt wird (Bild 2 c). Bei dieser Konstruktion haben wir angenommen, daß Wurmbabys Kopf und Schwanz fixiert seien. Der elliptische Teil der Umrandung stammt von nur einem einzigen Flicken – dem der Breite 1/2 (blau in Bild 2 c). Aber jeder Wurm, der unter diesen Flicken paßt – abgesehen von dem gleichschenklig geknickten von Bild 1 –, läßt sich ein Stückchen nach rechts verschieben, wo er reichlich Platz hat. Indem Reynolds abermals über einige besonders ungünstige Formen für das Wurmbaby nachdachte, zeigte er, daß sich die elliptische und die linke vertikale Kante durch zwei gerade Linien ersetzen lassen. Die so entstehende Form hat die eingangs genannte Fläche von nur 0,239.

Neue elterliche Sorgen

Jetzt kommt die traurige Nachricht: In der Lösung von Reynolds ist der Wurm drin, denn es gibt einen Wurm, der nicht ganz drin ist. Richard D. Kendon aus Lowdham in England fand ein Würmchen, das sich immerhin die Nasenspitze erkälten könnte (Bild 3).

Somit ist der bisherige Rekord noch nicht gebrochen: Rick Norwood, George Poole und Michael Laidacker fanden 1992 eine universelle Wurmdecke mit der Fläche 0,27523 (Bild 4). Weitere Lösungen und Ideen sind willkommen – aber schicken Sie bitte einen Beweis mit oder zumindest starke Indizien dafür, daß Ihre Form wirklich universell ist.

Wer sich mit solchen geometrischen Optimierungsproblemen beschäftigt, sollte im Auge behalten, daß es womöglich gar keine optimale Lösung gibt. Selbst wenn man eine Folge immer besserer Lösungen findet, muß diese Folge nicht gegen eine beste Lösung konvergieren.

Ein gutes Beispiel dafür haben Richard Courant und Herbert E. Robbins in ihrem klassischen Buch "Was ist Mathematik?" gegeben. Nennen wir es das Problem von Mutter Mückes Zelt: Das punktförmige Mückenbaby schwebt beim Schlafen einen Zentimeter über dem Erdboden. Mutter Mücke will es mit einer Decke schützen, die wie ein Zelt den Boden allseits berührt, aber so klein wie möglich ist.

Ein kegelförmiges Zelt mit kreisförmiger Grundfläche erfüllt seinen Zweck, und je kleiner die Grundfläche ist, desto kleiner ist auch die Oberfläche des Zeltes. Aber offenbar gibt es kein kleinstes Zelt. Ein Kegel der Grundfläche 0 ist nämlich keine Fläche, sondern eine Strecke; und die kann das Mückenbaby nicht umhüllen. Also gibt es für Mutter Mückes Zelt keine optimale Lösung – wenn sie darauf besteht, daß ein Zelt eine Fläche sein muß.

Ebenso ist nicht klar, daß es für Mutter Wurms Decke eine optimale Lösung gibt. Das hängt davon ab, was wir uns unter einem Wurm vorstellen. Zoologen mögen ohnehin einwenden, daß ein Wurm sich nicht knicken kann. Dem entspräche die Forderung, daß die Kurve glatt sein, das heißt an jedem ihrer Punkte eine eindeutige Tangente haben muß. Nur ist der Grenzwert eines scharf gekrümmten Wurms ein geknickter, und eine Decke für glatte, aber scharf gekrümmte Würmer bedeckt die geknickten gleich mit.

Das Umgekehrte trifft nicht zu: Wenn man sich auf polygonale, das heißt geknickte, stückweise geradlinige Würmer beschränkt, tut es auch eine Decke der Fläche null. Es gibt viele solcher Decken; es handelt sich um fraktale Strukturen, die hauptsächlich aus Löchern bestehen. Vielleicht sollte man dieses Problem besser Mutter Aals Netz nennen. Hingegen hat John M. Marstrand von der Universität Bristol (England) 1979 gezeigt, daß keine Decke der Fläche 0 jeden glatten Wurm bedecken kann; dies legt nahe, daß es für Mutter Wurms Decke eine definitive – und interessante – Lösung gibt.

Außerdem gibt es viele interessante Variationen des Problems, von denen fast alle bislang ungelöst sind: Wie sieht eine universelle Wurmdecke von kleinstem Umfang aus? Wie steht es mit Schlangenbabys Schlafsack, einem Volumen, das eine Schlange der Länge 1 aufnehmen muß, wie immer sie sich in drei Dimensionen zusammenrollt? Und wie deckt man Würmer zu, die auf der Oberfläche einer Kugel leben?

Literaturhinweise

- Was ist Mathematik? Von Richard Courant und Herbert E. Robbins. 4. Auflage. Springer, Berlin 1992.

– Die Decke von Mutter Wurm. Kapitel 1 in: Spiel, Satz und Sieg für die Mathematik. Von Ian Stewart. Birkhäuser, Basel 1992.

– The Worm Problem of Leo Moser. Von Rick Norwood, George Poole und Michael Laidacker in: Discrete and Computational Geometry, Band 7, Heft 2, Seiten 153 bis 162, 1992.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1997, Seite 10
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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