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Serie: Die Botschaft des Genoms (Teil XI): Myosin

Molekularer Muskelmotor


Unter einem Motor stellt man sich meist eine Maschine vor, die irgendwelche Räder zum Rotieren bringt. Doch eine Drehbewegung ist nicht unbedingt erforderlich und macht die Sache nur unnötig kompliziert. Die einfachsten Motoren setzen die zugeführte Energie direkt in eine geradlinige Bewegung um. Bestes Beispiel: das Düsentriebwerk.

Folglich gibt es in der Biologie nur recht wenige Rotationsmotoren (etwa für die Schwimmbewegung begeißelter Bakterien), aber eine Unzahl von linearen Zugmaschinen. Viele davon treiben ausschließlich Transportprozesse in der Zelle an, doch eine von ihnen erzeugt Bewegungen, die wir sehen und fühlen können: das Actin-Myosin-System.

Wie seit rund vierzig Jahren bekannt ist, kommt die Muskelbewegung bei allen Tieren dadurch zu Stande, dass zwei Gruppen von parallel angeordneten molekularen Strängen aneinander entlanggleiten. Die dünnen bestehen hauptsächlich aus dem Protein Actin, das entgegen seinem Namen nur eine passive Rolle spielt. Die dicken Stränge hingegen enthalten das Protein Myosin, das sich unter Verbrauch des Energieträgers ATP an den Actin-Filamenten entlanghangeln kann.

Myosin hat einen etwa 160 Nanometer langen Stiel, der an seinem einen Ende in dem dicken Strick verankert ist. Am anderen Ende befinden sich zwei Köpfe, die den aktiven Teil des Proteins verkörpern. Solange der Kopf kein ATP-Molekül enthält, ist er fest an eines der Actin-Moleküle des dünnen Strangs gebunden. Auch im Reagenzglas bilden die beiden Proteine zusammen einen so genannten Actomyosin-Komplex.

Sobald der Energiestoß in Gestalt von ATP eintrifft, lässt Myosin jedoch das Actin los, und spaltet das ATP-Molekül in ADP und Phosphat. Die Anwesenheit dieser beiden Moleküle in der Bindungstasche bewirkt, dass sich das Protein streckt und dadurch ein anderes Actin-Molekül in größerer Entfernung von seiner Verankerung ergreifen kann. Diese zunächst schwache Bindung veranlasst das Myosin, die Phosphatgruppe abzustoßen. Daraufhin verstärkt sich die Bindung und das Protein schrumpft wieder auf seine anfängliche Länge. Dieser Schritt erzeugt die Kraftübertragung von drei bis vier Piconewton (einige Billionstel der Schwerkraft, die auf einen mittelgroßen Apfel wirkt) und verschiebt die Stränge um etwa fünf Nanometer. In der verkürzten Form stößt das Myosin dann das ADP ab und ist nun bereit, den Zyklus von vorne zu beginnen.

Seit Mitte der neunziger Jahre kann man die Bewegung molekularer Motoren mit "optischen Pinzetten" und anderen biophysikalischen Werkzeugen direkt untersuchen. Auf diese Weise wurden etwa die genannten Werte für die Kraftübertragung und die Bewegungsstrecke gemessen. Ungefähr zur gleichen Zeit lieferten röntgenografische Untersuchungen Einblicke in den räumlichen Aufbau von Actin und Myosin und damit in die strukturellen Grundlagen ihrer Motorwirkung. Dennoch sind noch nicht alle Einzelheiten geklärt. Einige der Messungen an Einzelmolekülen scheinen anzuzeigen, dass der Verbrauch eines ATP-Moleküls genügend Energie für mehrere Bewegungsschritte liefert. Sollte sich dies bestätigen, müsste der Reaktionszyklus um eine Methode erweitert werden, mittels derer das Myosin einen Teil der Energie des ATPs speichern kann.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2001, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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