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Nachgehakt: Die unerträgliche Gleichartigkeit des Scheins



Es war ein Schmetterlingseffekt der besonderen Art, mit kleinen Papierzipfeln in unvollständig gelochten Stimmzetteln anstelle der Schmetterlingsflügel. Aber der Effekt war in der Tat erheblich, und "Chaos" ist ein angemessenes Wort für den Ausgang der letzten amerikanischen Präsidentschaftswahl (der noch unklar ist, während diese Zeilen in Druck gehen).

Eigentlich ist es nichts weiter als eine Messung, nämlich des Volkswillens. Aber auf eine Messgenauigkeit von 10–6 (wenige hundert unter mehr als 100 Millionen Wählern) war das politische System verständlicherweise nicht vorbereitet.

Ist ein derart knapper Ausgang ein historischer Zufall ohne tiefere Bedeutung, oder musste es irgendwann so kommen? Gibt es Tendenzen, die ein Kopf-an-Kopf-Rennen begünstigen?

Das amerikanische Wahlmännersystem ist nicht verantwortlich, im Gegenteil: Von seiner Idee her ist es darauf ausgelegt, kleine Un-terschiede zu vergröbern, indem die entscheidenden Stimmen nur in Blöcken einer gewissen Mindestgröße, nämlich bundesstaatenweise, vergeben werden. Die deutsche Fünfprozentklausel verfolgt mit anderen Mitteln denselben Zweck: klare Verhältnisse zu schaffen, selbst wenn der Wille des Volkes so klar nicht ist.

Begeben wir uns zur besseren Übersicht auf einen abstrakteren Standpunkt. Betrachten wir ausschließlich die Situation im Staate Florida und vernachlässigen wir die vielen chancenlosen Kandidaten. Es bleiben zwei Einzelpersonen, die jeder unter Einsatz beträchtlicher Mittel möglichst viele "Kunden" für sich zu gewinnen suchen.

Noch ein bisschen mehr – nicht unbedingt realitätsferne – Abstraktion, und man landet beim berüchtigten Problem der Eisverkäufer am Strand, das Harold Hotelling 1929 in die Wirtschaftswissenschaften eingeführt hat. Der Strand ist eine Meile lang und gleichmäßig dicht mit Sonnenhungrigen bevölkert. Irgendwo stehen zwei Eisverkäufer mit ihren Wagen. Beide haben genau dasselbe zum gleichen Preis anzubieten, also läuft jeder Kunde zu dem Verkäufer, der ihm näher steht. Welches sind die optimalen Standorte für die Eiswagen?

Der erste Gedanke ist: bei einem Viertel und drei Vierteln der Strandlänge. Dann hat nämlich jeder Kunde höchstens eine Viertelmeile und der Durchschnittskunde nur eine Achtelmeile zu laufen. Die "Wasserscheide", also der Punkt, der die Einzugsgebiete beider Verkäufer trennt, liegt genau in der Strandmitte.

Leider ist diese Lösung sozialistisch: gut für das (eisessende) Volk, aber nur durch Dekret durchsetzbar, denn sie ist nicht stabil unter dem freien Spiel der Marktkräfte. Einer der Verkäufer hat einen guten Grund, seinen Wagen ein Stück Richtung Strandmitte zu schieben, denn dadurch verrückt er die Wasserscheide ein Stück zu seinen Gunsten, ohne an seinem Ende des Strandes Kunden zu verlieren: Die müssen zwar ein wenig weiter laufen, haben aber keinen Anlass, zur Konkurrenz zu wechseln. Für den anderen Verkäufer gilt genau dasselbe, denn die Situation ist völlig symmetrisch. Also rücken sie beide unaufhaltsam aufeinander zu, bis sie sich in der Mitte treffen.

Das ist schlecht für die Eisesser, die jetzt den doppelten Weg zurückzulegen haben, sowohl im Mittel als auch im Extremfall, und nicht besonders gut für die Verkäufer, denn sie haben genau denselben Marktanteil, wie wenn sie auf ihren sozialistischen Plätzen stehen geblieben wären. Schlimmer noch: Der Umsatz sinkt, denn einigen Leuten vom äußersten Ende des Strandes ist der weite Weg zu dumm geworden. Gleichwohl rücken die Verkäufer nicht voneinander ab, denn sie stecken in einer Falle, die als Nash-Gleichgewicht in die Wirtschaftstheorie eingegangen ist: Die Lage ist nicht unbedingt optimal, aber stabil, weil jeder, der sich alleine bewegt, sich dadurch verschlechtern würde. Heraushelfen könnte allenfalls vertrauensvolle Kooperation, womit man beim nicht minder berüchtigten Gefangenendilemma wäre (Spektrum der Wissenschaft Digest 1/1998 "Kooperation und Konkurrenz").

In seinem Buch "Synergetik" vergleicht Hermann Haken den Strand mit dem Spektrum der politischen Positionen, sagen wir von links bis rechts. Demnach haben die Kandidaten, die sich zur Wahl stellen, wie die Eisverkäufer eigentlich alle dasselbe anzubieten, oder zumindest ist für den Wähler kein wesentlicher Unterschied erkennbar. Jeder "Kunde" wählt den Kandidaten, der seiner eigenen Position am nächsten steht; das wissen die Kandidaten und nehmen ungeachtet ihrer eigenen Überzeugung die Position ein, die ihnen am meisten Stimmen einbringt. Da sie dabei das Verhalten des Konkurrenten genau beobachten, landen sie irgendwann beide völlig ununterscheidbar in der Mitte. So sehen das die Wähler auch und verteilen ihre Stimmen zu gleichen Teilen auf beide Kandidaten – so präzise, dass kleine Abweichungen unmäßig große Folgen haben.

Die Situation ändert sich nicht wesentlich, wenn – wie üblich – der "Strand" nicht gleichmäßig bevölkert, sondern die Mitte des politischen Spektrums stärker besetzt ist als die Extreme; es verschärft sich nur der Drang zur Mitte. Anders wird es erst, wenn die Bevölkerung in zwei Lager mit einer kamelhöckerartigen Dichteverteilung gespalten ist.

Natürlich gibt es jede Menge Ein-wände gegen diesen Vergleich. Das politische Spektrum ist nicht so eindimensional wie der Strand, die Persönlichkeit eines Politikers spielt vielleicht doch eine Rolle, und schließlich geht nicht jede Wahl so knapp aus. Schon recht – man soll eine mathematische Abstraktion nicht über ihren Gültigkeitsbereich hinaus-treiben. Wenn dabei Unfug herauskommt, liegt das nicht unbedingt an der Abstraktion.

Immerhin hilft sie einen Aspekt der deutschen Situation in einem neuen Licht zu sehen. Nehmen wir an, ein Start-Up-Unternehmer sieht die vielen potenziellen Kunden am Rande des Strandes, die wegen des weiten Wegs auf das Eis verzichten, und schnappt mit einem neuen Eiswagen vom Rand her den Etablierten die Kunden weg. Da rückt doch lieber einer von ihnen aus seiner Mitte-Position nach außen, als den Neuen hochkommen zu lassen. Oder wie Edmund Stoiber kürzlich sagte: "Es darf keine Volkspartei rechts von der Union geben."

Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 2001, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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