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Nachgehakt: Feminismus und Wissenschaft


Der „kleine Unterschied“ in der Forschung

Mit vollem Busen und hochgestecktem langem Haar stattete der schwedische Bildhauer Erik Lindberg die Dame Scientia 1902 auf der Rückseite der Nobelpreismedaille aus. War es eine Hommage an Frauen wie Marie Curie? Oder ist die Wissenschaft selbst substantiell weiblich? Schon diese Fragestellung könne nur von einer Frau stammen, meinte Simone de Beauvoir scharfzüngig. Männer, implizierte sie, wären sich eines vermeintlich maskulinen Akzents gar nicht bewußt. Doch was bedeutet ein Attribut wie weiblich oder männlich im Zusammenhang mit dem Abstraktum „Wissenschaft“? Die Personifizierung braucht einen Genus, aber das zugrundeliegende Ideal?

Ein Paradoxon, daß Lindberg ausgerechnet dem römischen Vorbild folgend eine feminine Variante wählte, besetzen doch Frauen weltweit nur einen marginalen Anteil der naturwissenschaftlichen Führungspositionen. Nur elf Nobelpreise wurden an Naturwissenschaftlerinnen verliehen. Bedeutet jedoch ein physischer Überhang maskuliner Forscher auch unmittelbar eine männliche Tendenz in Zielen, Inhalten und Methoden? Ordnet die Wissenschaft sich ihren Dienern soweit unter, daß ihre Neutralität persönlichen Interessen weichen muß?

So mag es gelegentlich aussehen. Wichtige Medikamente wurden allein an Männern getestet. Erst als Wissenschaftlerinnen diesen Makel beklagten, wurde der Gesetzgeber aufmerksam. Oder Dian Fossey, die als erste den Beitrag der Gorillaweibchen zum Sozialleben der Primaten beobachtete, während ihre männlichen Kollegen den Focus auf die Alpha-Tiere legten. In ihrem Buch „Has feminism changed science?“ fragt Londa Schiebinger nach dem Einfluß von Feminismus auf die Wissenschaft. Damit meint sie nicht, daß Wissenschaftlerinnen Zusammenhänge entdecken, die Männern zeitlebens verborgen geblieben wären. Im Mittelpunkt ihrer Problemstellung steht die weibliche Weltanschauung, nicht die Frau als Individuum. Damit wird der Zusammenhang evident: In der Wissenschaft dominieren Männer. Ihre Modelle sind Bilder, die latent die Handschrift des Meisters tragen, sein Weltbild repräsentieren. Vielleicht zeigen gängige Modelle maskuline Züge. Zweifellos sind die Betreiber der Wissenschaft Menschen und als solche subjektiv und von persönlichen Interessen geleitet. Fraglich bleibt, ob damit auch die Objektivität ad absurdum geführt wird, die sich Wissenschaft selbst auf ihre Fahnen schreibt. Im Gegensatz zur Philosophie dient die Naturwissenschaft schließlich nicht der Wahrheitsfindung als solcher, sondern der Konstruktion eines Modells. Objektivität in diesem Kontext bedeutet Offenheit für jede Verbesserung der Theorie, innovative Experimente, unkonventionelle Fragestellungen.

Vielleicht hätten Frauen ein anderes Konstrukt favorisiert. Aber ist das entscheidend? Ein Modell muß sich in der Anwendung bewähren, keine Ethik vermitteln. Wichtig ist, daß heute niemand mehr Paul Möbius zitieren und Mathematik als Gegensatz des Weiblichen darstellen kann, ohne sich selbst der Lächerlichkeit preiszugeben. Wissenschaft selbst ist neutral – muß neutral sein, will sie nicht an ihren selbstgesetzten Ansprüchen scheitern. Ob sie deshalb auch chancengleich ist, bleibt eine andere Frage. Mitte des Monats gibt die Royal Swedish Academy die Namen der diesjährigen Laureaten bekannt – nach vier Jahren wieder mit weiblicher Präsenz?


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1999, Seite 105
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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