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Nachgehakt: Für eine Pädagogik der Wirklichkeit



Macht Fernsehen gewalttätig? Zweifellos bringt "die Glotze" binnen Stunden mehr Gräuel, Verwüstung, Krieg und Verbrechen vor unsere Augen, als der Alltag normalerweise in Jahren liefert – zumindest in unseren relativ friedlichen Breiten. Daraus folgern manche, das wirke als Ermunterung und Einübung, im Konfliktfall selbst gleichfalls Gewalt anzuwenden. Andere meinen im Gegenteil, das Miterleben – oder im Fall von kriegerischen Computerspielen: Ausagieren – von nicht wirklichen, nur elektronisch vorgespielten Gewalttaten mindere sogar die Bereitschaft, selbst wirklich brutal zu handeln.

Was von beidem stimmt nun? Eine typische Frage an die empirische Forschung, aber trotz ihrer trügerischen Einfachheit schwer zu beantworten. Immerhin liegt seit kurzem das Ergebnis einer umfangreichen, methodisch sauberen Langzeitstudie vor: Über viele Jahre hinweg hat sie den Zusammenhang zwischen jugendlichem Fernsehkonsum und späterer Gewaltbereitschaft untersucht (Science, Bd. 295, S. 2468).

Über 17 Jahre hinweg beobachteten der Psychologe Jeffrey G. Johnson und sein Team von der New Yorker Columbia University nicht weniger als 707 Familien. Dabei diagnostizierten sie eine signifikante Korrelation zwischen exzessivem Fernsehen im Jugendalter (drei Stunden täglich oder mehr) und späteren Gewalttaten. Zugleich konnten sie statistisch den nahe liegenden Einwand ausschließen, ihre jugendlichen Vielseher seien gar nicht durch zu viel Fernsehen verroht, sondern durch Vernachlässigung, Armut der Eltern, gewalttätiges Umfeld ("bad neighbourhood") oder psychische Störungen.

Allerdings registrierte Johnsons nur pauschal die vor dem Fernsehgerät verbrachte Zeit und nicht speziell die Stunden mit gewalttätigen Programminhalten. Andere Untersuchungen in den USA fanden für Fernseh-gewalt einen Anteil von sechzig Prozent am Gesamtangebot. Das könnte bedeuten, dass die neue Studie die aggressionsfördernde Langzeitwirkung spezifisch gewalttätiger Sendungen eher noch unterschätzt – denn die gezeigten Gewalttaten wurden ja quasi verdünnt durch die übrigen vierzig Prozent mit Kinder-, Tier-, Koch- und Ratesendungen.

Doch es könnte auch bedeuten, dass gar nicht die Gewalt im Fernsehen mit der Zeit gewalttätig macht, sondern vielmehr die Gewalt des Mediums Fernsehen selbst: Vielleicht kommt es beim Fernsehen auf den Inhalt gar nicht so sehr an.

Wie der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi und der Medienpädagoge Robert Kubey herausfanden (Spektrum der Wissenschaft 5/2002, S. 70), fesselt stundenlanges Fernsehen vor allem durch formale Tricks: rasante Bildwechsel, schnelle Schnitte, akustische Schocks. Diese pausenlose Überreizung hinterlässt den Vielseher, wenn er endlich doch abschaltet, besonders missmutig, frustriert – und somit tendenziell aggressiv. So gesehen ist vielleicht in der Tat bereits das Medium die Botschaft: Nicht der Programminhalt macht gewaltbereit, sondern das Fernsehen als solches.

Das dürfte erst recht für interaktive Spiele am Computer gelten. Dabei ist es letztlich wohl ziemlich egal, ob Jugendliche am Bildschirm Moorhühner oder maskierte Terroristen abschießen. Entscheidend ist die Derealisierung des Handelns. Zunächst wird ja nur das Aus-der-Welt-Schaffen virtueller Objekte geübt. Die Übertragung auf reale Menschen erscheint umso näher liegend, je echter einerseits die realistische Computergrafik wirkt und je virtueller andererseits das reale Leben anmutet, das ohnedies – auch bei den Erwachsenen – zu einem immer größeren Teil vor Bildschirmen stattfindet.

Jedenfalls belegen die neuen Studien, dass allein die bloße Dauer jugendlichen Fernsehkonsums die Gefahr erhöht, später sozial auffällig zu werden. Nach der erschreckenden Tat des Erfurter Schülers, der – maskiert wie die Figur eines Computerkampfspiels – im April 17 Menschen erschoss, wurde einige Wochen lang erregt über den Anteil gewalttätiger Fernseh- und Spielprogramme an der Verrohung Jugendlicher spekuliert. Es reicht aber im Licht der empirischen Beweislage gewiss nicht, nur beim Bildschirminhalt anzusetzen. Entscheidend ist, was sich im Empfänger abspielt. Er braucht längst nicht mehr nur medienpädagogische Unterstützung, sondern das Angebot eines ganz neuen Fachs namens Wirklichkeitspädagogik. Dort müsste er lernen, dass manche Bewegungen eben nicht nur ein Verrücken der Maus bedeuten, dass manches Drücken eines Auslösers mehr ist als das von "Space" oder "Enter".

Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2002, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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