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Nachgehakt: Wie nützlich ist die Teilchenphysik?



Die deutsche Teilchenphysik gerät derzeit wieder in die Debatte. Ende Oktober schüttete der Teilchenphysiker Hans Graßmann im Spiegel Unrat über eine Zierde der nationalen Teilchenphysik, das Deutsche Elektronensynchrotron Desy in Hamburg. Es betreibe "sinnlose Masssenproduktion von Zahlenkolonnen" und halte das auch noch "für Physik". Es beschäftige sich damit, "jährlich Rekorde der Meßgenauigkeit" aufzustellen, wobei die Frage nach "der Relevanz" explizit ausgeklammert würde. Forschungsgelder verschwänden bei Desy "auf Nimmerwiedersehen". Ein geplantes Experiment dümpele derweilen "halt so vor sich hin, alle Zeitpläne grotesk überschritten, sämtliche Finanzrahmen gesprengt". Desy treibe den "Rückzug" der Physik aus unserer Gesellschaft voran, "unter Dampf gehalten von einer Unmenge verbrannter Steuergelder". Da helfe nur eines: "Sperrt das Desy zu!"

Da wirft einer mit Schlamm – und das gefällt manchen Medien, weil es aus dem grauen Einerlei der Standortfragen, dem Gejammer über Geld-mangel oder undurchsichtige Betrugsaffären hervorsticht. Der selbster-nannte Forschungskritiker Graßmann gefällt sich neben seinem eigentlichen Thema allerdings auch in Rundumschlägen, etwa gegen Fraktalgeometrie oder Chaosforschung – "Ich glaube, es gibt sie gar nicht" – oder die Theorie der Planetenbahnen – deren mathematische Gleichungen hält er für "prinzipiell unlösbar". Daß Chaosforschung zeitweise zur Mode geriet, sagt nicht, daß die Theorie falsch ist. Und so unbedarft, wie Graßmann sich zu Differentialgleichungen, Fraktalen oder Planetenbewegung ausläßt, dürfte sich kein Erstsemester äußern. Auch daß Zahlenkolonnen in der Forschung zwar öde, aber zuweilen unerläßlich sind, steht seit Kepler und Galilei außer Frage.

Treffliche Argumente gegen die Physik oder eben die Teilchenphysik findet man in der "Debatte" (so der Spiegel) kaum. Niemand könne "aus der Mathematik die Existenz von Atomen ableiten oder die Thermodynamik" – hat das jemand behauptet? Jeder hat das Recht, kritische Fragen zu stellen oder auf Mißstände hinzuweisen. Auch die Ära der Teilchenbeschleuniger wird zu Ende gehen, wenn ihre Produktivität abnimmt und Nachfolgegeräte zu teuer werden.

Aber Graßmann hält nicht viel vom derzeitigen wissenschaftlichen Ertrag von Desy. Das Großforschungsinstitut will mit dem – aus technischen Gründen um ein Jahr verzögerten – Hera-B-Experiment anhand von sogenannten B-Mesonen die Physik der Zeitasymmetrie untersuchen. Dazu läßt Graßmann die Spiegel-Öffentlichkeit wissen, dies habe das Chicagoer Fermilab mit einem Versuch – an dem Graßman übrigens beteiligt war – bereits "im Vorbeigehen erledigt". Doch mitnichten. Der leitende Desy-Theoretiker Wilfried Buchmüller winkt da nur ab: "In dem Experiment gab es einen sogenannten 2-Sigma-Effekt, also gerade mal einen Hinweis auf dieses Phänomen mit statistisch niedriger Aussagekraft."

Gleichfalls moniert Graßmann die Suche nach hypothetischen Teilchen, etwa den "Pomeronen". Diese wurden vor Jahrzehnten als mögliche Partikel vorgeschlagen, um gewisse Anomalien in Streuprozessen an Protonen zu erklären. Erst jetzt können diese Prozesse mit dem Hera-Experiment genauer analysiert werden – wobei sich inzwischen abzeichnet, daß sich die scheinbar irregulären Effekte durch das normale Innenleben des Protons erklären lassen. Die Widerlegung von Hypothesen durch das Experiment: Ist das nicht das Wesen von Wissenschaft?

Wir dürfen uns also wundern, warum dieses wirre Dokument im Spiegel erschien. Bei Desy bewarb sich Graßmann vor einigen Jahren um eine Stelle – und wurde abgelehnt. Freilich, der Spiegel würdigt den Emigranten als Wissenschaftler, der "an der Entdeckung des Top-Quarks beteiligt" war. Das ist korrekt. Aber als Fußnote sei angemerkt, daß die beiden Artikel, in denen die Entdeckung publiziert wurde, von knapp eintausend Physikern von 35 Instituten unterschrieben wurde (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1997, S. 82). Die Autorenlisten füllten jeweils mehrere Seiten.

Doch etwas Gutes hat diese journalistische Aufblähung vielleicht dennoch. Hans Graßmann moniert unter anderem, daß das Desy sich "von der Allgemeinheit" abschotte, darauf verzichte "zu erklären, was man eigentlich tut" und Laien gar "für dumm" verkaufe. Desy, das am Budget der deutschen Grundlagenforschung mit neun Prozent partizipiert, könnte in der Tat der Öffentlichkeit ein deutlicheres Profil präsentieren. Wird in Deutschland in den Medien über Teilchenphysik berichtet, handelt es sich meist um Resultate aus den USA.

Solch ein Image-Defizit kann nicht allein Desys Presseabteilung angelastet werden. Die Forscher selber sind gefragt. Unser Magazin wartet zum Beispiel schon seit Jahren [!] auf einen immer wieder versprochenen Beitrag eines führenden Desy-Wissenschaftlers. Vielleicht steigt jetzt die Bereitschaft, sich verstärkt um die Bringschuld der Wissenschaft zu kümmern.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 2000, Seite 23
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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