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Nachgehakt: Willkommen im Schlaraffenland


Willkommen im Schlaraffenland? Der Markt gesundheitsfördernder Lebensmittel expandiert
Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen, so weiß der Volksmund. Das Spieglein an der Wand straft ihn Lügen: Hüftring, Wampe und Doppelkinn zeugen bei vielen eher von Expansion, zumindest im Körperlichen. Und warum? Weil die Evolution uns gelehrt hat, daß besonders gut schmeckt, was auch Polster bildet. Vorratshaltung nennt man diese Orientierung auf alles Süße und Fetthaltige, doch leider – dem Schönheits- und Gesundheitsideal entspricht es nicht. Wie schön wäre es doch, so recht von Herzen schlemmen zu können und dabei an Schönheit und Vitalität zu gewinnen. Nur Mut, dieses Lifestyle-Schlaraffenland ist nah! Energy Drinks, Vit-aminpräparate und Joghurts mit quicklebendigen Milchsäurebakterien stehen bereits in den Regalen, die letzteren sollen Darm und Immunsystem, die ersten den ganzen Kerl auf Trab bringen. Doch das ist erst der Anfang, denn die Großen der Chemie- und der Lebensmittelindustrie stehen parat, was wir essen und trinken mit allerlei „Nutraceuticals“ aufzuwerten: zahlreichen Inhaltsstoffen natürlicher Nahrung mit nachweislich gesundheitsfördernder Wirkung (das Kunstwort setzt sich aus den englischen Begriffen nutrition für „Nahrung“ und pharmaceutical für „pharmazeutisch“ zusammen). Nutraceuticals werden synthetisiert und mit ausgefuchsten Verfahren beispielsweise in Schokoriegel und Milchprodukte eingebaut. Ein bunter, kalorienreduzierter Cocktail von Calcium, Oligofructose, Ballaststoffen, Vitamin E und Omega-3-Fettsäuren schickt sich an, den Markt zu erobern. Natürlich, das räumen die Hersteller gern ein, wäre es weitaus gesünder, fünfmal am Tag frisches Obst und Gemüse zu essen, dazu vielleicht ein wenig Knoblauch, Kefir, Haferkleie und Trockenpflaumen. Doch wer hat schon Zeit für diesen Luxus? Außerdem: Zum modernen Menschen gehören nun mal Hamburger, Döner und Pausensnack. Die Wortschöpfung Nutraceutical eignet sich deshalb garantiert als Trend- begriff. Der Hintergrund des kreativen Aktes der Marketingabteilungen ist freilich ein ernsterer: Hätten die Zusatzstoffe eine heilsame Wirkung im Sinne eines Medikaments, könnten sie auch Nebenwirkungen zeigen und müßten zugelassen werden. Doch was wären die leckeren und mit Polyphenolen gegen Herzinfarkt aufgepeppten „Frühstückscerealien“ oder der Joghurtdrink mit Probiotica nach Jahren der Experimente und klinischen Tests noch wert? Verschimmelt, vergammelt, geschmacklich aus der Mode. Wer Junk Food liebt, der will nicht lange darauf warten. Im übrigen ist das nicht die einzige gesetzliche Hürde auf dem Parcour des Consumermarktes. Der Novel-Food-Verordnung gemäß wären nämlich neuartige Lebensmittel oder Zutaten zu kennzeichnen, wenn sie konventionellen infol-ge von Modifikationen nicht mehr gleichwertig sind. Die Kennzeichnung aber könnte den Verbraucher abschrecken. Also lautet das Argument: Dieser zugesetzte Stoff ist nichts Neues, ist schon im Salat, im Obst, nur eben noch nicht im Pizzateig. Und um der ganzen Gen-Food-Debatte auszuweichen, reizen die Unternehmen konventionelle Produktionsverfahren so weit wie möglich aus, statt genetisch veränderte und damit oft verfemte Organismen in ihren Dienst zu stellen. Doch halt, fehlt da nicht eine Variable in der Rechnung? Was ist denn mit Speckröllchen und Body-Mass-Index? Wohin mit den Kalorien im Superriegel? Keine Panik, Genuß ohne Reue wird das Schlagwort des kommenden Jahrzehnts. Was Lifestyle-Pharmazeutika wie die neuen Abspeckpillen leisten (sollen), können Nutraceuticals doch vielleicht auch. Und dann hätten wir endlich die Lebensmittel, die uns schlank machen! Die Pizza, die den Stoffwechsel anregt, dank Ginseng-Chemie, der Hamburger, der ein Gefühl unsagbar lustvoller Sättigung vermittelt, dank Teebaumextrakt im Rinderhack. Für entsprechende Werbeplakate wüßte ich schon die passende Botschaft: Ich esse gerne.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1999, Seite 138
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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