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Nachhaltiges Wirtschaften im Alpenraum

Der häufig gebrauchte, aber verschwommene Begriff "Nachhaltigkeit" läßt sich am Beispiel der Alpen konkreter fassen: die Labilität der alpinen Ökosysteme macht menschliche Fehler im Umgang mit der Umwelt hier viel frührer als im Flachland erkennbar.


Die Alpen boten im Naturzustand nur Jägern und Sammlern eine bescheidene ökologische Nische und waren für Bauerngesellschaften sogar feindlich. Der ursprünglich meist dichte Wald und die ehemals kleinen Almflächen der Matten unterhalb der Fels- und Schuttzone waren für Viehwirtschaft nur randlich, für Ackerbau gar nicht zu nutzen; zudem bedrohte die sprunghafte Dynamik von Naturprozessen wie insbesondere Hochwasser, Lawinen, Steinschlag und Muren jede menschliche Existenz.

Altsteinzeitliche Funde künden zwar von frühen Vorstößen. Aber erst in der Jungsteinzeit erfaßte die Besiedlung fast sämtliche günstigeren Standorte und – angereizt durch Salz- und Erzfunde – um 1800 vor Christus auch zahlreiche Regionen tiefer im Gebirge. Um sich die Alpen als Lebens- und Wirtschaftsraum zu erschließen, mußten die ersten Ansiedler zweierlei tun: die vorgefundenen Ökosysteme für ihre Zwecke tiefgreifend verändern und die sprunghafte Naturdynamik verstetigen oder wenigstens dämpfen.

Vier Grundprinzipien des Umgangs mit der Natur


Das zentrale Problem war, daß die menschlich veränderte Natur aus sich heraus ökologisch nicht stabil ist. Die Rodung eines mit Wald bestandenen Hanges und seine Umwandlung in Acker, Wiese oder Weide erhöhte die Gefährdung durch Lawinen und Erosion. Um dies zu vermeiden, entwickelten die bäuerlichen Gesellschaften im Laufe der Zeit vier Prinzipien im Umgang mit der alpinen Natur:

– Der Mensch muß Nutzungsgrenzen akzeptieren (er darf etwa einen Bannwald nicht roden).

– Entsprechend der kleinräumigen Struktur der Naturlandschaft müssen auch die menschlichen Nutzungen kleinräumig gestaltet werden.

– Es muß das richtige Maß zwischen Über- und Unternutzung gefunden werden sowie die richtige Nutzungsdauer, damit die Vegetation sich gut zu regenerieren vermag.

– Zusätzlich ist viel Pflege- und Reparaturarbeit nötig, um die Kulturflächen zu stabilisieren.

So entstanden bäuerliche Kulturlandschaften, die den gesamten Alpenraum außer der vegetationsfeindlichen Fels und Eisregion tiefgreifend veränderten. Diese Landschaften sind dank angepaßter Nutzung und Pflege oft ökologisch stabiler als die früheren Naturlandschaften; ihr Artenreichtum ist infolge Auflichtung und mosaikhafter Waldrodung sowie Einführung der Acker- und Ackerbegleitflora in der Regel größer, ihr Landschaftsbild vielfältiger als im Naturzustand, weil die naturräumlichen Unterschiede durch differenzierte Nutzungsformen herausmodelliert worden sind. In der Synthese von Natur und Kultur weisen sie einen besonderen Charakter von Heimat auf, der Europas höchstes Gebirge schon früh auch für den Tourismus attraktiv machte.

Die vier Grundprinzipien nachhaltigen bäuerlichen Wirtschaftens galten im gesamten Alpenraum, doch bei ihrer gesellschaftlichen Umsetzung gab es große Unterschiede. Idealtypisch lassen sich zwei Muster unterscheiden: Das Kommune-Modell ist in den dicht besiedelten trockeneren Alpentälern entstanden, die schon seit der Römerzeit intensiv genutzt werden und in denen der Ackerbau wichtiger ist als die Viehwirtschaft. Das Hof-Modell entwickelte sich in den extensiver genutzten feuchteren Alpentälern, die erst seit dem Mittelalter besiedelt worden sind und in denen die Viehwirtschaft über den Ackerbau dominiert. Für das Kommune-Modell ist das Stura-Tal in den Cottischen Alpen (Piemont/Italien) ein gutes Beispiel, für das Hof-Modell das Gasteiner Tal in den Hohen Tauern (Salzburg/Österreich).

Zwei Formen gesellschaftlicher Umweltkontrolle


In der Valle Stura wurde die ökologische Verantwortung und Kontrolle der nachhaltigen Naturnutzung vor allem durch die Kommune der Ansässigen organisiert, die in ihren Gemeindestatuten bestimmte Nutzungszeiten und -richtlinien sowie deren Überwachung genauestens festgelegt hatte. Dieses System gründet auf einer egalitären Besitzstruktur: Die einzelnen Bauernfamilien hatten alle etwa gleich viel Grund und Boden und darum auch gleiche Interessen. Deshalb verteilten sich die mit der nachhaltigen Nutzung verbundenen Einschränkungen und Aufwendungen (vor allem die Pflegearbeit im "Gemeinwerk") auf alle Familien gleichermaßen und wurden als gerecht erlebt.

Im Gasteiner Tal lag die ökologische Verantwortung hingegen beim einzelnen Bauernhof als selbständiger Lebens- und Wirtschaftseinheit. Alle Entscheidungen traf das Bauernehepaar; ledige Geschwister und Dienstkräfte hatten keine Mitsprache. Für nachhaltiges Wirtschaften war allein der Bauer verantwortlich, der nach der Maxime "Gib den Hof so an deinen Sohn weiter, wie du ihn vom Vater erhalten hast!" von Kind an sorgfältig für diese Aufgabe erzogen worden war. Dies bedeutete, nicht von der Substanz des Hofes zu leben und keine kurzfristigen Vorteile durch Vernachlässigung der ökologischen Pflege zu erzielen, sondern die persönlichen Interessen denen des Hofes und seiner künftigen Generationen unterzuordnen.

Heute meint man vielfach, nachhaltig sei ein Wirtschaften, das so wenig wie möglich in die Natur eingreife und sich den Naturprozessen einordne. Dieses Verständnis trifft jedoch nur für Jäger- und Sammlergesellschaften zu; schon für die Bauerngesellschaften und erst recht für die Industriegesellschaft greift ein solcher Ansatz viel zu kurz. Statt dessen ist Nachhaltigkeit so zu definieren: Weil der Mensch seit der Erfindung von Ackerbau und Viehwirtschaft zum Zwecke seiner Lebenssicherung die vorgefundene Natur tiefgreifend ökologisch verändern muß, ist nachhaltiges Wirtschaften ein Handeln, das die ökologischen Konsequenzen seiner Naturveränderungen kennt, sie – gemäß den vier Prinzipien – berücksichtigt und gleichzeitig eine entsprechende Umweltverantwortung und -kontrolle entwickelt.

Moderne Entwicklung von Stura- und Gasteiner-Tal


Valle Stura und Gasteiner Tal haben gute Voraussetzungen für Land- und Forstwirtschaft sowie für Tourismus (beide besitzen Thermalquellen), und beide liegen verkehrsgünstig. Trotzdem entwickeln sie sich seit 1870 völlig gegensätzlich: Im Stura-Tal bricht allmählich die gesamte Landwirtschaft zusammen, da in Handwerk, Industrie und Tourismus keine neuen Arbeitsplätze entstanden, ging die Bevölkerung von 22|||000 auf knapp 5000 zurück. Die gesamte Situation ist mittlerweile durch Lethargie und Passivität geprägt. Im Gasteiner Tal dagegen wird der Tourismus seit 1870 systematisch ausgebaut; die Bevölkerung nahm von knapp 4000 auf gut 13|||000 zu (bei nunmehr 17|||000 Gästebetten), und es herrscht hektische Aktivität.

Diese gegensätzliche Entwicklung hat vor allem kulturelle Gründe. Gegenüber den europaweiten Veränderungen (Industrialisierung, Erstarken des Dienstleistungssektors) suchen sich die Einheimischen im Stura-Tal bewußt abzuschotten und bleiben starrköpfig bei ihrer traditionellen (nachhaltigen) Wirtschaftsform; doch weil die Konkurrenzbedingungen sich fortwährend verschlechtern, kommt es mit der Zeit zum Totalzusammenbruch.

Im Gasteiner Tal öffnete man sich hingegen schon früh den neuen Möglichkeiten im europäischen Umfeld, gestaltete den Tourismus aber lange Zeit noch auf nachhaltige Weise – mit engem Bezug zur lokalen Landwirtschaft und vorsichtigem Ausbau der touristischen Infrastruktur. Erst seit den sechziger Jahren zerstört der Massen-Wintertourismus das eingespielte Gleichgewicht (Bild 2).

In beiden Tälern ist Nachhaltigkeit heute nur noch in Reliktformen vorhanden: Im Stura-Tal brechen mit der Landwirtschaft auch die ökologisch vielfältigen Kulturlandschaften zusammen; die Folge sind Artenrückgang und Gefährdungsanstieg (Bild 1). Im Gasteiner Tal ist die intensive touristische Nutzung mit vielen ökologischen Problemen (Luftverschmutzung, Lärm und Zersiedelung) verbunden. Der Zusammenbruch der traditionell-nachhaltigen Wirtschaftsformen erzeugt also Unter- (Stura) oder Übernutzung (Gastein), in keinem Fall aber neue Formen nachhaltigen Wirtschaftens.

Zukunftsperspektiven


Die vier Grundprinzipien sind, wie das Beispiel Skipisten zeigt, auch heute entscheidend für die nachhaltige Gestaltung moderner Nutzungsformen: Weder zerstören solche touristischen Attraktionen immer und überall die Umwelt (wie manche Umweltschützer meinen), noch lassen sie sich immer und überall umweltverträglich anlegen ( wie manche Seilbahnvertreter glauben); ihre nachhaltige Anlage und Nutzung ist vielmehr nur möglich, wenn dabei bestimmte Nutzungsgrenzen akzeptiert werden, die Pisten kleinräumig in die Landschaft eingepaßt sind, erst ab einer gewissen Mindestschneehöhe befahren werden dürfen und man ein erhebliches Maß an Pistenpflege aufwendet.

Auch alle anderen modernen Nutzungen in den Alpen lassen sich auf analoge Weise nachhaltig gestalten. Allerdings sind dazu heute zwei neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu beachten:

– Aufbau einer gemeinsamen Umweltverantwortung aller Nutzer im Alpenraum anstelle der Vielzahl heutiger Interessenvertretungen;

– ausgewogene Balance zwischen gesamteuropäischen und einheimischen Interessen an den Alpen.

Daß beides nur schwer zu erzielen ist, bildet heute das größte Hindernis für nachhaltiges Wirtschaften. Zwar wäre der Alpenraum ohne Tourismus, Wasserkraftnutzung und Transitverkehr inzwischen wirtschaftlich gar nicht mehr lebensfähig, aber diese Nutzungsformen dürfen ihn als Lebensraum der Einheimischen nicht zerstören; ohnehin würden sie sich sonst selbst ihre Grundlage entziehen. Das große Projekt einer internationalen Alpenkonvention, das derzeit allmählich konkretere Formen annimmt, sucht diese anspruchsvolle Aufgabe zu bewältigen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1994, Seite 20
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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