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Nervenkitzel. Den grauen Zellen auf der Spur.

Aus dem Französischen
von Bettina Gleißenberger
und Isabelle Jahraus.
Spektrum Akademischer Verlag,
Heidelberg 1995.
332 Seiten, DM 49,80.

Das Thema Gehirn findet großen Anklang auf dem Sachbuchmarkt: In deutscher Sprache sind allein in den letzten zehn Jahren etwa 200 allgemeinverständliche Bücher darüber erschienen.

Tatsächlich ist das Sujet verlockend – es reicht von Molekülen bis hin zu unserem geistigen Sein. Zudem fordert der unvergleichlich rasche Erkenntnisfortschritt in den Neurowissenschaften immer wieder zu neuen Betrachtungen heraus. Jeder, der sich auf Hirnforschung eingelassen hat, kennt den Drang, die Fäden, die er in der Hand hält, fortzuspinnen, bis schließlich ein lockeres Gewebe aus Kenntnissen, Hypothesen und Spekulationen über das Wo und Wie der großen integrativen Hirnfunktionen herauskommt, über Gedächtnis, Erkennen und Fühlen, über Denken, Geist und Seele. "Nervenkitzel" nennt das der Autor und legt sein Buch so an, daß auch der Leser etwas davon zu spüren bekommt.

Jacques-Michel Robert, Professor für Medizinische Genetik an der Universität Lyon, hat es in drei "Abenteuer" gegliedert, die Hauptkapitel "Eine Geschichte der Zellen", "Eine Geschichte der Moleküle" sowie "Das Neuron und die Außenwelt". Den Leser erwartet eine Menge an Einsichten in das evolutive Werden nervaler Systeme und in die Eigenheiten der höchsten menschlichen Hirnleistungen. Alles ist intelligent und mit didaktischem Geschick dargeboten.

Im ersten Abschnitt geht es um die Evolution der Nervensysteme und ihrer Äquivalente, bei den Protozoen angefangen bis hin zu den Primaten. Schon die Überschriften lassen erkennen, wie sehr Robert bemüht ist, Trockenheit zu vermeiden: "Eine Welt ohne Wirbel" (Wirbellose sind gemeint), "Ein Fuß ohne Kopf", "Ein Fuß und ein Kopf" (Schnecken also und Kopffüßer), "Der Fünfkampf der Sinne", "Träumen Kaimane?"

Auch im zweiten Teil, in dem von der Architektur des Gehirns, von Zellen, Synapsen und Signalmolekülen die Rede ist, gelingt es Robert, unterhaltend zu bleiben. Fast spannend zu lesen sind die Abschnitte über krankhafte Störungen, darunter Autismus, Schmerz, Epilepsie, Psychosen und primär degenerative Hirnerkrankungen (Alzheimer- und Parkinson-Krankheit).

"Vor 50 Jahren begleitete ich meinen Vater zu Pferde auf einer seiner Runden und sah die ersten Fälle dieser Störung... Nachdem ich mit meinem Vater eine Allee überquert hatte, standen wir plötzlich vor zwei Frauen, Mutter und Tochter. Sie waren beide groß, sahen aus wie Leichen, krümmten und wanden sich und schnitten Grimassen. Ich war völlig starr vor Staunen, fast verschreckt. Was war das? Mein Vater hielt an, um mit ihnen zu reden, und setzte danach seinen Weg fort. Seitdem ist das Interesse, das ich dieser Krankheit entgegenbringe, nicht mehr erloschen." Robert zitiert hier den amerikanischen Nervenarzt George Huntington (1851 bis 1916), der sich um die Systematisierung dieser Erbkrankheit verdient gemacht hat und dem zu Ehren sie als "Chorea Huntington" bezeichnet wird. Die Struktur des betreffenden Gens wurde kürzlich aufgeklärt. Bis heute ist unbekannt, wie es seine schrecklichen Wirkungen entfaltet.

Der letzte, recht kurze Teil handelt von der Beziehung zwischen Hirn und Umwelt. Hier finden sich etwa Hinweise auf den "neuronalen Darwinismus" des amerikanischen Hirnforschers Gerald Edelman (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1996, Seite 120), weit mehr allerdings über Rauschgifte, deren Wirkungsweisen und Gefahren.

Beim Blättern fallen Schwarzweiß-Graphiken ins Auge, die Cartoons ähneln. Manche sind so flüchtig gezeichnet, daß sie kaum zu deuten sind; man hätte sie besser weggelassen. Auch Fehler haben sich eingeschlichen. So soll Bild 15 den Kopf eines Lanzettfischchens darstellen, zu sehen aber ist nur eine Skizze vom Aufbau des Hirnbläschens dieses primitiven Chordatieres.

Mitunter geht der Autor bei seinen Exkursen mit dem heutigen Kenntnisstand nach meiner Ansicht zu großzügig um. Er suggeriert oft auch dann sicheres Wissen, wenn es sich nur um Plausibilitätsüberlegungen oder Vermutungen handeln kann. Sicherlich ist der Hippocampus eine wichtige Schalt- und Prüfstelle für das Gedächtnis, ebenso sicher aber nicht der eigentliche Informationsspeicher, wie der Autor schlicht behauptet. Auch sind die Wirkungsmechanismen von Alkohol, Nikotin und Cocain bei weitem nicht so gut bekannt, wie das Buch glauben macht.

Neuropeptide sind nicht einfach "Ketten aus ein bis etwa zwei Dutzend Aminosäuren"; oft enthalten sie nur zwei bis fünf der elementaren Proteinbausteine. In einer Abbildungslegende wird von einem regulierenden Gleichgewicht zwischen den Transmittern NMDA und Glutamat gesprochen. NMDA ist aber kein Transmitter, sondern ein synthetisches Pharmakon; also gibt es auch kein natürliches Gleichgewicht. Offenbar liegt eine Verwechslung mit dem pharmakologisch durch NMDA aktivierbaren Glutamat-Rezeptorsubtyp vor.

Es war auch nicht der deutschte Biologe Ernst Haeckel (1834 bis 1919), der als erster die Idee hatte, daß die Ontogenese einer verkürzten Wiederholung der Phylogenese entspreche. Jahrzehnte vor Haeckel hatten sich ähnlich bereits der Naturforscher und Philosoph Lorenz Oken (1779 bis 1851) und der Arzt Dietrich Georg Kieser (1779 bis 1862) geäußert – obschon mit weit weniger Öffentlichkeitserfolg.

Das Buch ist trotzdem gut, viel besser jedenfalls, als die kritischen Äußerungen vermuten lassen. Es bietet eine Menge Wissenswertes; fast mühelos gelangt der Leser zu den tiefen Winkeln unseres Seins und wird zugleich gut unterhalten. Die Übersetzung ist bestens gelungen. (Im Falle von Melospiza melodia allerdings wurde nicht ordentlich recherchiert: Nicht der Buchfink ist es, sondern die Amerikanische Singammer.)

Jacques-Michel Robert ist von Hause aus Genetiker. Sollte ihm nicht auch auf seinem eigentlichen Arbeitsgebiet eine ähnlich lehrreiche Plauderei gelingen?



Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1996, Seite 132
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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