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Neue Abteilung des Pflanzenreichs entdeckt

Jüngste molekulargenetische, biochemische und elektronenmikroskopische Untersuchungen ergaben einen weiteren Ast am Stammbaum de Pflanzen und dokumentieren bisher nicht bekannte Ansätze des Leben, besser ausgestattete Zelltypen auszuprobieren.


Die Beschreibung neuer Arten ist in der biologischen Systematik etwas durchaus Alltägliches. Ein Ereignis besonderer Art dagegen ist es, wenn auf der Grundlage erweiterter Kenntnisse systematisch relevanter Merkmale eine neue, übergeordnete Verwandtschaftsgruppe abgegrenzt wird: Dies verlängert nicht nur den Katalog der bekannten Spezies, sondern erweitert auch die theoretischen Grundlagen biologischer Klassifikationen. Mitunter ergibt sich dabei am Stammbaum der Organismen unerwartet auch ziemlich weit unten ein neuer Ast, der sogar längst bekannten hochrangigen Taxa wie den Wirbeltieren oder Samenpflanzen gleichwertig ist. Bei den Typen- und variantenreichen Algen ist kürzlich eine derartige Abzweigung entdeckt worden.

Das Rätsel der Cyanellen

Im Jahre 1868 hatte der Arzt Hermann Itzigsohn unter dem wissenschaftlichen Namen Glaucocystis nostochinearum eine recht seltsame Alge beschrieben – einen starren, zellwandumschlossenen Einzeller mit blaugrünen Einschlüssen. Daß diese sonst von keiner anderen Alge bekannt waren, machte die Zuordnung zu einer Verwandtschaftsgruppe ausgesprochen schwierig.

Knapp 20 Jahre später fügte der schwedische Botaniker Gustav Lagerheim die ähnliche Gloeochaete wittrockiana hinzu, die sich ebenso schlecht in bekannte systematische Schubladen einordnen ließ. Eine gewisse begriffliche Flurbereinigung leisteten zwischen 1920 und 1930 Lothar Geitler in Wien sowie Adolf Pascher in Prag; sie zeigten, daß die blaugrünen. Zellbestandteile in Glaucocystis und Gloeochaete offensichtlich von Blaualgen (heute Cyanobakterien genannt) abzuleiten und demnach wohl als zellbewohnende Symbionten (Endocytobionten ) aufzufassen sind. Geitler bereicherte auch die Fachterminologie um den Begriff Cyanellen für blaugrüne Symbionten in artfremden Zellen.

Während man allerdings endosymbiontische Grünalgen oder Cytosymbionten aus anderen Algenklassen ohne weiteres aus ihren Wirten isolieren und getrennt weiterkultivieren kann, versagten beim Versuch der Cyanellen-Kultur alle bewährten Routineverfahren. Seit den Untersuchungen der Arbeitsgruppe von Wolfgang Löffelhardt von der Universität Wien im Jahre 1980 kennen wir den Grund: Cyanellen haben einen großen Teil ihres eigenen Erbmaterials an den Zellkern ihrer jeweiligen Wirtszelle abgegeben; sie besitzen nur noch etwa 5 bis 10 Prozent des Genoms freilebender Cyanobakterien und damit ungefähr den Grad genetischer Autonomie wie typische Chloroplasten ( Photosynthese-Organellen) höherer Pflanzen.

Angesichts dieser molekulargenetischen Befunde könnte man sie durchaus als Chloroplasten auffassen, die eben nur in ihrem Pigmentbestand etwas aus dem üblichen Rahmen fallen, gäbe es da nicht noch einige Seltsamkeiten. Cyanellen haben nämlich – ebenso wie freilebende Cyanobakterien und alle übrigen Eubakterien (echten Bakterien) – eine Zellwand aus Peptidoglucanen, und sie liegen im Cytoplasma ihrer Wirtszellen jeweils in einer membranumhüllten Vakuole. Mithin verbinden sie die spezifischen Eigenschaften echter Organellen (genetische Abhängigkeit von der zugehörigen Wirtszelle) mit den Kennzeichen typischer Cyanobakterien ( Peptidoglucan-Wand), die zu Bewohnern einer artfremden Zelle geworden sind (Einschluß in Vakuole).

Diese ungewöhnliche Merkmalskombination löste endlose Diskussionen über die systematische Stellung ihrer Trägerorganismen aus. Es fehlte nicht an Vorschlägen, die cyanellenführenden Formen den Grün- oder Rotalgen oder anderen übergeordneten Verwandtschafts gruppen zuzuordnen; sie alle blieben aber letztlich unbefriedigend.

Die Lösung

Einer von uns (Kies) hat nun bei genaueren elektronenmikroskopischen Untersuchungen in den cyanellenführenden Algen diverse feinstrukturelle Besonderheiten gefunden, die in dieser Kombination einmalig sind. Dazu gehören beispielsweise eine Lage abgeflachter Membrankörper direkt unterhalb der äußeren Zellmembran, das Vorkommen mehrschichtiger Geißelwurzeln sowie eine Zellteilung durch einfache Furchung (Bild): Nie wurden bei cyanellen-führenden Algenzellen bisher Sexualprozesse beobachtet. Eine weitere anatomische Besonderheit ist schließlich, daß diese Algen als Reservestoffe Polysaccharide (Stärke) in Gestalt kleinster Körnchen frei im Cytoplasma speichern. Untersuchungen ihres Kohlenhydrat-Stoffwechsels ergaben auch eine Reihe biochemischer Unterschiede zu den übrigen Algengruppen.

Weil in keinem der genauer betrachteten Merkmalsbereiche Übereinstimmungen mit anderen bekannten Algen oder unmittelbare Anschlußmöglichkeiten an etablierte Taxa zu erkennen waren, haben wir auf der Basis aller gesicherten Einzelmerkmale die Einrichtung eines neuen, übergeordneten Verwandtschaftskreises vorgeschlagen: Einzellige Algen mit den genannten Merkmalen, in denen zellwandumsäumte, aber genetisch unselbständige Cyanellen die typischen Aufgaben von Chloroplasten versehen und die stoffliche Versorgung ihrer Trägerzellen sicherstellen, fassen wir als Vertreter der neuen Algenabteilung Glaucocystophyta (mit der bisher einzigen Klasse Glaucocystophyceae) auf.

Rein typologisch steht diese neu umrissene Verwandtschaftsgruppe gleichwertig neben anderen Abteilungen des Pflanzenreichs und entspricht in ihrem taxonomischen Rang denen der Grünalgen, der Moose oder der Samenpflanzen (zu denen alle in der Land- und Forstwirtschaft genutzten Pflanzen gehören). Die Glaucocystophyten repräsentieren offensichtlich einen selbständigen Versuch, Zellen mit photosynthetisch aktiven Funktionsträgern zu entwickeln. Allerdings war er anscheinend nicht sonderlich erfolgreich; denn die gesamte neu ausgegliederte Verwandtschaftsgruppe umfaßt nach derzeitigem Kenntnisstand weltweit weniger als ein Dutzend Gattungen mit wohl nur 17 Arten.

Eventuell sind die cyanellenführenden Formen sogar eine Art lebender Zellfossilien. Freilich läßt sich über ihr phylogenetisches Alter derzeit nur spekulieren: Sie könnten entwicklungsgeschichtlich sehr alt, als alternativer Versuch einer Chloroplasten-Genese aber auch verhältnismäßig jung sein; die bisher vorliegenden molekulargenetischen Befunde sind mit beidem vereinbar.

Im übrigen könnte die nach der Artenzahl recht bescheidene Abteilung durchaus noch um einige Spezies anwachsen, die nach älteren Beschreibungen zwar die wesentlichen Eigenschaften von Glaucocystophyten aufzuweisen scheinen, bisher aber nicht für genauere Untersuchungen mit modernem Methodenrepertoire zur Hand waren. Ein gutes Beispiel ist der cyanellenführende Einzeller Cyanoptyche gloeocystis var. dispersa, der nach seiner Erstbeschreibung im Jahre 1925 nicht mehr gefunden worden war. Einer von uns (Kies) entdeckte ihn kürzlich am Originalfundort – einem Teich im Wiener Prater – wieder und nahm ihn sogleich in Laborkultur. Die feinstrukturelle Untersuchung ergab volle Übereinstimmung mit dem neu umrissenen cytologischen Profil der Glauco cystophyta.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1993, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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