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Neuer Tierstamm in der Mundhöhle von Hummern entdeckt

Höchst bizarr ist der Lebenszyklus mikroskopisch kleiner Organismen, die in der Mundhöhle von Kaiserhummern leben. So knospen im Innern der asexuellen Freßform stetig neue Individuen aus. Diese und andere Eigenheiten kennzeichnen die Tiere als Vertreter eines neuen Phylums.

Eher unscheinbar haftet ein winziges, sackförmiges Etwas an den Mundborsten des Kaiserhummers Nephrops norvegicus, der in der Ostsee und im nördlichen Atlantik beheimatet ist. Das weniger als ein drittel Millimeter große Geschöpf hält sich hinten mit einem Saugnapf fest und strudelt sich vorn mittels eines Wimpernkranzes rund um die Mundtrichteröffnung all das als Nahrung zu, was dort nach einer Mahlzeit seines Wirtes an Kleinpartikeln im Wasser schwebt.

Ansonsten beschränkt sich der Winzling auf gelegentliche Kontraktionen im vorderen Körperteil. Dennoch scheint er alles zu haben, was ein vielzelliges, bilateral gebautes (in der Längsachse spiegelsymmetrisches) Tier ausmacht: einen Verdauungstrakt mit Mundöffnung und After, Muskulatur, ein differenziertes Abschlußgewebe (eine Epidermis mit Cuticula) und selbst eine Art Gehirn in Form eines Ganglienpaares (Bild auf Seite 28 ).

Es handelt sich um das Freßstadium und zugleich die auffälligste Erscheinungsform der neuen Tierart Symbion pandora, einem Wirbellosen mit ziemlich kompliziertem Lebenszyklus. Das eigentlich Sensationelle aber ist, daß er zu keinem der heutigen rund 40 Tierstämme paßt, so daß man für ihn eigens ein neues Phylum kreierte: die Cycliophora, also Träger eines kleinen Rades (nach griechisch phoron und cyclion).

Schon 1991 hatte der Meeresmikrobiologe Tom Fenchel, Direktor des dänischen Meeresbiologischen Laboratoriums in Helsingør, den Bewohner des Kaiserhummers im Kattegatt entdeckt. Die Systematiker Peter Funch und Reinhardt Møbjerg Kristensen von der Universität Kopenhagen haben auf Anregung des Phylogenetikers Claus Nielsen etliche Exemplare näher untersucht und benannt ("Nature", Band 378, 14. Dezember 1995).

Die Männchen kleben – oft auch zu mehreren – an den Freßstadien fest und sind noch wesentlich kleiner. Sie selbst fressen nicht – sie haben erst gar keinen Mund oder Verdauungstrakt; doch verfügen sie über zwei große, stilettförmige Penisse und sind mit Spermien vollgepackt, mit denen sie die Weibchen besamen, die im Innern der Freßstadien heranwachsen.

Freilich finden sich Zwergmännchen, wiewohl selten, auch anderswo im Tierreich – etwa unter den Platt- und den Igelwürmern oder bei den Anglerfischen der Tiefsee. Desgleichen gibt es zum Lebenszyklus mit abwechselnden Phasen asexueller und sexueller Vermehrung Parallelen bei Einzellern oder Nesseltieren. Ziemlich einmalig ist jedoch die Reihe innerer Knospungen während der asexuellen Phase: Im Inneren der Freßform reifen immer neue Individuen heran; die alten Organe und Gewebe werden verdrängt und gehen zugrunde, bis schließlich der Mundtrichter abgestoßen wird und der Nachfolger das Elterntier ersetzt. Dies kann sich unter günstigen Lebensbedingungen vielfach wiederholen.

Während dieses Stadiums entlassen die Tiere zudem die beweglichen Pandora-Larven, die sich in der Nähe festsetzen und sich ihrerseits zu Elterntieren entwickeln, so daß die Mundborsten des Hummers bald dicht mit Kolonien strudelnder Säckchen besiedelt sind. Auch diese Larven bergen bereits neue, heranreifende Individuen, was die dänischen Wissenschaftler wohl an die Büchse der Pandora der griechischen Mythologie erinnerte.

Ob die Pandora-Larve allerdings für den Kaiserhummer – wie die Übel in jener Büchse für die Menschheit – von Schaden ist, läßt sich noch nicht sagen. Wahrscheinlich sind die kleinen Untermieter eher harmlose Nutznießer, die sich lediglich an Nahrungsabfällen ihres Wirtes gütlich tun. Deshalb erhielten sie den Gattungsnamen Symbion (im Sinne von Mitbewohner).

Die Zyklen von Symbion und Nephrops scheinen gut aufeinander abgestimmt, wenngleich man noch nicht weiß, wie Wirt und Gast sich verständigen – ob sie etwa Botenstoffe austauschen oder ob der kleine Mundbewohner einfach auf Stoffwechselprodukte des Krebses anspricht. Wann immer bei diesem eine Häutung bevorsteht, treten die fressenden, asexuellen Elterntiere jedenfalls in den sexuellen Vermehrungszyklus ein. Nun reifen in ihnen entweder Männchen oder Weibchen heran, die schwimmen können, sich aber bald verankern – die Männchen, die als erste freikommen, an solchen asexuellen Elterntieren, in denen Weibchen mit Eizellen entstehen.

Nachdem sich dann die besamten Weibchen selbständig gemacht haben, wächst in ihnen aus einem befruchteten Ei eine zweite Larvenform heran, die besonders gut mit Organen versehen und entsprechend beweglich ist. Sie kann sich nach der Häutung des Hummers in seiner Mundhöhle einen neuen Platz suchen oder einen anderen Wirt finden, dort zum Freßstadium heranreifen und in das asexuelle Stadium eintreten.

Der neue Fund unterstreicht, daß die Systematik im Kanon der Biowissenschaften heute zu Unrecht ein Randdasein führt. Obwohl sie auch für viele Fragestellungen in Fächern wie Molekularbiologie, Genetik oder Ökologie, die derzeit die Disziplin beherrschen, wichtige grundlegende Informationen liefert, gilt sie gemeinhin als eher nebensächlich, wenn nicht altmodisch und wird entsprechend wenig gefördert (siehe auch Spektrum der Wissenschaft, September 1994, Seite 114).

Dabei bedarf es einer langen Phase intensiver Beschäftigung mit der Handhabung und Präparation von Organismen sowie ihrer Untersuchung und Identifikation, bis ein Systematiker Merkmale richtig einzuordnen und zu bewerten versteht. Erst nach 10 bis 15 Jahren intensiver Arbeit am Objekt und mit der wissenschaftlichen Literatur kann er im allgemeinen produktive und verläßliche Forschung leisten. Diese lange Zeit läßt sich ohne finanzielle Förderung und Aussicht auf weitere Beschäftigung aber kaum durchhalten.

Zu den schwierigsten Aufgaben bei der verwandtschaftlichen Gruppierung von Organismen gehört, zu beurteilen, ob ein Merkmal den ursprünglichen (plesiomorphen) Zustand zu Beginn einer Evolutionslinie repräsentiert oder aber einen abgewandelten (apomorphen). Genau dies war auch die entscheidende Frage bei der Klassifizierung von Symbion pandora. Die dänischen Systematiker fanden neue abgeleitete Merkmale, die es unmöglich machten, die Tiere einem bereits bekannten Phylum zuzuordnen.

Dies war übrigens schon das zweite Mal, daß sich Kristensen den Traum wohl jedes Systematikers erfüllen konnte: Im Jahre 1983 hatte er bereits den Stamm der Loricifera entdeckt; auch diese Tiere sind kleiner als einen Millimeter, leben allerdings in marinen Sedimenten. Offenbar gibt es im Bereich des Mikrokosmos noch ausgedehnte weiße Flecken. Zwar dürften auch in schwer zugänglichen Lebensräumen hoher Biodiversität wie Korallenriffen, Meereshöhlen, Tiefseegräben oder tropischen Regenwäldern längst nicht alle Lebewesen entdeckt sein. Doch beschränkt sich die Vielfalt hier meist auf untergeordnete taxonomische Ebenen, etwa von Arten, Gattungen oder Familien. Die anderen maßgeblichen Lebensräume der Erde sind dagegen mit dem unbewaffneten Auge weitgehend abgesucht und werden kaum neue Tiere von erheblicher Körpergröße hervorbringen.

Strittig ist noch, wo im Tierreich die Cycliophora genau einzuordnen sind. Funch und Kristensen stellen den Stamm vorläufig zu den Protostomiern (den Urmündern), zu denen die Mehrzahl der Tierstämme zählt; dagegen gehören zum Beispiel die Wirbeltiere und die Stachelhäuter zu den Deuterostomiern (Neumündern).

In jedem Falle bereichern die Cycliophora unsere Kenntnis der Organisationsformen im Tierreich erheblich, und ihre weitere Erforschung dürfte auch neue Einsichten in die Verwandtschaftskonstellationen der anderen Phyla untereinander liefern. Nicht nur die Evolution der eigenartigen Tiere gilt es zu klären, sondern auch die ökologischen Hintergründe ihres komplexen Lebenszyklus sowie die genetische und zelluläre Steuerung der Gewebetransformationen bei der Larvalbildung. Desgleichen verdienen die Kommunikation und Wechselbeziehung zwischen dem – vielleicht durchaus erwünschten – Gast und seinem Wirt genauer untersucht zu werden.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1996, Seite 26
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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