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Neuronale Netzwerke


Bestimmte Themen in der Naturwissenschaft ziehen immer wieder besonderes Interesse auf sich: die Entstehung des Universums, das Ende der Dinosaurier, Atom- oder Gentechnologie – Fragen also, die auf die eine oder andere Weise die menschliche Stellung in der Welt tangieren. Ähnliches trifft auf das Thema "künstliche Intelligenz" zu, gilt doch landläufig intelligentes Verhalten als so ziemlich das einzige, was unsere Spezies vor allen anderen auszeichnet.

Ein schmales Bändchen des Ullstein-Verlags widmet sich nun der in den letzten Jahren explosiv anwachsenden Schar der Neuronalen-Netzwerk-Forscher und ihrem Sujet. Der Autor Norbert Lossau, promovierter Physiker und Wissenschaftsredakteur bei der Zeitung "Die Welt", hat im großen und ganzen sauber gearbeitet. In lockerem Ton zeigt er zunächst die physikalischen Grenzen herkömmlicher Computer auf, um dann als "clevere Alternative" neuronale Netzwerke zu präsentieren. Den historischen Spuren der Forschungsrichtung folgend, erläutert Lossau zunächst, wie bereits 1943 der amerikanische Psychologe Warren McCulloch und sein Schüler Walter Pitts ein simples Hirnmodell entwickelten. Das einfache "McCulloch-Pitts-Neuron", das ebenso wie übliche Computer-Hardware nur zwei Zustände kennt, ist noch heute die Grundlage fast aller neuronalen Netzwerke.

Während der fünfziger und sechziger Jahre waren neuronale Netzwerke schon einmal hoch im Kurs. Die Idee dabei ist, mittels vieler identischer und sich selbst regulierender Bauelemente, die vage biologischen Neuronen nachempfunden sind, Probleme ohne ein explizites Programm selbständig zu lösen. Anfang der fünfziger Jahre setzten Marvin Minsky und Frank Rosenblatt das Konzept in elektronische Maschinen um. Während Rosenblatt sein "Perceptron" vehement weiterverfolgte, wandte sich Minsky schnell wieder davon ab. Mehr noch – 1969 versetzte er, zusammen mit seinem Mitarbeiter Seymour Papert, die junge und damals noch optimistische Forschungsrichtung in einen Dornröschenschlaf, der bis Mitte der achtziger Jahre andauerte: In ihrem Buch "Perceptrons" zeigten die beiden Forscher, daß ein einfaches Perceptron, im wesentlichen nur aus einer Schicht von Neuronen bestehend, bestimmte logische Aufgaben nie würde lösen können.

Die Renaissance kam erst mit den Arbeiten von John Hopfield, der 1982 Parallelen zwischen relativ exotischen magnetischen Materialien, sogenannten Spingläsern, und bestimmten Typen von neuronalen Netzwerken aufzeigte (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1988, Seite 46). Mit einem Mal waren sämtliche mathematischen Techniken, die im Zusammenhang mit Spingläsern entwickelt worden waren, auf neuronale Netzwerke anwendbar; und tatsächlich nahmen sich schnell etliche Spinglas-Physiker des Themas an.

Als man Mitte der achtziger Jahre schließlich mit Hilfe des Backpropagation-Algorithmus mehrschichtige Netzwerke für Aufgaben trainieren konnte, an denen seinerzeit ein einfaches Perceptron gescheitert war, setzte eine wahre Flut von Veröffentlichungen und Applikationen ein (Spektrum der Wissenschaft, November 1992, Seite 134).

Dieser historischen Entwicklung folgt Lossau weitgehend, um schließlich zu Perspektiven und künftigen Anwendungen neuronaler Netzwerke überzugehen. Dabei kann auch er sich dem Optimismus der von ihm interviewten Forscher nicht gänzlich entziehen. Manche Aussagen, etwa daß Computer schon "in wenigen Jahren neben den herkömmlichen Datenspeichern auch mit neuronalen Speicherchips ausgerüstet sein werden", darf man bei der mageren Speicherkapazität solcher technischen Netzwerke durchaus bezweifeln.

Völlig unkritisch steht indes auch Lossau seinem Thema nicht gegenüber. Er warnt zu Recht vor der Gefahr, die von solchen "denkenden Maschinen" unter anderem für die Demokratie ausgehen kann: "Für [demokratische Staatsgebilde] ist die Existenz dezentraler und verteilter Kompetenz eine wichtige Voraussetzung. Zumindest aber dürften ,intelligente Maschinen' ideale Helfershelfer für Diktaturen jeder Couleur sein. Sie könnten als absolut zuverlässige ,Gefolgsleute' diktatorische Systeme stabilisieren und einen Staat in ein computergesteuertes Uhrwerk verwandeln."

Lossau hat, insgesamt gesehen, journalistisch saubere Arbeit geleistet. Es wäre mit Sicherheit ein empfehlenswertes Buch geworden, hätte man es nicht mit extrem unglücklich gewählten Abbildungen versehen. Sie entsprechen keinesfalls dem didaktischen Niveau des Textes, sind teilweise sogar als irreführend einzustufen. Wenn zur Illustration der Problematik von Objekt-Hintergrund-Trennung das Photo eines schwarzen Strafgefangenen auf einem Zebra – die Szene vor einer Ziegelwand arrangiert – benutzt wird (Seite 33), grenzt das nicht erst neuerdings an schlechten Geschmack.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1994, Seite 128
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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