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Nobelpreis für Medizin - Choreographen der Embryonalentwicklung

Schon im Frühstadium wird einem Embryo der Grundbauplan des Körpers angelegt und wenig später den Zellen eine Art Positionswert gewissermaßen ins Gedächtnis eingeprägt, das den unterschiedlichen Charakter einzelner Segmente bestimmt. Für die Entdeckung spezifischer Entwicklungskontrollgene und deren Funktionsweise geht der Diesjährige Nobelpreis für Physiologie und Medizin an Edward B. Lewis, Eric Wieschaus und Christiane Nüsslein-Volhard.

Knapp drei Millimeter groß, vermehrungsfreudig und leicht zu züchten, das ist das wohl am besten bekannte Studienobjekt der Genetik: die Taufliege Drosophila melanogaster. An ihr wurden die nunmehr ausgezeichneten Untersuchungen durchgeführt.

Sie stehen in einer langen Tradition. Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts hatten der amerikanische Biologe Thomas Hunt Morgan (1866 bis 1945) und seine Mitarbeiter das Insekt zu züchten begonnen, sehr bald Mutanten entdeckt und dann vor allem durch Koppelungsanalysen die lineare Anordnung von Erbfaktoren auf den Chromosomen belegt. Morgan erhielt 1933 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie. Sieben Jahre zuvor hatte einer seiner früheren Mitarbeiter, Hermann Joseph Muller (1890 bis 1967), an der Taufliege entdeckt, daß sich mit Röntgenstrahlen künstlich Mutationen auslösen lassen, und 20 Jahre später dieselbe Auszeichnung erhalten.

Um die deutsche Bezeichnung des Forschungsobjektes herrscht einige Verwirrung. Gewöhnlich wird der englische Trivialname fruit fly einfach wörtlich als Fruchtfliege übersetzt; Frucht- oder Bohrfliegen (englisch: large fruit flies) gehören aber einer ganz anderen Familie an – Tephritidae – als Taufliegen (auch Essig- oder Obstfliegen genannt; englisch: small fruit flies). Fruchtfliegen sind durch die Kirschfliege hierzulande eigentlich allbekannt: Deren Made vergällt allzuoft den Kirschgenuß.

Die Weibchen der Taufliege legen ih-re Eier – bis zu 400 – auf überreifem, zerfallendem Obst ab. Die Embryonen durchlaufen ihre Entwicklung in weniger als 24 Stunden; dann entschlüpft dem Ei die Larve. Vier Tage später verpuppt sie sich, und nach vier weiteren Tagen ist die Umwandlung zur fertigen Fliege abgeschlossen.


Homöotische Gene

Bereits 1915 hatte man im Laboratorium von Morgan an der Columbia-Universität in New York eine merkwürdige Mutante entdeckt: Sie trug statt des dritten flügellosen Brustrings nochmals einen zweiten samt Flügelpaar. Bithorax ("Doppelbrust"), wie man sie nannte, wurde rund 30 Jahre später für das wissenschaftliche Lebenswerk von Edward B. Lewis bestimmend.

Im Jahre 1942 hatte er am California Institute of Technology in Pasadena – wohin Morgan 1928 gewechselt war und sich wieder seinem liebsten Forschungsfeld, der Embryonalanalyse, zugewandt hatte – in Genetik promoviert; nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er 1948 als Professor dorthin zurück (seit 1988 ist er emeritiert). Damals begann er die genetischen Grundlagen für eine solche homöotische Mutation (nach griechisch homöo, gleichartig, ähnlich) zu analysieren, die einen Körperabschnitt ähnlich wie einen anderen aussehen läßt.

Wie sich zeigte, bestimmt eine kleine Gruppe von Genen – bithorax-Komplex genannt – den Charakter der einzelnen Segmente in der hinteren Körperhälfte von Drosophila. Bei Störungen bekommen die Zellen während der Entwicklung sozusagen eine falsche räumliche Identität. Eine zweite, von anderen Wissenschaftlern erforschte Ansammlung – der Antennapedia-Komplex – verursacht, wenn die Gene mutieren, in der Regel homöotische Entwicklungsfehler in der vorderen Hälfte.

Eine weitere wichtige Erkenntnis des Pioniers der Entwicklungsgenetik war, daß die Gene des bithorax-Komplexes auf ihrem Chromosom genau in der Reihenfolge angeordnet sind wie die von ihnen bestimmten Körperregionen längs des Fliegenembryos. Dieses Kolinearitätsprinzip gilt auch für die Gene des benachbarten Antennapedia-Komplexes. Aufgrund dieser Gemeinsamkeit werden beide Gruppierungen von homöotischen Genen inzwischen als HOM-Komplex zusammengefaßt.

Die HOM-Gene sind als Teil der kompletten Erbsubstanz in allen Zellen eines normalen Embryos vorhanden, aber nur in einigen davon werden die von ihnen codierten HOM-Proteine hergestellt (per Konvention schreibt man die Bezeichnungen von Genen kursiv, nicht aber die von Proteinen); und zwar werden in den frühen Entwicklungsstadien – noch bevor die verschiedenen Teile des Embryos irgendwelche äußeren Anzeichen ihrer späteren Bestimmung zeigen – HOM-Gene längs der Hauptachse (zwischen vorn und hinten) in aufeinanderfolgenden streifenförmigen Arealen angeschaltet. Manche dieser Aktivitätsstreifen überlappen sich zwar, doch hat jedes HOM-Gen seine eigene vordere Grenze, bis zu der hin es aktiviert wird (Bild 2 oben).

Ist die Ausprägung eines HOM-Proteins infolge Genverlusts oder ähnlicher Mißgeschicke gestört, dann werden embryonale Zellen, die es sonst in hoher Konzentration enthalten, oft homöotisch transformiert. Diese Umwandlung rührt von einem weiteren HOM-Gen her, das in denselben Zellen bereits überlappend aktiv ist und mit seiner Positionsinformation nun die Führung übernimmt. Bei einem Ausfall des Gens Ultrabithorax beispielsweise im Bereich des künftigen dritten Brustabschnitts (weil Teilfunktionen in der Gen-Domäne ausgeschaltet sind) kann die Positionsinformation des davorliegenden dominieren – mit entsprechenden Folgen.

Homöotische Umwandlungen können ferner von Mutationen herrühren, die ein Gen auch an Stellen anwerfen, wo es normalerweise überhaupt nicht aktiv ist. So sind Beine statt Antennen am Kopf der Fliege das Resultat des fälschlich bei einem künftigen Kopfsegment angeschalteten Gens Antennapedia.

Verblüffende genetische Parallelen zu diesen Entwicklungsprozessen und Anomalien hat man inzwischen bei Wirbeltieren einschließlich des Menschen gefunden. Bei Mäusen und Menschen gibt es vier sogenannte Hox-Komplexe, deren jeder auf einem anderen Chromosom liegt. Sie enthalten Pendants zu den Tau-fliegen-Genen in gleicher Reihenfolge (Bild 2). Defekte darin bewirken ebenfalls Mißbildungen (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1994, Seite 44). Und in Taufliegen eingeschleuste Pendants aus Mensch oder Maus, die sich zudem durch ein geschickt eingebautes Steuerelement zu einem gewünschten Zeitpunkt in allen Zellen eines Embryos einschalten lassen, wirken offenbar ähnlich wie die Originale, wenn diese an falscher Stelle ausgeprägt werden (Spektrum der Wissenschaft, April 1994, Seite 38).

Koordinaten- und Segmentierungsgene

Die systematische Suche nach Genen, die noch früher in der Embryonalentwicklung der Taufliege greifen, begründete die wissenschaftliche Karriere der zwei anderen Preisträger. Als Gruppenleiter am Europäischen Molekularbiologischen Laboratorium in Heidelberg beschlossen Eric Wieschaus und Christiane Nüsslein-Volhard im Jahre 1978, gemeinsam das Problem anzugehen.

Nur wenn eine sehr große Anzahl von Mutationsereignissen durchmustert wird, gelingt es, überhaupt eine repräsentative Anzahl interessierender Mutanten zu isolieren und Gene zu identifizieren, deren Produkte spezifisch an einem bestimmten Prozeß beteiligt sind. Die Trinkflüssigkeit weiblicher Taufliegen wurde mit Stoffen versetzt, die Mutationen auslösen, und der aus Weiterkreuzungen hervorgehende Nachwuchs auf Abweichungen von der Normalentwicklung geprüft. Lohn der Sisyphusarbeit: Dutzende von Schlüsselgenen, deren Ausfall die Zahl der Segmente und die Polarität beeinflußte.

Wie die räumlichen Koordinaten des Embryos – vereinfacht: vorn und hinten sowie oben und unten – festgelegt werden, war ein Schwerpunkt der weiteren Forschungsarbeit. Wieschaus setzte sie 1981 als Professor an der Universität Princeton (New Jersey) fort, Christiane Nüsslein-Volhard in Tübingen, zunächst als Gruppenleiterin am Friedrich-Miescher-Laboratorium, dann als Direktorin am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie.

Entscheidend für die Festlegung sind Produkte des mütterlichen Organismus, mit denen er das reifende Ei versieht. Mutationen in den dafür zuständigen maternalen Genen sind gewöhnlich rezessiv, wirken sich also erst aus, wenn der Defekt beide Gene eines Chromosomenpaares betrifft. Ein Weibchen, das von mischerbigen Eltern das jeweils betroffene Gen erbt, entwickelt sich normal, weil ihm die Mutter mit ihrem einen intakten Gen das nötige Produkt bereitzustellen vermag. Die Embryonen aber, die sich in den eigenen Eiern dieses Weibchens nach der Befruchtung entwickeln, sind nicht lebensfähig, selbst wenn sie von ihrem Vater ein intaktes Gen mitbekommen haben. Dann ist die räumliche Organisation, die Musterbildung, des Embryos gestört: Gewisse Körperabschnitte fehlen, während andere vergrößert oder verdoppelt sein können.

Für die Achsenbildung bei der Taufliege sind, wie sich zeigte, vier Systeme von maternalen Koordinatengenen – auch Eipolaritätsgene genannt – zuständig: Von einem wird die Körperachse zwischen Rücken und Bauch (oben und unten) festgelegt, von den drei anderen arbeitsteilig die Körperlängsachse (zwischen vorn und hinten). Eines davon bestimmt die segmentierte Region von Kopf und Brust, das zweite den segmentierten Hinterleib und das dritte die beiden unsegmentierten Enden vorn und hinten.

Das System für die vordere Körperhälfte ist das einfachste. Wie die Gruppe um Christiane Nüsslein-Volhard nachwies, wird das entscheidende mütterliche Produkt im reifenden Ei in Form einer Boten-RNA am vorderen Eipol deponiert (diese Ribonucleinsäure stammt aus den umgebenden Nährzellen). Erst nach der Befruchtung wird gemäß der darauf angegebenen Bauanweisung das mütterliche Protein hergestellt. Ein steil abfallender Konzentrationsgradient bildet sich aus, der sich über zwei Drittel des frühen Embryos nach hinten erstreckt.

Auch im System für die hintere Körperhälfte ist das ursprüngliche räumliche Signal eine mütterliche Boten-RNA, die Funktionsmechanismen sind aber andere. Das Zusammenspiel sämtlicher Systeme legt eine Art Vormuster an, das die weitere Aufgliederung des Embryos einleitet: Segmentierungsgene und homöotische HOM-Gene sind nun an der Reihe (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1991, Seite 64). Durch raffinierte Färbemethoden lassen sich die Aktivität beteiligter Gene und die Verteilung der dar-in verschlüsselten Proteine im Körper sichtbar machen (Bild 1).

Manche Biologen sehen Drosophila eher als Sonderfall an, weil sich der Zellkern des befruchteten Eies schon vielfach geteilt hat, ehe sich Zellwände zwischen den vielen an der Peripherie aufgereihten Tochterkernen ausbilden; dadurch können sich leicht Konzentrationsgradienten im Embryo aufbauen. Dem hält Christiane Nüsslein-Volhard jedoch entgegen, daß auch Zellen eine Art Gradienten schaffen können, etwa indem längs einer Richtung geordnete Zellen zunehmend mehr (oder weniger) Signalsubstanz aufnehmen. "Ich würde mich sehr wundern", erklärte sie vor vier Jahren in einem Interview mit Scientific American, "wenn nicht auch in komplexeren Tieren Gradienten am Werk wären" (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1991, Seite 70).

Dies will sie nun an einem Wirbeltierorganismus beweisen. Inzwischen analysiert sie deshalb an Zebrafischen deren genetische Grundlagen der Embryonalentwicklung.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1995, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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