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Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften - ökonomische Geschichte von Mythen befreit

Als "Frontfiguren neuer Wirtschaftlicher Forschung" - so die Königliche Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm - ist den beiden amerikanischen Wirtschaftshistorikern Robert William Fogel und Douglass Cecil North für ihre Neuinterpretation der traditionellen Wirtschaftsgeschichte der Nobelpreis zuerkannt worden.


Menschen gehen haushälterisch mit ihren Mitteln um und setzen sie möglichst gewinnbringend ein. Dieses Credo der neoklassischen ökonomischen Theorie teilen Fogel (Jahrgang 1926) und North (Jahrgang 1920) mit dem letztjährigen Nobelpreisträger Gary Becker. Statt aber zeitlose Phänomene wie Diskriminierung, Fruchtbarkeit und Verbrechen unter ökonomischen Aspekten zu durchleuchten, blickten sie weit zurück in die Vergangenheit und untersuchten ökonomische Entwicklungen vor unserem Jahrhundert: das Ende der Sklaverei in Amerika, die Einführung der Eisenbahn und die Geschichte der Ozeanschiffahrt. Als Pioniere der "Neuen Wirtschaftsgeschichte" oder Kliometrik führten sie dabei hypothetisch-deduktive ökonomische Modelle auf der Grundlage statistischer Daten als Analyseinstrumente ein. Dies ermöglichte quantitative Abschätzungen und damit objektivierund nachprüfbare Aussagen in einem Bereich, in dem intuitiv-qualitative Argumente das Denken bestimmt hatten (daher auch das Wort "Metrik" als Bestandteil der Fachgebietsbezeichnung, während "Klio" für die Muse der Geschichte steht).

Der beträchtliche Impuls, den die neue Wirtschaftsgeschichte der Forschung gab, beruht vor allem auf ihren überraschenden Ergebnissen. Hätte sie nur frühere Resultate bestätigt, wären ihre Methoden als wenig nützlich, ja überflüssig erschienen. Tatsächlich haben kliometrische Untersuchungen jedoch einige anerkannte Lehrmeinungen der traditionellen Geschichtsschreibung umgestürzt.

Innovationen und Wirtschaftswachstum


Das betrifft beispielsweise den Einfluß technischer Innovationen auf die Wirtschaftsentwicklung. Bis zu den Untersuchungen der Laureaten galten technologische Änderungen, welche sich in neuen Maschinen und Verfahren niederschlagen, als Conditio sine qua non wirtschaftlichen Fortschritts. Jedem Schulkind wurde beigebracht, daß die industrielle Revolution durch Erfindungen wie die Spinnmaschine, den mechanischen Webstuhl, das Walzwerk, die Dampfmaschine und die Eisenbahn in Gang gesetzt wurde. Indem sich North und Fogel mit den Auswirkungen bestimmter Erfindungen auf die Produktivität gründlicher auseinandersetzten, gelangten sie jedoch zu einem differenzierteren Bild.

Ihre Forschungen kann man dabei in drei Hauptgruppen unterteilen. Zum einen suchten sie beobachtete Produktivitätserhöhungen zu erklären, indem sie den Anteil der verschiedenen Produktionsfaktoren daran quantitativ bestimmten. Ein klassisches Beispiel ist die Studie von North, der an der Washington-Universität in St. Louis (Missouri) lehrt, über die Entwicklung der Ozeanschifffahrt. Demnach halbierten sich die Transportkosten im Seeverkehr zwischen 1600 und 1850, wobei jedoch technischer Fortschritt absolut keine Rolle spielte. Fast der gesamte Kostenrückgang läßt sich durch zwei andere Faktoren erklären: Zum einen reduzierte das Ende der Piraterie den Mannschaftsbedarf, weil Wachpersonal überflüssig wurde; zum anderen konzentrierte sich der Warenumschlag durch die Vergrößerung des Marktes immer mehr auf zentrale Handelsplätze, was die Liegezeiten verkürzte.

In der zweiten Gruppe von Arbeiten wurde das Wachstum einzelner Industriezweige detailliert untersucht und gedeutet. Diese Studien zeigten, daß nicht in erster Linie neue Maschinen und Anlagen für die rasante industrielle Entwicklung in Europa und Nordamerika in den letzten 200 Jahren verantwortlich waren. Nach Ansicht von North unterschätzten die Wirtschaftshistoriker, fixiert auf den maschinellen Fortschritt, die Bedeutung der Nachfrage für das industrielle Wachstum und vernachlässigten demgegenüber andere Bestimmungsfaktoren des Angebots wie die Qualität des Faktors Arbeit, den Bestand an Facharbeitern, die Effizienz industrieller Organisationen und die Kostenvorteile der Massenproduktion. Zum Beispiel konnte North quantitativ belegen, wie unterschiedliche Formen des Privateigentums in westeuropäischen Ländern sich in deutlichen Unterschieden in der industriellen Dynamik vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert widerspiegeln.

Die dritte Gruppe von Studien befaßt sich mit dem gesellschaftlichen Netto-Nutzen bestimmter Innovationen. Auch darin werden die Beiträge der verschiedenen Produktionsfaktoren zur Produktivitätserhöhung genau quantifiziert; doch geht der Ansatz noch einen entscheidenden Schritt weiter. Um die Ursachen wirtschaftlichen Wachstums wirklich zuverlässig zu ermitteln, so die Grundüberlegung, muß man zugleich betrachten, wie die ökonomische Entwicklung verlaufen wäre, wenn es eine bestimmte Innovation nicht gegeben hätte.

Eine solche vergleichende oder – wie er es nennt – kontrafaktische Analyse führte Fogel, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Chicago, 1964 in dem Buch "Railroads and American Economic Growth" für die amerikanischen Eisenbahnen durch. Dabei stellte er für das Jahr 1890 die tatsächliche Höhe des Sozialprodukts dem Wert gegenüber, der ohne Eisenbahnen erreicht worden wäre. Um diese hypothetische Größe abzuschätzen, konstruierte er ein Modell, in dem er bis ins Detail durchrechnete, welche Konsequenzen sich aus dem Fehlen des Schienenverkehrs für die Wirtschaftsentwicklung ergeben hätten.

Oberflächlich betrachtet, ist die allgemeine Ersparnis durch die Eisenbahn in einem bestimmten Jahr gleich der Differenz zwischen den tatsächlichen Transportkosten und denen für dieselbe Gütermenge und dieselben Entfernungen ohne Schienenverkehr. Dabei wird jedoch übersehen, daß sich die Gesellschaft an die alternativen technologischen Gegebenheiten angepaßt hätte. Bei stärkerer Nutzung der Wasser- und Landwege wären vermutlich andere, für diese Transportarten günstigere Produktionsstandorte und Handelsplätze entstanden; dies hätte den Verlust an Wirtschaftswachstum großenteils ausgeglichen. Anhand seiner Analysen bezifferte Fogel die gesellschaftliche Ersparnis des Transports landwirtschaftlicher Güter durch die Eisenbahnen auf nur 3,1 Prozent des Bruttosozialproduktes von 1890.

Mit den gleichen ökonometrischen Methoden untersuchte Fogel das Ende der Sklaverei in Nordamerika und veröffentlichte die Ergebnisse zusammen mit Stanley L. Engerman 1974 in dem Buch "Time on the Cross: The Economics of American Negro Slavery". Bis dahin hatte man weithin angenommen, daß die Sklavenhaltung zu Beginn des amerikanischen Bürgerkriegs unrentabel geworden sei und das Wirtschaftssystem der Südstaaten vor dem Zusammenbruch gestanden habe. Diese Einschätzung stützte sich insbesondere darauf, daß die Preise für Sklaven schneller gestiegen waren als die der von ihnen produzierten Güter.

Mit neoklassischem Instrumentarium und dem entsprechenden Begriffssystem ermittelte Fogel Nachfrage- und Angebotskurven für Sklaven, den auf Sklavenbesitz beruhenden Nettoeinkommensstrom, den internen Zinssatz bei Sklaven und die Kosten für deren "Aufzucht". Dabei kam er zu dem Schluß, daß sich im Plantagenbetrieb höhere Gewinne erzielen ließen als mit gewerblicher Produktion. Damit bestätigte er die schon 1958 von Alfred Haskell Conrad und John Robert Meyer aufgestellte, aber damals kaum akzeptierte These, die Sklaverei sei aus politisch-moralischen und nicht aus wirtschaftlichen Gründen abgeschafft worden.

Institutionen als Garanten des Wohlstandes


North ist auch ein bedeutender Wegbereiter der Neuen Institutionenökonomik, die untersucht, welche Institutionen bei welchen Arten von Austauschprozessen am effizientesten sind (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1990, Seite 38). Mit einem allgemeinen Modell des Wandels von Verfassungen und Rahmenbedingungen ging er der Frage nach, wie Volkswirtschaften und ihre institutionellen, technischen, demographischen und ideologischen Strukturen sich im Laufe der Zeit ändern. Im Mittelpunkt seiner Analyse standen dabei die Begriffe Eigentumsrecht, Staat und Ideologie.

Eigentumsrechte regeln, in welcher Weise der Inhaber einer Ressource legitim über diese verfügen darf, und schaffen damit Anreize, ökonomisch mit dieser Ressource umzugehen. Die Aufgabe des Staates ist es, die Eigentumsrechte zu spezifizieren und durchzusetzen. Die Ideologie schließlich stellt in diesem Kontext ein System moralisch-ethischer Grundsätze dar, das entscheidend mitbeeinflußt, wie der einzelne seine Vorstellungen in Handlungen umsetzt.

Mit Blick auf die Wirtschaftsgeschichte schließt North aus seiner Theorie, daß der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus nicht, wie von Karl Marx (1818 bis 1883) postuliert, durch gewaltsame Enteignung gekennzeichnet gewesen sei, sondern durch das Entstehen von Nationalstaaten und die Entwicklung eines gesetzlichen Rahmens zur Verankerung der Eigentumsrechte. Entsprechend führt er die wirtschaftliche Stagnation in den Entwicklungsländern und in den Staaten des ehemaligen Ostblocks vor allem auf den Mangel an Möglichkeiten zurück, bindende Verträge und andere institutionelle Arrangements einzugehen. Für eine funktionierende Marktwirtschaft reiche Privatisierung allein nicht aus; unabdingbar sei auch ein komplettes Netz effizienter Institutionen – vom Verfassungsgericht bis zur Notenbank.

Beide Wissenschaftler, gewohnt an die Frage "Was wäre, wenn ... ?", werden vielleicht auch überlegt haben, was geschehen wäre, wenn sie den mit 6,6 Millionen Kronen dotierten Nobelpreis schon letztes Jahr erhalten hätten. Die Antwort dürfte sie etwas wehmütig stimmen: Da die schwedische Krone seit der Kursfreigabe vor fast einem Jahr gegenüber dem Dollar um 30 Prozent gefallen ist, wäre das Preisgeld 1,8 statt 1,3 Millionen Mark wert gewesen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1993, Seite 23
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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