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Optimieren von Hochtemperatur-Supraleitern für den praktischen Einsatz

Die mit viel Euphorie begleitete Entdeckung von keramischen Werkstoffen, die bereits bei der Siedetemperatur von flüssigem Stickstoff elektrischen Strom verlustfrei zu leiten vermögen, verspricht die Elektronik und Elektrotechnik zu revolutionieren – sofern grundlegende materialtechnische Probleme gelöst werden können.

Die Entdeckung der Hochtemperatur-Supraleiter im Jahre 1986 hat Wissenschaftler mehrerer Fachrichtungen in Aufregung versetzt. Mit dieser neuen Werkstoffklasse verbinden sich oft Schlagworte wie „Schlüsseltechnologie des nächsten Jahrhunderts“ oder „neuerliche industrielle Revolution“. Gemeint sind oxidische Werkstoffe, die einerseits in ihren mechanischen und verarbeitungstechnischen Eigenschaften den Keramiken ähneln, sich andererseits aber wie metallische Supraleiter verhalten: Bei Raumtemperatur sind sie normalleitend, während ihr elektrischer Widerstand beim Abkühlen unter einen bestimmten Wert – die Sprungtemperatur – verschwindet und der Strom somit verlustfrei fließen kann.

Die Zahl der Fachveröffentlichungen über Hochtemperatur-Supraleiter ist enorm. Auch diese Zeitschrift hat mehrfach über die physikalischen Grundlagen, die Strukturen und mögliche Nutzungskonzepte berichtet (siehe „Perowskite“ von Robert M. Hazen, August 1988, Seite 42, „Die neuen Supraleiter: Perspektiven für Anwendungen“ von Alan M. Wolsky, Robert F. Giese und Edward J. Daniels, April 1989, Seite 50, „Keramische Supraleiter“ von Robert J. Cava, Oktober 1990, Seite 118, sowie „Magnetisches Verhalten von Hochtemperatur-Supraleitern“ von David J. Bishop, Peter L. Gammel und David A. Huse, April 1993).

Das große Forschungsinteresse rührt daher, daß bei diesen oxidischen Materialien der Übergang in den Zustand der Supraleitung bei vergleichsweise hohen Temperaturen stattfindet. Während herkömmliche Supraleiter eine technisch aufwendige Kühlung mit teurem flüssigem Helium auf 4,2 Kelvin (Grad über dem absoluten Nullpunkt, entsprechend –268,9 Grad Celsius) erfordern, genügt bei Hochtemperatur-Supraleitern flüssiger Stickstoff als Kühlmittel, der schon bei rund 77 Kelvin siedet und um Größenordnungen preisgünstiger ist. Dadurch eröffnet sich eine Vielzahl möglicher Anwendungen, die aufgrund der besseren Wirtschaftlichkeit der Supraleitungstechnologie zum Durchbruch verhelfen könnten (Bild 1 links).

Aber wie immer nach der Entdeckung neuer Materialklassen gilt es zunächst, die Werkstoffe zu optimieren. Dies erfordert ein vertieftes Verständnis dieser neuen Materialien, wobei noch manche Probleme zu lösen sind. Insbesondere muß die bisher technisch unbefriedigende kritische Stromdichte erhöht werden – bisher ist es so, daß die Supraleitung unter dem Einfluß äußerer Magnetfelder, wie sie bei technischen Anwendungen auftreten können, zusammenbricht und ein merklicher elektrischer Widerstand den Stromtransport behindert.

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich durch die mechanischen Eigenschaften der Materialien: Sie sind – wie viele andere keramische Werkstoffe auch – spröde und bruchempfindlich und lassen sich nur mit komplizierten Verfahren zu Drähten oder anderen Bauteilen formen. Auch ist der Stromtransport aufgrund ihres schichtförmigen Aufbaus nicht isotrop, sondern weist eine Vorzugsrichtung auf: Er erfolgt überwiegend in den Ebenen, die Kupferatome enthalten, während er senkrecht dazu hundert- bis tausendfach geringer ist (Bild 1 rechts).

Trotz dieser Probleme ist es durch systematische interdisziplinäre Forschungen innerhalb weniger Jahre gelungen, Substanzen und Verarbeitungstechniken so weit zu entwickeln, daß erste Anwendungen in der Elektronik und Energietechnik bald möglich sein sollten. Die kritischen Temperaturen liegen bei den wichtigsten und technisch relevanten Hochtemperatur-Supraleitern oberhalb von 90 Kelvin (Bild 2). Erst Anfang dieses Jahres hatten Hans Rudolf Ott und seine Mitarbeiter von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich eine neue Verbindung mit der bisher höchsten reproduzierbaren Sprungtemperatur von 133 Kelvin (–140 Grad Celsius) vorgestellt; es läßt sich jedoch noch nicht abschätzen, ob dieses quecksilberhaltige Material in kommerzieller und umweltverträglicher Weise eingesetzt werden kann (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1993, Seite 24).

Dünne supraleitende Filme

Bauteile aus Hochtemperatur-Supraleitern lassen sich mit verschiedenen Technologien herstellen. Je nach Art der Verarbeitung zeigen sie unterschiedliche charakteristische elektrische Eigenschaften, die damit auch ihre Einsatzgebiete festlegen. Sehr hohe kritische Stromdichten von einigen Millionen Ampere pro Quadratzentimeter erreicht man bei Stickstoffkühlung mit weniger als einen Mikrometer (tausendstel Millimeter) dicken supraleitenden Schichten von Yttrium-Barium-Kupfer-Oxid , die auf einkristallinen Trägermaterialien wie Magnesiumoxid, Strontiumtitanat oder Lanthanaluminat aufgebracht sind. Die Kristallachsen in den YBCO-Filmen sind fast perfekt ausgerichtet. Die damit erzielbaren elektrischen Eigenschaften eignen sich sowohl für Gleichstrom- als auch für höchstfrequenten Wechselstrombetrieb. Zur Herstellung der Filme heizt man das Substrat auf 600 bis 800 Grad Celsius vor und scheidet darauf die den Supraleiter bildenden Elemente oder Verbindungen aus der Dampfphase ab. Dabei formieren sich die angelagerten Atome in einer durch das einkristalline Substrat vorbestimmten kristallographischen Ausrichtung. In der Praxis lassen sich dafür mehrere Verfahren einsetzen, so die Laser-Ablation, das Sputtern und das Abscheiden metallorganischer Verbindungen aus der Dampfphase (nach dem englischen metal organic chemical vapor deposition MO-CVD genannt; dabei verdampft man Komplexverbindungen wie Tetramethylheptandionate bei Temperaturen von – je nach Metalltyp – 150 bis 280 Grad Celsius). Das MO-CVD-Verfahren ist preisgünstiger als die anderen und erlaubt die gleichmäßige Beschichtung großer Flächen und kompliziert geformter Substrate wie etwa Fasern. In die beschichteten Flächen lassen sich Mikrostrukturen einbringen, so daß man selbst komplexe Multilayer-, also Mehrschicht-Anordnungen für eine supraleitende Verdrahtung in Großrechnern oder zum Aufbau aktiver elektronischer Bauelemente herstellen kann. Dazu zählen Hochfrequenzmischer, Analog-Digital-Wandler, Schieberegister sowie binäre und andere logische Bauelemente für die ultraschnelle digitale Signalverarbeitung. Bisher hat man auf der Basis dünnfilmbeschichteter Substrate auch eine Vielzahl von Prototyp-Bauteilen für die Mikrowellentechnologie wie etwa Antennen, Filter und Verzögerungsleitungen entwickelt (Bild 3). Aufgrund der exzellenten Leitereigenschaften zeigen die Filme hohe Güten und somit bessere Mikrowellen-Eigenschaften als herkömmliche Baugruppen aus Kupfer oder Silber. So haben aus ihnen hergestellte Filter kleinere Bandbreiten und ermöglichen deshalb eine höhere Kanalbelegung in einem Frequenzband. Weitere Entwicklungen auf der Basis dünner Schichten im Elektroniksektor sind supraleitende Quanteninterferometer, sogenannte SQUIDs (superconducting quantum interference devices), die auf äußerst schwache Magnetfelder reagieren. Sie lassen sich vor allem in der medizinischen Diagnostik zum Erfassen von Hirn- und Herzmuskelströmen einsetzen. Indes sollen Dünnschicht-Supraleiter auch in der Energietechnik genutzt werden. Man hofft, mit beschichteten Fasern oder Bändern flexible elektrische Leiter und Kabel mit hoher Stromdichte entwickeln zu können. Da diese mit herkömmlichen Produkten konkurrenzfähig sein müssen, kommt als Substrat nur ein kostengünstiges und zu großen Längen verarbeitbares polykristallines Material in Frage. Dann muß man aber eine Möglichkeit finden, auf dem Träger mit seinen zufällig orientierten Kristalliten eine quasi einkristalline Schicht des Supraleiters aufzubringen. Erste Ansätze mit Trennschichten aus Materialien wie Zirconium- oder Cerdioxid zwischen dem Substrat und dem Supraleiter sind vielversprechend. Als sogenannte Buffer haben sie mehrere Aufgaben: Sie sollen der supraleitenden Schicht zur richtigen Orientierung verhelfen und eine Verunreinigung des Supraleiters mit dem Trägermaterial sowie eine Beeinträchtigung seiner Eigenschaften verhindern; des weiteren tragen sie auch noch zur Anpassung der unterschiedlichen Wärmeausdehnungskoeffizienten von Träger- und Supraleitermaterial bei. Japanischen und amerikanischen Forscherteams gelang es, indem sie auf Metallbänder eine Zwischenschicht aus mit Yttriumoxid stabilisiertem Zirconiumdioxid aufbrachten, kritische Supraleiter-Stromdichten um 500000 Ampere pro Quadratzentimeter zu erzielen. (Alle in diesem Beitrag angegebenen Stromdichten und -stärken gelten für eine Temperatur von 77 Kelvin und ohne äußeres Magnetfeld.) Diese Entwicklungen sind überaus ermutigend. Eine Umsetzung der mit wenige Zentimeter langen Proben im Labor erreichten Erfolge in die industrielle Fertigung von Leitern und Kabeln mit Längen im Kilometer-Bereich wird gleichwohl noch viele Jahre in Anspruch nehmen.

Formgebung aus der Schmelze

Die Bismut-Zwei-Schicht-Verbindung (BSCCO 2212) zeigt ein interessantes Merkmal: Aus einer mehr als 1000 Grad Celsius heißen Schmelze ihrer Ausgangsoxide von Bismut, Strontium, Calcium und Kupfer lassen sich mannigfaltige Formkörper – Stäbe, Rohre, Platten und große Zylinder – gießen (Bild 4). Werden die glasartig erstarrten Produkte danach einer weiteren Temperaturbehandlung bei etwa 800 Grad Celsius unterzogen, geht das Material in die supraleitende Phase mit dem optimalen Sauerstoffgehalt über. Dieser liegt, bezogen auf die oben angegebene Formeleinheit, zwischen 8,15 und 8,25 ( bis ). Im Gegensatz zu den Dünnschicht-Supraleitern haben diese Formteile eine polykristalline Struktur, wobei die einzelnen Kristallite zufällig orientiert sind (Bild 5). Auch hier macht sich die An-isotropie des Stromtransports bemerkbar: Der Formkörper hat eine geringere kritische Stromdichte als das einkristalline Material. Ursache sind sogenannte weak links (schwache Verbindungen), die sich an den Übergangsstellen zwischen den Kristalliten ausbilden; an ihnen reduziert sich die maximal mögliche Stromdichte auf wenige Prozent des Wertes im einkristallinen Supraleiter. Durch systematische Weiterentwicklung haben sich bei schmelzgegossenen Proben mittlerweile Stromdichten von 4000 Ampere pro Quadratzentimeter realisieren lassen; das ist für ein massives Supraleitermaterial beachtlich. So ist es bereits gelungen, durch 40 Zentimeter lange Rohre (Durchmesser 3,5 Zentimeter, Wandstärke 2 Millimeter) Absolutströme von 3400 Ampere zu transportieren. Erste Bauteil-Prototypen wurden bereits getestet, wobei sich zeigte, daß die bisher erreichten elektrischen Parameter für einige Anwendungen nach dem heutigen Stand der Technik genügen. Ein interessantes Einsatzgebiet ergibt sich bei Stromzuführungen für mit flüssigem Helium gekühlte Magnete aus herkömmlichen Supraleitern (Bild 6). Gegenwärtig verwendet man noch Kupfer, das zwar den Strom gut leitet, aber auch eine hohe thermische Leitfähigkeit aufweist und so dem Magneten Umgebungswärme zuführt. Der schmelzgegossene Hochtemperatur-Supraleiter hingegen hat eine etwa 200fach geringere Wärmeleitfähigkeit und erzeugt obendrein wegen des widerstandslosen Stromtransportes keine elektrische Verlustwärme. Mit Stromzuführungen aus diesem neuen Material verdampft folglich weniger Kühlmittel – die Heliumverluste reduzieren sich um mehr als 75 Prozent. Eine weitere Anwendungsmöglichkeit sieht man bei supraleitenden Kabeln zur Energieübertragung, die an den generator- und verbraucherseitigen Enden durch Strombegrenzer geschützt werden müssen, damit sie bei Kurzschluß nicht zerstört werden. In einer Hochtemperatur-Supraleiter-Ausführung eines solchen Bauteils wird der Eisenkern einer Drosselspule mit einem dazwischenliegenden supraleitenden Zylinder von der Spule abgeschirmt. Fließt nun bei einem Kurzschluß in der Spule ein höherer Strom als durch die Nennleistung vorgegeben, verliert die Abschirmung durch Übergang in die Normalleitung ihre Wirkung – sofort steigt die Impedanz der Spule, was den Fehlstrom wirksam begrenzt. Mehrere Firmen versuchen Strombegrenzer zu entwickeln, die auf diesem induktiven oder auf anderen Verfahren beruhen. Außer mit BSCCO 2212 haben sich bei Massivmaterial auch mit Yttrium-Barium-Kupferoxid (YBCO) erhebliche Verbesserungen erzielen lassen. Mittlerweile weiß man, daß durch rein keramikübliches Sintern nur bedingt brauchbare Massivteile zu fertigen sind, denn in einem solch mikrokristallinen Werkstoff behindern zu viele weak links den Stromtransport. Besser ist die Ausbildung großer Kristalle, die zudem eine identische Ausrichtung ihrer Achsen aufweisen sollten, damit der Übergang des Stroms zwischen den kupferhaltigen Vorzugsebenen möglichst wenig behindert wird. Gute Lösungsansätze bieten Verfahren mit einer partiellen Schmelze. Während YBCO gewöhnlich bei 920 Grad Celsius gesintert wird, heizt man die Probe bei dem verbesserten Prozeß kurz auf etwa 1050 Grad auf und kühlt sie anschließend mit einer Geschwindigkeit ab, bei der die sich bildenden Kristalle gerichtet wachsen. Zwar zersetzt sich bei der erhöhten Prozeßtemperatur ein Teil des Materials unter Bildung einer flüssigen Phase zu nicht supraleitenden Anteilen, doch erzielt man durch dieses Verfahren große Kristalle und damit auch eine hohe kritische Stromdichte. Infolge dieser hohen Ströme über weite und texturierte Bereiche hinweg entstehen große Magnetisierungen. Anwenden läßt sich dieser Werkstoff zum Beispiel in magnetischen Lagern für Schwungrad-Energiespeicher; besonders in Japan hat man diese Technik eingehend untersucht und als Demonstrationsobjekte der Öffentlichkeit präsentiert. Eine noch höhere Ausrichtung der Kristalle und demnach noch höhere Stromdichten lassen sich erzielen, wenn man vorgesinterte YBCO-Stäbe mit einer Geschwindigkeit von 1 bis 2 Millimetern pro Stunde durch einen Zonenschmelzofen zieht. So gelang die Herstellung von Stäben, die über mehrere Zentimeter hinweg Ströme von 60000 Ampere pro Quadratzentimeter transportieren können, ohne ihre Supraleitfähigkeit zu verlieren. Allerdings ist derartiges Material wegen des langwierigen Herstellungsprozesses teuer, so daß man darauf wohl nur bei speziellen Anwendungen zurückgreifen wird. Trotz aller Fortschritte ist das Massivmaterial noch weiter zu verbessern, bevor man es in großem Maßstab technisch einsetzen kann. Außer der Texturierung der Kristallite muß bei den Hochtemperatur-Supraleitern – insbesondere bei dem auf Bismut basierenden Material – die Fähigkeit zur Haftung der magnetischen Flußschläuche optimiert werden: Ein durch den Supraleiter fließender elektrischer Strom übt nämlich auf die ihn durchdringenden magnetischen Flußschläuche (hervorgerufen durch äußere oder auch durch vom Stromfluß selbst erzeugte Magnetfelder) eine Kraft aus, die der niederländische Physiker Hendrik Antoon Lorentz (1853 bis 1928; Nobelpreis 1902) erstmals mathematisch beschrieben hat und die nach ihm benannt ist. Sie läßt die magnetischen Flußschläuche im Material driften. Durch deren Wechselwirkung mit den für den supraleitenden Zustand charakteristischen Ladungsträgern – den Cooper-Paaren – und auch normalleitenden Elektronen entsteht Wärme, wodurch der elektrische Widerstand zunimmt. Bei Tieftemperatur-Supraleitern läßt sich dieses Problem lösen, indem man gezielt normalleitende Verunreinigungen in das Material einbringt, die als Haftstellen für die magnetischen Flußschläuche wirken und daher ihre Drift verhindern. Bei Hochtemperatur-Supraleitern wäre dieses Verfahren jedoch erfolglos, da bei ihnen die räumliche Ausdehnung der Cooper-Paare kleiner ist und daher die Flußschläuche nicht mehr durch vergleichsweise große Ausscheidungen fixiert werden; statt dessen muß man versuchen, Haftstellen auf andere Weise zu erzeugen: über Spannungen und Versetzungen im Kristall etwa oder indem man durch Beschuß mit schweren Ionen amorphe Bereiche schafft. Auf diesem Gebiet ist noch viel Forschungsarbeit zu leisten, bevor das störende Phänomen der Flußdrift beseitigt ist.

Supraleitende Drähte

Viele Forschungsgruppen in der ganzen Welt arbeiten an der Entwicklung von flexiblen Drähten aus Hochtemperatur-Supraleitern. Dabei wendet man vor allem die „Pulver-im-Rohr“-Methode an; von diesem Verfahren erwartet man, daß es schneller zur Anwendungsreife kommt als das der Beschichtung von metallischen Bändern. Die Drähte sind mit supraleitendem Material gefüllte dünne Streifen aus Silber. Sie sind etwa 2,5 Millimeter breit und 80 Mikrometer dick und weisen bereits heute hohe kritische Stromdichten auf: Bei 2 Zentimetern Länge erreicht man etwa 70000, über eine Strecke von 300 Metern 13000 Ampere pro Quadratzentimeter. Zur Herstellung der Bänder füllt man Silberrohre mit einem Vorprodukt des supraleitenden Materials, verschließt sie an beiden Enden durch Stopfen, zieht sie zu einem dünnen Rohr und walzt sie dann zu einem Band aus. Eine Temperaturbehandlung wandelt das Vorprodukt schließlich bei etwas mehr als 800 Grad Celsius in den Supraleiter um. Dabei schmilzt das Pulver partiell und kristalliert beim Abkühlen in großen, gleichmäßig ausgerichteten Bereichen – Voraussetzung für die gewünschten hohen Stromdichten. Durch Wiederholen des Walzens und Temperns lassen sich die elektrischen Eigenschaften optimieren. Als supraleitendes Material dafür hat sich die Bismut-Drei-Schicht-Verbindung (BSCCO 2223) bewährt. Je nach Präparation liegt die kritische Temperatur zwischen 110 und 115 Kelvin, also schon fast 40 Grad über dem Siedepunkt des Kühlmittels Stickstoff. Je größer die Differenz zwischen diesen beiden Werten ist, desto stabiler verhält sich das System gegenüber magnetischen Feldern. Durch Bündeln einzelner Filamente lassen sich verschiedene Leitertypen herstellen (Bild 7). Die bisher erreichten Stromdichten und die gute Flexibilität der Drähte motivieren die Forscher bereits jetzt zur Entwicklung von Kabeln und Magnetspulen unterschiedlichster Bauarten. Anfang diesen Jahres wurden in den USA erste Motoren mit derartigen Magnetspulen vorgestellt, die eine Leistung von 1,5 Kilowatt haben. Die nächste Leistungsklasse, an der man bereits arbeitet, soll 75 Kilowatt aufweisen. Auch Demonstrationsmodelle von supraleitenden, mit flüssigem Stickstoff umspülten Kabeln auf Basis der Silberdrähte wurden vorgestellt, wie sie in der Energieversorgung von Ballungsgebieten und Städten eingesetzt werden könnten. Erste Feldversuche will Japan durchführen, wobei längere Leitungen durch Hintereinanderschalten von 5 Meter langen supraleitenden Kabelsegmenten realisiert werden sollen. Auch in den USA arbeitet man aktiv auf diesem Sektor. Die Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen zielen zunächst darauf ab, die bisher in kurzen Proben erreichten Spitzenwerte von 70000 Ampere pro Quadratzentimeter auch auf große Längen zu übertragen. Durch schrittweise Verbesserungen hofft man Werte von mehr als 100000 Ampere pro Quadratzentimeter über Längen von mehreren Kilometern zu erreichen. Parallel dazu müssen die mechanischen Eigenschaften verbessert werden, denn die durch den Draht fließenden hohen Ströme üben große mechanische Kräfte auf ihn aus. Je dünner und zahlreicher die Einzelfilamente sind, desto besser sind die mechanischen Eigenschaften; zudem reduzieren sich dadurch die Wechselstromverluste. Aus heutiger Sicht eignet sich die „Pulver-im-Rohr“-Methode am besten, um mittelfristig supraleitende Motoren, Generatoren und Kabel zu realisieren.

Perspektiven und Aufgaben

Aufgrund der bisher gefundenen Werkstoffe und erarbeiteten Verfahren läßt sich eine zügige Weiterentwicklung der Hochtemperatur-Supraleiter vorhersagen. Diese Technologie ist nach wie vor ein faszinierendes Gebiet, bei dem sich nicht nur verschiedene naturwissenschaftliche Disziplinen, sondern auch grundlagen- und anwendungsorientierte Wissenschaftler gegenseitig ergänzen.

Sollten sich die skizzierten Probleme in nächster Zeit erfolgreich lösen lassen, wird sich nach Einschätzung vieler Fachleute bald nach der Jahrtausendwende ein beträchtliches Marktpotential ergeben. Nach optimistischen Schätzungen sind weltweit Jahresumsätze in der Größenordnung von vielen Milliarden Mark zu erwarten. Falls sich sogar bei Raumtemperatur supraleitende Materialien entwickeln und anwenden ließen, wäre das Marktpotential noch weit größer; dies würde einer Revolution unserer gesamten bisherigen Technologie gleichkommen.

Aber trotz allen bisherigen Fortschritten wird die Umsetzung in breit einsetzbare Produkte noch geduldige und beharrliche Forschungs- und Entwicklungsarbeit erfordern. Die größte Aufgabe ist, die starke Reduzierung der kritischen Stromdichte durch äußere Magnetfelder zu mildern. Vorerst muß man bei Anwendungen, bei denen wie in Motoren oder Generatoren starke magnetische Felder auftreten, als Arbeitstemperatur nicht 77, sondern Werte zwischen 20 und 30 Kelvin wählen, um dem störenden Flußkriechen entgegenzuwirken. In diesem Temperaturbereich kann man kontinuierlich arbeitende Kältemaschinen zur Kühlung verwenden; sie sind kostengünstiger als flüssiges Helium. Allerdings sind noch die Kühlleistung und die Zuverlässigkeit dieser Technik zu verbessern, bevor sie industriell zur Kühlung supraleitender Systeme eingesetzt werden kann.

Techniker in aller Welt träumen schon jetzt von supraleitenden Antrieben für Magnetschwebebahnen, Schiffe oder gar Kraftfahrzeuge, Geräten vom einfachen Sensor bis hin zum supraleitenden Großcomputer und Systemkomponenten vom Kabel bis zum Generator. Je nach Produkttyp wird die Entwicklung mindestens noch zehn, zwanzig oder noch mehr Jahre dauern – sofern sich die materialtechnischen Probleme überhaupt lösen lassen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1993, Seite 94
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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