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Ortet das Gehirn Geräusche chronologisch codiert?



Über das Zusammenspiel von Gehör und Gehirn ist viel weniger bekannt als über die neuronale Verarbeitung visueller lnformation, für deren Erforschung der amerikanische Neurobiologe David Hubel und sein schwedischer Kollege Torsten Nils Wiesel 1981 den Nobelpreis erhalten haben. Doch nun scheint eine Entdeckung von John Middlebrooks am Hirnforschungsinstitut der Universität von Florida in Gainesville dem Geheimnis näherzukommen, wie die Hörrinde die Orte von Geräuschquellen repräsentiert ("Science", Band 264, Seiten 842 bis 844, 6. Mai 1994).

Wie man seit den Untersuchungen von Hubel und Wiesel weiß, codiert das visuelle System die eintreffenden Informationen räumlich. Signale von benachbarten rezeptiven Feldern in der Netzhaut werden jeweils an benachbarte Stellen der Sehrinde geleitet und in deren verschiedenen Schichten nach Attributen wie Form, Orientierung und Farbe analysiert. So entsteht im visuellen Cortex ein topologisch getreues Bild der optischen Welt, das jedoch nicht nur eine photographische Wiedergabe ist, sondern bereits das Ergebnis einer ersten, grundlegenden Bildanalyse .

Nun haben schon 1987 Barry Richmond vom National Institute of Mental Health und Lance Optican vom National Eye Institute der USA in Bethesda (Maryland) die Frage aufgeworfen, warum die Natur sich nicht einer wesentlich effektiveren Form der Informationsverarbeitung bediene, die man aus der Funktechnik kennt: Beim sogenannten Multiplex-Verfahren transportiert jedes Signal beispielsweise mittels Frequenzmodulation – mehrere lnformationen gleichzeitig. Richmond und Optizan meinten Indizien dafür gefunden zu haben, daß Ortsveränderungen eines visuellen Reizes sich in einer Frequenzmodulation des neuronalen Pulsmusters widerspiegeln (Spektrum der Wissenschaft, September 1988, Seite 16).

Diese zeitliche Codierungsmethode scheint zwar im visuellen System eine eher untergeordnete Rolle zu spielen; doch könnte sie das Rätsel lösen, warum man in der Hörrinde keine räumlich differenzierten Neuronensäulen mit exakt umschriebenen Analysefunktionen auszumachen vermag. Nach den Befunden der Gruppe um Middlebrooks codieren die Neuronen in der Hörrinde die Richtung einer Geräuschquelle möglicherweise tatsächlich durch Modulation der Pulsfrequenz, das heißt chronologisch statt räumlich.

Ein starkes Indiz dafür fanden die Forscher mittels eines per Computer simulierten neuronalen Netzes zur Mustererkennung. Sie brachten dem System allmählich bei, die Pulsmuster bestimmter Neuronen in der Hörrinde einer betäubten Katze wiederzuerkennen und mit der Richtung zu identifizieren, aus der eine Geräuschquelle akustische Reize ausstrahlte. Tatsächlich lernte das neuronale Netz, die zeitlich codierte Richtungsinformation aus den Pulsfrequenzen zu extrahieren. Damit ist zumindest bewiesen, daß dies möglich ist – und weil keine Korrelation zwischen der Position einer Schallquelle im Raum und dem Ort in der Hörrinde besteht, an dem dieser Schall verarbeitet wird, spricht viel dafür, daß das Gehirn sich zeitlich codierter Information bedient, um sich in der Welt des Hörbaren zurechtzufinden.

Zudem ist das Resultat einfach schön, weil es einen tiefen Bezug zwischen Sinnen und Anschauungsformen anklingen läßt: Sehen geschieht im Raum, Hören in der Zeit.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1994, Seite 20
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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