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Orthographie - Empfehlungen zu behutsamer Reform

Eine Vereinfachung der amtlichen Rechtschreibnorm ist überfällig. Fast 100 Jahre nach der ersten Vereinheitlichung könnte eine systematische Neuregelung abgeschlossen sein.

Die "Regeln für die deutsche Rechtschreibung", wie sie 1902 für das damalige Reichsgebiet sanktioniert worden waren, hatten die Kultusminister der bundesdeutschen Länder 1955 als "Grundlage für den Unterricht an allen Schulen" bestätigt und in "Zweifelsfällen die im ,Duden' gebrauchten Schreibweisen und Regeln" für "verbindlich" erklärt. Der Philologe Konrad Duden (1829 bis 1911), der erstmals 1880 ein schmales Bändchen des Titels "Orthographisches Wörterbuch" publiziert hatte, bezeichnete freilich schon die mühsam erreichte Vereinheitlichung von 1902 nur als "Zwischenziel".

Was seither geschah, war jedoch statt einer weiteren Vereinfachung vor allem eine immer detailliertere Normierung. Inkonsistente Änderungen im Schreibgebrauch haben sich eingestellt; die Regeln sind, weil in vielen Bereichen unsystematisch aufgeschwellt, schwierig zu erlernen. Deutsch korrekt zu schreiben ist eine äußerst anspruchsvolle, mithin weithin vernachlässigte Aufgabe geworden: Der "Duden"-Band "Rechtschreibung" umfaßt mittlerweile (in der 20. Auflage) 832 Seiten mit rund 11500 Stichwörtern, der Band "Die Zweifelsfälle der deutschen Sprache – Wörterbuch der sprachlichen Hauptschwierigkeiten" 784 Seiten.

Deshalb sind in den letzten Jahrzehnten auch Bemühungen um eine Reform in den deutschsprachigen Staaten und kooperativ zwischen ihnen betrieben worden (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1985, Seite 28; August 1987, Seite 23; Oktober 1988, Seite 37; April 1989, Seite 40, und Juni 1993, Seite 84).

Mit den Dritten Wiener Gesprächen zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung, die vom 22. bis 24. November 1994 stattgefunden haben, wurde nun ein Durchbruch erzielt: In allen noch offen gebliebenen Fragen kamen die Teilnehmer zu einvernehmlichen Lösungen, so daß ein zwischen den Wissenschaftlern des Internationalen Arbeitskreises für Orthographie und den Vertretern der zuständigen staatlichen Stellen der betroffenen Länder abgestimmter Neuregelungsvorschlag vorliegt, der nur noch einer sorgfältigen redaktionellen Bearbeitung bedarf.

Auf Einladung des österreichischen Bundesministeriums für Unterricht und Kunst waren Delegationen aus Belgien, der Bundesrepublik, Dänemark, Italien/Südtirol, Liechtenstein, Luxemburg, Österreich, Rumänien, der Schweiz und Ungarn angereist. Grundlage für die Verhandlungen bildete eine überarbeitete Fassung des Reformvorschlages, den der Internationale Arbeitskreis für Orthographie 1992 vorgelegt hatte ("Deutsche Rechtschreibung. Vorschläge zu ihrer Neuregelung", Gunter Narr Verlag, Tübingen). Die Überarbeitung trägt in wohlabgewogener Weise Hinweisen Rechnung, die sich aus der Diskussion des Vorschlags in der breiten Öffentlichkeit ergeben hatten, und nimmt so in noch stärkerem Maße als die 1992 vorgelegte Fassung Rücksicht auf den Aspekt der politischen Vertretbarkeit und praktischen Durchsetzbarkeit.

Bestandteil des Neuregelungsvorschlages ist außer einem Regelteil nunmehr auch ein umfangreiches Wörterverzeichnis. Darin sind mit etwa 12000 Beispielen alle Stammschreibungen des gegenwärtigen Deutschen erfaßt, sofern es sich nicht um fachsprachliche, umgangssprachliche oder enger landschaftlich gebundene Besonderheiten handelt. Eingearbeitet sind auch alle Schreibungen, die sich aus einer Neuregelung ergeben würden.

Übereinstimmend wurde der jetzige Vorschlag, der grundsätzlich die Zustimmung aller Teilnehmer erhielt, als der am besten durchdachte und am sorgfältigsten abgewogene seit der Normierung auf der Berliner Orthographie-Konferenz von 1901 bezeichnet. Die in Wien versammelten Delegationen würdigten die sorgfältigen und umfangreichen wissenschaftlichen Arbeiten und empfahlen die Ergebnisse der Beratung den politischen Entscheidungsinstanzen zur Annahme. Das erste Mal seit fast hundert Jahren besteht damit die reale Chance, die deutsche Rechtschreibung behutsam weiterzuentwickeln.

Die redaktionelle Bearbeitung des Regelwerks soll Ende März 1995 abgeschlossen sein. Nach der politischen Willensbildung in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz wird die Unterzeichnung eines Abkommens für Ende 1995 angestrebt; weitere interessierte Länder, in denen Deutsch von einer Minderheit gesprochen wird, sind eingeladen, dem Abkommen beizutreten. Bis es entsprechend den Möglichkeiten der Länder in Kraft tritt, ist eine Übergangszeit von fünf Jahren vorgesehen. Die verbindliche Einführung sollte bis zum Jahre 2001 abgeschlossen sein. Diese lang bemessene Frist dürfte es ermöglichen, die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung ohne besondere Kosten umzusetzen. Verbindlich wären dann die amtlichen Regeln für Schulen und Behörden. Außerhalb dieser Lebensbereiche kann der einzelne seine schriftlichen Texte wie bisher auch individuell gestalten. Die Schreibung der Eigennamen wird nicht geändert.


Aktuelle Änderungen

Die Vorschläge betreffen im einzelnen die Schreibung der Wörter einschließlich der Fremdwörter (das heißt ihre Laut-Buchstaben-Beziehung), die Getrennt- und Zusammenschreibung, die Schreibung mit Bindestrich, die Groß- und Kleinschreibung, die Zeichensetzung und die Worttrennung am Zeilenende. Sie sind das Ergebnis jahrelanger wissenschaftlicher Zusammenarbeit von vier Arbeitsgruppen aus der Bundesrepublik und der DDR, solange sie bestand, sowie aus Österreich und der Schweiz und der weiteren Bearbeitung durch den Internationalen Arbeitskreis für Orthographie, der aus diesen Arbeitsgruppen hervorgegangen ist. Koordiniert wird die Zusammenarbeit in der Arbeitsstelle Graphie und Orthographie des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim.

Insgesamt zielt der Konsens darauf ab, die Rechtschreibung in bestimmten Bereichen systematischer zu gestalten. Spitzfindige Ausnahmeregeln und Ausnahmen von Ausnahmen sollen beseitigt werden, was gleichzeitig die Grundregeln stärkt.

So soll eine kleine Gruppe von Wörtern der Schreibung verwandter Wörter angeglichen werden, etwa nummerieren (heute mit einem m) wegen Nummer oder Karamell (heute ein l) wegen Karamelle. Im Sinne einer solch konsequenteren Durchsetzung der Stammschreibung, die in Wien als wichtiger Grundsatz besonders hervorgehoben wurde, soll auch der Umlaut stärker beachtet werden. Künftig würden zum Beispiel Bendel und überschwenglich mit ä, also Bändel und überschwänglich, geschrieben (wegen Band/Bänder und Überschwang). Ähnliches gilt für schneuzen, behende und Gemse.

Zur Sicherstellung der gleichen Schreibung der Wortstämme soll auch der Wechsel von ss zu ß nach kurzem Vokal aufgehoben und künftig konsequent ss geschrieben werden, also Wasser/wässerig/wässrig oder müssen/er muss. Hingegen bleibt ß in Wörtern wie Maß, Muße und Straße erhalten und kennzeichnet nunmehr eindeutig die Länge des vorausgehenden Vokals oder einen Doppellaut vor stimmlosem s-Laut (draußen, beißen). Die Konjunktion daß wird künftig – entsprechend der allgemeinen Regel, daß nach kurzem Vokal ss steht – dass geschrieben. Damit bleibt die Unterscheidung gegenüber dem Artikel beziehungsweise dem Relativpronomen das erhalten.

Stammkonstanz soll es auch bei Zusammenschreibungen und Ableitungen geben. In Zusammensetzungen wie Schiff + Fahrt und Sauerstoff + Flasche bleiben generell alle Buchstaben erhalten, also Schifffahrt (heute Schiffahrt) und Sauerstoffflasche (wie bereits heute). Dadurch wird die Sonderregel überflüssig, daß bei Trennung (etwa Schiff-fahrt) das dritte f wieder einzufügen ist. Ähnliches gilt für Rohheit.

Fremdwörter bereiten wegen ihrer fremden Laut-Buchstaben-Zuordnung oft besondere orthographische Schwierigkeiten. Im Widerstreit stehen die Loyalität gegenüber der fremden Sprache und die gegenüber dem Deutschen. Angleichungen in der Schreibung (und in der Aussprache) haben von jeher stattgefunden, betreffen in der Regel aber nur häufig gebrauchte Wörter des Alltagswortschatzes. Weitere Angleichungen kommen darum nur hier in Betracht und sollen lediglich dann vorgenommen werden, wenn eine Entwicklung bereits angebahnt ist. So läßt sich die f-Schreibung für ph (Foto) auf einige wenige weitere Alltagswörter ausdehnen, etwa Asphalt/Asfalt oder Katastrophe/Katastrofe. Auf eine forcierte Angleichung ist jedoch verzichtet worden. Wörter wie Philosophie, Phänomen, Metapher oder Sphäre sollen weiterhin wie bisher geschrieben werden. Ist eine integrierte Schreibung schon heute bei den meisten Wörtern vorhanden (etwa -ee statt -é oder -ée wie in Allee, Komitee, Resümee und so weiter, wird diese für alle Wörter als zweite zulässige vorgeschlagen (zum Beispiel Chicorée/Schikoree oder Varieté/Varietee). Das gilt auch für Wörter mit den Stämmen phon/fon, phot/fot, graph/graf, etwa Megaphon/Megafon (heute schon: Mikrofon), Photometrie/Fotometrie oder Geographie/Geografie.

Bei der Getrennt- und Zusammenschreibung ist vorgesehen, heute unterschiedlich geregelte Fälle zu vereinheitlichen. So sollen Verbindungen wie radfahren/ich fahre Rad, aber Auto fahren/ ich fahre Auto generell getrennt geschrieben werden, also auch Rad fahren, Staub saugen, Teppich klopfen.

Verbindungen wie irgendwer, irgendwohin gegenüber irgend etwas, irgend jemand sind in Zukunft generell zusammenzuschreiben, also auch irgendetwas, irgendjemand. Bereinigt wird die Regelung der Verbindungen aus aneinander/auseinander/beieinander und so weiter + Verb, und zwar durch generelle Getrenntschreibung, die für viele, aber nicht für alle Einzelfälle schon heute gilt.

Die Unterscheidung von konkreter und übertragener Bedeutung als Kriterium für Getrenntschreibung (auf dem Stuhl sitzen bleiben) beziehungsweise Zusammenschreibung (in der Schule sitzenbleiben im Sinne von nicht versetzt werden) soll aufgegeben werden, da dieses Kriterium schon heute nicht funktioniert, wie die folgenden Beispiele zeigen: im Bett liegenbleiben (heute zusammen trotz konkreter Bedeutung), mit seinem Plan baden gehen (heute getrennt trotz übertragener Bedeutung scheitern). Gelten soll hier die konsequente Getrenntschreibung (bei geänderter Stellung ohnehin schon heute: er blieb in der Schule sitzen). Aus dem Textzusammenhang oder aus der Sprechsituation heraus sind alle diese Fälle eindeutig zu verstehen.

Bei der Schreibung mit Bindestrich sollen einerseits Ungereimtheiten beseitigt werden (nur noch 8-fach, 100-prozentig und so weiter statt bisher n-fach, aber 8fach); andererseits soll der Schreibende die Möglichkeit erhalten, selbst zu entscheiden, ob eine Bindestrichschreibung (zum Beispiel Ich-Form statt Ichform) seine Aussageabsicht verdeutlicht.

Weil sich für die vom Internationalen Arbeitskreis ursprünglich vorgeschlagene Kleinschreibung der Substantive eine mehrheitliche Zustimmung nicht finden ließ, wurde in Wien über den Vorschlag einer modifizierten Großschreibung entschieden. Ziel ist es, die Großschreibung der Substantive beizubehalten, besonders schwierige Bereiche der Groß-/Kleinschreibung jedoch im Sinne einer besseren Handhabung neu zu regeln. Vereinfachungen betreffen unter anderem feste Fügungen aus Adjektiv und Substantiv wie schwarzes Brett, in denen Großschreibung des Adjektivs nur noch in Eigennamen, das heißt bei singulären Benennungen (etwa Stiller Ozean), eintritt. Generell groß wird dagegen das Substantiv in Verbindung mit einer Präposition geschrieben, etwa auf Grund, in Bezug, mit Bezug (jetzt noch: in bezug, aber mit Bezug). Im Sinne einer leichteren Handhabung sollen auch Wendungen wie im Großen und Ganzen oder des Näheren groß geschrieben werden, was auch grundsätzlich für substantivierte Adjektive als Teil einer festen Fügung mit Verb gilt, zum Beispiel im Dunkeln tappen oder im Trüben fischen, und zwar bei Verwendung sowohl in wörtlicher wie auch in übertragener Bedeutung.

Bei der Zeichensetzung sind Vereinfachungen beim Komma vor und oder oder sowie in Verbindung mit Infinitiv- und Partizipgruppen vorgesehen. Dem Schreibenden wird hier mehr Freiheit eingeräumt. Dadurch hat er mehr Möglichkeiten, dem Lesenden die Gliederung zu verdeutlichen und das Verstehen zu erleichtern.

Bei der Trennung der Wörter soll die heutige Regel, st stets ungetrennt zu lassen, aufgehoben werden. Wörter wie Wes-te, Kas-te werden dann so getrennt wie heute schon Wes-pe oder Kas-ko. Des weiteren ist vorgesehen, ck bei der Worttrennung nicht mehr durch kk zu ersetzen (Zuk-ker). Im Sinne der Beibehaltung der Stammschreibung soll vielmehr ck erhalten bleiben und geschlossen auf die nächste Zeile kommen, also Zu-cker (ähnlich wie bei la-chen und wa-schen). Für Fremdwörter soll außer den heute vorgeschriebenen Trennungen, die der Herkunftssprache Rechnung tragen (Chir-urg, Si-gnal, Päd-agoge, par-allel, Heliko-pter), in Zukunft auch die allgemein übliche Trennungsart möglich sein: Chi-rurg (wie Si-rup), Sig-nal (wie leug-nen), Pä-dagogik (wie ba-den), pa-rallel (wie Pa-rade), Helikop-ter (wie op-tisch).

Um sicherzustellen, daß die Einführung der neuen Regelung gelingt, und um die Pflege und Entwicklung der deutschen Orthographie auch weiterhin zu gewährleisten, haben die Teilnehmer der Dritten Wiener Gespräche zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung sich dafür ausgesprochen, eine ständige zwischenstaatliche Kommission für Orthographie einzurichten. Sie soll ihren Sitz am Institut für deutsche Sprache in Mannheim haben.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1995, Seite 106
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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