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Ostdeutsche Hochschulen und Institute - Strukturvorteile erreicht, Elan strapaziert

Wie beeinflußte die Übertragung des mit Fehlern behafteten westdeutschen Wissenschaftssystems die Reform im Osten? Was vermögen die Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen in den neuen Ländern mittlerweile zu leisten? Eine Zwischenbilanz war fällig.

Nüchterner als vor wenigen Jahren, um viele positive wie negative Erfahrungen reicher können Wissenschaftler und Politiker jetzt die Lage von Forschung und Lehre in Ostdeutschland beurteilen. Die Ehrlichkeit, mit der sie sowohl die Chancen für eine Erneuerung als auch die Schwächen des Vereinigungsprozesses und seine fortdauernden Unzulänglichkeiten auf einer gemeinsam von der Universität Halle-Wittenberg und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle veranstalteten Tagung am 23. und 24. März darlegten, wurde etwa bei der Hochschulrektorenkonferenz 1992 in Rostock (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1992, Seite 125) vermieden und vermißt. Der frühere Vorsitzende des Wissenschaftsrates Gerhard Neuweiler meinte jetzt, den wissenschaftlichen Einrichtungen in Ostdeutschland sei klar, daß sie nicht in ein neues, sondern mit den westlichen Einrichtungen zusammen in ein gemeinsames Boot gestiegen seien.

Den derzeit 14, künftig mit der geplanten Neugründung in Erfurt 15 ostdeutschen Hochschulen mit Universitätsrang bescheinigte Neuweiler strukturelle Vorteile. Stärker als diejenigen im Westen sind sie jetzt zu Reformen und zu Modellexperimenten bereit, denn noch sind ihre Bindungen nicht so festgezogen. Sie können sogar, wie die Humboldt-Universität Berlin zeigt, westliche Hochschulen – in diesem Falle die Freie Universität Berlin – ebenfalls zu Reformanstrengungen animieren. Wolfgang Frühwald, der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), sieht auch keinen Grund mehr, von einem Brain-Drain von Ost nach West zu reden.

Über die besonders attraktive Möglichkeit, Innovationskollegs als sogenannte centers of excellence an den ostdeutschen Universitäten zu bilden (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1993, Seite 114), wird im Juni endgültig entschieden. Das sind höchstqualifizierte Gruppen von Wissenschaftlern, von denen jede in den nächsten fünf Jahren 1,5 Millionen Mark vom Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) erhält. Sie können die Mittel flexibel verwenden. Die DFG ist für die Auswahl verantwortlich. Frühwald berichtete in Halle, von den 65 ernsthaften Interessenten seien 15 an zehn Hochschulen ermuntert worden, einen Antrag zu stellen; in diesem Jahr reichen die Mittel zunächst für sechs Kollegs aus. In den verbliebenen 50 Voranträgen sieht die DFG aber aussichtsreiche Themen für ihre normalen Förderverfahren.

In der Lehre scheint von den ostdeutschen Universitäten eine positive Entwicklung auszugehen. Sie nehmen diesen Teil ihrer Tätigkeit ernster als die westdeutschen Hochschulen. Berlins Wissenschaftssenator Manfred Erhardt beobachtete sogar, daß die nach Ostdeutschland gekommenen Westprofessoren sich mehr der Lehre annehmen. Die Universität Jena ist ein Beispiel dafür, wie versucht wird, die Studienzeiten kurz zu halten.


Rechtswege behindern Reformen

Doch diesen positiven Aspekten stehen aus dem Westen übernommene Regeln entgegen. Vor allem die Kapazitätsverordnung, nach der die Zahl der Studenten und eine eventuelle Zulassungsbeschränkung mit der Zahl der Hochschullehrer verbunden werden, bedroht ernsthaft die im Osten noch für die Lehre günstige Zahlenrelation zwischen Professoren und Studenten. Nicht weniger fatal sind die altbundesdeutschen baurechtlichen Bestimmungen. Sie räumen den Ministerialbeamten große Befugnisse ein; die in Ostdeutschland vordringlichen Aufgaben der Instandhaltung kommen auf dem Rechtswege zu kurz.

Wie sehr aufoktroyierte Maßgaben Ansätze zu von innen kommenden Reformen ostdeutscher Universitäten verhindern können, schilderte in Halle Gerhard Maeß, der Rektor der Universität Rostock: Die an seiner Hochschule eingeführte modifizierte Drittelparität in den Universitätsgremien muß nach dem Hochschulrechts-Rahmengesetz wieder geändert werden. Das Fernstudium in seiner bisherigen Form wird abgeschafft. Warum solche erzwungenen Anpassungen? fragte Maeß, dessen Elan zum Neubeginn schon seit Oktober 1989 strapaziert wird (Spektrum der Wissenschaft, November 1990, Seite 42).

Andere Beispiele: In Frankfurt an der Oder soll die neue Universität Viadrina international ausgerichtet werden; ein Drittel ausländische Studenten – das paßt aber nicht in die übliche Quotierung. In Halle wurde die Romanistik neu geordnet, wobei der bisherige, als modern angesehene gesellschaftliche Bezug dieses Studiums einer rein philologischen Orientierung weichen mußte.

Der Rektor der Universität Leipzig, Cornelius Weiß, hatte bereits Anfang Dezember 1993 bei der Eröffnung der dortigen neu geordneten Institute geklagt, "daß wir gehalten waren, klassische Strukturen im Sinne der... Anpassung bei uns einzuführen... Wir konnten nicht die Chance des Umbruchs nutzen, um andere nichtklassische, nichtorthodoxe Strukturen zu erproben". Die mehr denn je erforderliche interdisziplinäre Zusammenarbeit werde durch starre Fakultätsgrenzen erschwert. In Leipzig soll jetzt versucht werden, gleichwohl ein System von multidisziplinären Zentren und Seminaren sowie Gruppierungen von Wissenschaftlern und Studenten verschiedener Fakultäten aufzubauen.

Günstlinge und Verlierer der Geschichte

Die Berufung westdeutscher Wissenschaftler an ostdeutsche Universitäten und ihre Mitwirkung beim Aufbau werden zwiespältig beurteilt. Einerseits hob Neuweiler hervor, die aus den angestammten Bundesländern gekommenen Hochschullehrer seien durchaus nicht "zweite Wahl" gewesen; insbesondere viele junge Akademiker sähen sich in der Pflicht, die Chance des Neubeginns zu nutzen. Andererseits wurde behauptet, der Westen habe damit sein "C3-Problem" gelöst – viele Professoren der Besoldungsstufe C3 erhielten im Osten C4-Stellen, also Lehrstühle.

Den Preis im Personellen dafür, daß manche der abgewickelten Bereiche in Ostdeutschland heute besser dastehen als die entsprechenden Bereiche in Westdeutschland, charakterisiert der Vorsitzende der Hochschulstrukturkommission Sachsen-Anhalt, der Heidelberger Soziologe Wolfgang Schluchter, mit zwei Stichworten: "Verwestlichung" und "Vermännlichung". "Die Abwicklung erwies sich dort, wo wieder aufgewickelt wurde, als ein Konjunkturprogramm für den Westen, in diesem Falle vor allem für den westdeutschen wissenschaftlichen Nachwuchs. Denn die vom Wissenschaftsrat zu Recht geforderte Durchmischung des Lehrkörpers gelang allenfalls in Ansätzen", konstatierte er bei der Eröffnung der Leipziger Institute.

Auch in einem anderen zentralen Punkt sieht Schluchter die Absicht des Wissenschaftsrates verwässert. Einige Hochschulstrukturkommissionen seien zu dessen Gegenspielern geworden; die Länder hätten bei der Neuordnung die Führung übernommen, sagte er auf dem Hallenser Symposium. Dieser These stimmte auch Neuweiler zu: Der universitäre Erneuerungsprozeß sei weniger wissenschafts- als vielmehr regionalpolitisch gesteuert worden. Gegen die Absicht des Wissenschaftsrates fielen unter anderem folgende Entscheidungen: Mecklenburg-Vorpommern etabliert die Wirtschaftswissenschaften sowohl in Rostock als auch in Greifswald. Brandenburg hat drei neue Universitäten – Potsdam, Frankfurt an der Oder und Cottbus – gegründet. Die Technische Universität in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden wird auf Kosten der Universität Leipzig voll ausgebaut. Ähnliches geschieht in Sachsen-Anhalt mit der Technischen Universität Magdeburg auf Kosten von Halle. In Thüringen will die Landesregierung eine Universität in Erfurt durchsetzen, wodurch sich Jena benachteiligt fühlt.

Ein entscheidender Nachteil für die ostdeutschen Universitäten ist, daß in vielen Fällen der Personalabbau nach der Abwicklung aus finanziellen Gründen weitergeht (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1994, Seite 115). Besonders ist davon gerade der Mittelbau betroffen, der mit den Anstoß zur Reform gegeben hatte. Fachlich qualifizierte und nicht belastete Wissenschaftler, die aus politischen Gründen in der DDR nicht Professoren werden konnten, werden jetzt im Alter zwischen 45 und 55 Jahren mit einer Höchstrente von 2700 Mark in den Vorruhestand entlassen – sie wurden in Halle als "die Verlierer der Geschichte" bezeichnet.

Auf der Jahrestagung des Deutschen Hochschulverbandes in Rostock hat es dessen Präsident Hartmut Schiedermair am 25. März als "unerträglich und mit dem Geist der Wiedervereinigung unvereinbar" erklärt, "wenn hochreputierte und persönlich integre Wissenschaftler ebenso wie nachweislich massiv in ihrer Wissenschaft aus ideologischen Gründen behinderte Hochschullehrer weniger als ein Drittel einer Altersversorgung erhalten, die ihren Kollegen in den alten Bundesländern zusteht". Die DFG hat – immerhin ein Tropfen auf den heißen Stein – in einem bis Januar 1994 begrenzten Konsolidierungsprogramm für ältere Wissenschaftler, die wegen Stellenmangels entlassen worden sind, 215 Bewilligungen in Höhe von insgesamt mehr als 15 Millionen Mark im Rahmen von DFG-Projekten ausgesprochen.

Verblüffend ist, daß generell vorteilhafte Gelegenheiten ungenutzt bleiben. Zum Beispiel werden Habilitationsstipendien der DFG in Ostdeutschland nur zu 28 Prozent in Anspruch genommen; und der Förderpreis der Leopoldina für qualifizierte Wissenschaftler kommt vorerst schlecht an. Allgemein wurde in Halle über die große Immobilität ostdeutscher Wissenschaftler geklagt.

Zwar befürchten manche Beobachter, etliche der nichtuniversitären Einrichtungen würden hinter der Fassade schon wieder abgebaut; aber auf dem Symposium in Halle wurden auch Pluspunkte verzeichnet. Die Zusammenarbeit zwischen ihnen und den Universitäten, hieß es, sei besser als im Westen. Die Max-Planck-Gesellschaft trägt mit ihren 29 Arbeitsgruppen wesentlich zur Entwicklung der Universitäten bei; und die Institute der Blauen Liste sind wegen der Finanzierung durch Bund und Standort-Land in einer günstigen Position.

Große Sorgen bereitet freilich die vom Wissenschaftsrat gar nicht behandelte, im Osten völlig ausgefallene Industrieforschung, die als Partner der Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen etwa in Verbundprojekten gebraucht würde. Zwar hat, wie Staatssekretär Gebhard Ziller in Halle erläuterte, das BMFT für den Erhalt von industrieller Forschung und Entwicklung 800 Millionen Mark bereitgestellt, aber die Treuhand habe dieses Problem zu spät erkannt. Kein Trost ist, daß Industrieforschung auch im Westen abgebaut wird.

Für das Sorgenkind Geisteswissenschaften will, wie Neuweiler ankündigte, der Wissenschaftsrat noch dieses Jahr eine gesamtdeutsche Lösung präsentieren. Er findet dafür die Unterstützung gerade der ostdeutschen Universitäten, die diesen Teil ihrer Tätigkeit gänzlich neu bestimmen müssen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1994, Seite 123
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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