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Pflanzenfasern im Verbund - das Beispiel Chinaschilf


Vor mehr als hundert Jahren erfand der französische Gärtner Joseph Monier (1823 bis 1906) den Eisenbeton. Indem er Drahtnetze in die Zementwände von Blumenkübeln einbettete, verband er die Druckfestigkeit des mineralischen mit dem elastischen Verhalten des metallischen Werkstoffs. Dieses Prinzip liegt auch modernen Faserverbundwerkstoffen zugrunde, die mittlerweile viel verwendet werden, vor allem weil sie leicht und korrosionsbeständig sind; sie lassen sich aber schwer wiederaufbereiten.

In der Natur hat sich die Einbettung von Fasern in eine Matrix seit Jahrmillionen bewährt. Pflanzen gewinnen so bei geringstmöglicher Masse höchste Stabilität. An unserem Institut versuchen wir nun, durch einen Verbund derartig optimierter Naturprodukte mit herkömmlichen Materialien, aber auch allein auf der Grundlage speziell behandelter Naturfasern ökonomisch und ökologisch vorteilhafte Werkstoffe zu entwickeln.

Dabei konzentrieren wir uns auf das Chinaschilf (Miscanthus sinensis; Bild 1). Der Botaniker Aksel Olsen hatte das in China, Japan und Ostrußland beheimatete attraktive Süßgras 1935 mit nach Dänemark gebracht; seitdem ist es als Ziergras mehr und mehr in den Gärten Europas zu finden.

Als Rohstofflieferant eignet sich das im Wuchs dem Mais ähnliche Chinaschilf vor allem aufgrund seines raschen Wachstums: In der kurzen Zeit von Anfang Mai bis Ende September erreicht es eine Höhe von drei bis vier Metern; so ergibt sich ein Ertrag von 20 bis 25 Tonnen Pflanzenmasse je Hektar und Jahr.

Ursache dieser hohen Biomasse-Produktivität ist eine besonders effektive Photosynthese. Bei den meisten Pflanzenarten behindern nämlich hohe Temperaturen und – paradoxerweise – starker Lichteinfall den Aufbau von organischer Substanz aus Kohlendioxid und Wasser. Dabei werden bereits gebildete Kohlenhydrate wieder abgebaut, und Kohlendioxid geht über die Atmung verloren; man spricht daher von der Lichtatmung.

Ein anderer biochemischer Syntheseweg ermöglicht es den sogenannten C4-Pflanzen, Kohlendioxid an Säuren mit vier Kohlenstoffatomen zu binden und somit zu speichern – daher der Name. Auf diese Weise wird die Nettoassimilation, also die Differenz zwischen gebundenem und durch Photorespiration wieder freigesetztem Kohlendioxid, gegenüber den normalen Pflanzen teilweise verdoppelt. Flachs, Hanf, Jute, Sisal und Baumwolle, die ebenfalls Fasern für Verbundwerkstoffe liefern könnten, gehören zu den übrigen (C3-) Pflanzen, die Biomasse weniger rasch und effektiv bilden.


Aufbau des Stengels

Die Wirtschaftlichkeit von Chinaschilf ist also unter landwirtschaftlichen Aspekten unproblematisch, zumal es mehrjährig ist und auf stillgelegten Flächen angebaut werden kann. Für die Bewertung als Rohstoffquelle war zu klären, inwieweit das Fasermaterial ökonomisch zu gewinnen und als Werkstoff einzusetzen ist. Dazu wurde zunächst die Morphologie genauer untersucht.

In dem festen, teilweise stark verholzten Stengel, der durch Blattansatzknoten unterteilt ist, liegen faserhaltige Gefäßbündel über die ganze Querschnittsfläche verteilt (Bild 2). Dieser Befund ist typisch für einkeimblättrige Pflanzen; im Unterschied dazu sind die Gefäßbündel bei zweikeimblättrigen wie vielen Blumen, Sträuchern und Bäumen ringförmig angeordnet. Für die Fasergewinnung ist wichtig, daß die Dichte der Gefäßbündel beim Chinaschilf zum Rand hin zunimmt.

Ein solches Bündel besteht aus wasserleitenden Gefäßen (dem Xylem), die von der Wurzel zu den Blättern führen, Bahnen für den Transport von Photosyntheseprodukten in umgekehrter Richtung (dem Phloem) sowie Füllmaterialzellen (dem Parenchym). Das gesamte Gefäßbündel ist von einem Ring dickwandiger, schwach verholzter Fasern (dem Sklerenchym) umschlossen (Bild 3). Sie bestehen aus Cellulose und Hemicellulose (beide sind sehr elastische Zuckerketten), und Lignin als Klebematerial. Die Anzahl dieser Fasern – 50 bis 250 pro Bündel – und damit die Dicke des Sklerenchyms nimmt vom Stengelinneren nach außen hin zu. Ihr Anteil am gesamten Stengelvolumen liegt bei etwa 30 Prozent. Mit einer durchschnittlichen Länge von 1,4 Millimetern und einem Durchmesser von rund 15 Mikrometern sind die Fasern des Chinaschilfs mit denen von Laubholz vergleichbar, eignen sich also nicht für Garne oder Seile.

Die faserreichen Gefäßbündel liegen wiederum zwischen kleinen, dünnwandigen, langen Parenchymzellen eingebettet, die ihrerseits ziemlich stark verholzt sind und daher mechanischer Belastung widerstehen. Mit 62 Prozent stellt das Parenchymgewebe den größten Volumenanteil von Miscanthus. Die Parallele zum bewehrten Beton liegt nahe: den Gefäßbündeln kommt die Rolle der Moniereisen oder Stahleinlagen zu. Jedoch wird – wie bei allen Gräsern – ihre Verschiebung gegeneinander von den dünnwandigen Parenchymzellen nicht behindert, was ein hohes Biegevermögen ermöglicht.

Schließlich bildet eine Außenhaut (die Epidermis) den Abschluß gegenüber der Umwelt. Sie stützt den Stengel und verleiht ihm hohe Witterungsbeständigkeit. Ihre langgestreckten Zellen bilden ein dichtes Gefüge, in das rundliche, große Zellen (von 10 bis 15 Mikrometern Durchmesser) eingelagert sind. Eine Röntgenanalyse (energiedispersive Röntgenspektroskopie) dieser Zellen zeigte deutlich Silicium an. Die sehr starke Verkieselung des Stengels ist nach der Ver-aschung sogar sichtbar, da ein regelrechtes Skelett zurückbleibt. Für die mechanische Zerkleinerung im industriellen Maßstab sind darum entsprechende Vorkehrungen zu treffen, weil sonst die Werkzeuge rasch verschleißen.

Mineralische Substanzen machen insgesamt nur 2,3 Prozent der pflanzlichen Trockenmasse aus. Die chemische Analyse ergab als Hauptbestandteile Cellulose mit 40,4 und Hemicellulose mit 27,8 Prozent; der Anteil von Lignin, das die Verholzung bewirkt, ist mit 15 Prozent wie bei allen Gräsern gegenüber Holz relativ niedrig. Weil wasser-, ether- und ethanollösliche Stoffe nur 5,1 Prozent der Trockenmasse ausmachen, läßt sich Zellstoff aus Miscanthus gut gewinnen.


Mechanisch-physikalische Eigenschaften

Um die Fasern (Bild 4) in Werkstoffen einzusetzen, muß man das Verhalten unter den zu erwartenden Belastungen kennen. Darum haben wir Zug-, Biege- und Druckkennwerte aufgenommen. Dafür gibt es bislang keine verbindliche Regelung; aufgrund der starken Verholzung des Stengels war es aber naheliegend, dabei DIN-Vorschriften für die Prüfung von Holz anzuwenden. Zwar unterscheidet sich davon das Material von Miscanthus sinensis durch seinen inhomogenen Aufbau, weswegen die Druckfestigkeit quer zur Faser nur etwa 10, in Faserrichtung 18 bis 36 Newton pro Quadratmillimeter beträgt. Die Werte der für die Anwendung interessanteren Zug- und Biegefestigkeiten sind jedoch denen von Holz vergleichbar; so gerät ein Chinaschilf-Stengel erst ab einer Biegebelastung zwischen 60 und 96 Newton pro Quadratmillimeter aus seinem elastischen Bereich – für Nadelholz gelten vergleichbare Zahlen; Laubholz verkraftet die doppelte Belastung. Die Zugfestigkeit erreicht sogar doppelt so hohe Werte wie bei Nadelholz und vielen Laubhölzern.

Die für unsere weitere Untersuchung benötigten Gefäßbündel haben wir mit einer selbstentwickelten mechanischen Trenneinrichtung aus dem Stengel gewonnen. Da sie untereinander nicht verbunden sind, lassen sie sich aus der Struktur der umgebenden Zellen herauslösen. Das ist im Stengelinneren mühelos möglich, am Rand des Stengels sehr viel schwerer.

Die Kennwerte sind denen von Jute sehr ähnlich; die Gefäßbündel von Flachs, Sisal und Baumwolle vertragen höhere Zugbelastungen. In der Bruchdehnung – dem irreversiblen, plastischen Nachgeben vor dem Reißen – sind Flachs und Hanf unter-, Sisal und insbesondere Baumwolle überlegen. Faserarme Gefäßbündel aus dem Stengelinneren verhalten sich unter Zug ähnlich weich und nachgiebig wie Baumwolle; solche vom Stengelrand sind dagegen fast so hart wie Flachs oder Hanf.


Mögliche Werkstoffnutzung

Indem wir uns an den Ergebnissen der Strukturanalyse und den ermittelten Kennwerten orientierten, haben wir neue Werkstoffverbunde entwickelt, gefertigt und getestet. Durch Einbetten der Fasern in Epoxidharz und Gips entstanden Laminate (mehrschichtige Formstücke aus Trägermaterial, das mit Bindemitteln verklebt ist) mit beachtlichen Festigkeitswerten.

Dabei kommt es sehr auf den Faseranteil an: Mit 30 Prozent der Gesamtmasse an Gefäßbündeln gibt das Laminat unter Zug eher nach und verliert schneller seine Elastizität als bei einem Faseranteil von nur 13 Prozent. Umgekehrt verhält es sich unter Biegebelastung; in dieser Hinsicht ähnelt der Verbundwerkstoff dem Stengel der Pflanze selbst. Eine Optiminierung entsprechend den geforderten mechanischen Eigenschaften einerseits und den Kosten andererseits ist noch vonnöten, aber auch möglich. Damit zeichnen sich Verfahren ab, größere Formteile mit den Kennwerten des Ausgangsmaterials herzustellen.

In Gips als Matrix erhöhen die Fasern ebenfalls die Festigkeit, wenn auch nicht in dem Maße wie bei Epoxidharz. Immerhin ertrugen derart verstärkte Gipsplatten mehr als die dreifache Biegebelastung wie handelsüblicher Gipskarton, bevor sie brachen.

Die Gefäßbündel des Chinaschilfs eignen sich aber nicht nur im Verbund als wettbewerbsfähiger Werkstoff. Unter Wärme- und Druckbehandlung zerfasern sie und bilden ein Gewebe von watteartiger Konsistenz. Zu Versuchszwecken wurden Platten aus diesem Material gefertigt und ihre Wärmeleitfähigkeit mit der von konventionellen Dämmplatten verglichen. Sie zeigten eine ebenso gute Wärmedämmung und waren nur unwesentlich schwerer als solche aus Mineralwolle, allerdings etwa viermal so schwer wie die aus Styropor. Auch hier sind weitere Optimierungen möglich. Zu klären ist des weiteren, ob und in welcher Weise die Fasern vorbehandelt werden müssen, um bautechnischen Auflagen zu genügen. Zudem sind weitere Anwendungen als Vlies-, Filz- und Filtermaterial denkbar. Wegen der ökologischen Vorteile des Chinaschilfs gegenüber herkömmlichen Dämm-Materialien scheint es angeraten, die Grundlagenforschung weiter zu intensivieren und kostengünstige Aufschluß- und Verarbeitungsverfahren zu entwickeln, die eine wirtschaftliche Produktion ermöglichen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1994, Seite 102
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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